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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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und selbst ohne besondern Unterricht hat er religiöse Vorstel-
lungen. Er lernt ein Handwerk und wird ein nützliches Glied
der menschlichen Gesellschaft. Er erzählt, läßt sich erzählen,
ist der Unterhaltung fähig.

"Das ist der verstümmelte, unorganische Mensch! aber der
organische, der im Besitze aller menschlichen Kräfte ist! aber
wir!" -- Nun, auch wir denken oft genug ohne zu sprechen.
Wir träumen, und Träumen ist doch ein Denken. Es werde
zugestanden, daß geträumte Reden, wie unser leises Denken,
von schwachen Erregungen der Nerven der Sprachorgane be-
gleitet werden, und manchmal sind ja diese Nervenerregungen
stark genug, um die Muskeln der Sprachorgane in Bewegung
zu setzen und hörbares Schlafsprechen zu erzeugen. Die gan-
zen Traumbilder aber und Handlungen und Begebenheiten sind
doch sicherlich nicht ein bloßes leises Erzählen. Träumen ist
Phantasiren, also ein intellectuelles Handeln, aber ohne Worte.

"Das ist der träumende Mensch; aber der wachende!" --
Auch er denkt gelegentlich ohne Wort, und gerade da, wo er
am besten denkt: in der Logik und in den mathematischen Wis-
senschaften. Der Geometer zeichnet seine Figur, zieht seine
Hülfslinien und durchläuft in Gedanken eine lange Demonstra-
tion, ohne daß ihm dazu die Sprache unentbehrlich wäre. Der
Chemiker sieht MnO2 + SO3 = O + MnO,SO3 und erkennt hieraus
eine ganze Geschichte von Trennungen und Verbindungen. Der
mathematische Psycholog giebt durch [Formel 1] zu verstehen,
unter welchen Umständen zwei Vorstellungen eine dritte aus
dem Bewußtsein verdrängen. Der Logiker sieht
[Formel 2] und erfaßt den Inhalt dieser Formel mit einem Blicke, ohne
Wort. Alle solche Formeln werden nicht gelesen, nicht gespro-
chen; sie werden gesehen und gedacht. Sie lassen sich aller-
dings in die Sprache übersetzen und gewinnen dann wohl an
Faßlichkeit, aber sicherlich nicht an Klarheit, und verlieren
sogar an Schärfe und Bestimmtheit. Und die größere Faß-
lichkeit rührt nur von unserer Gewohnheit her, sprechend zu
denken. Das Denken wird uns leichter mit Hülfe des Wortes,
weil wir an diese Krücke gewöhnt sind. So gelangt man durch

und selbst ohne besondern Unterricht hat er religiöse Vorstel-
lungen. Er lernt ein Handwerk und wird ein nützliches Glied
der menschlichen Gesellschaft. Er erzählt, läßt sich erzählen,
ist der Unterhaltung fähig.

„Das ist der verstümmelte, unorganische Mensch! aber der
organische, der im Besitze aller menschlichen Kräfte ist! aber
wir!“ — Nun, auch wir denken oft genug ohne zu sprechen.
Wir träumen, und Träumen ist doch ein Denken. Es werde
zugestanden, daß geträumte Reden, wie unser leises Denken,
von schwachen Erregungen der Nerven der Sprachorgane be-
gleitet werden, und manchmal sind ja diese Nervenerregungen
stark genug, um die Muskeln der Sprachorgane in Bewegung
zu setzen und hörbares Schlafsprechen zu erzeugen. Die gan-
zen Traumbilder aber und Handlungen und Begebenheiten sind
doch sicherlich nicht ein bloßes leises Erzählen. Träumen ist
Phantasiren, also ein intellectuelles Handeln, aber ohne Worte.

„Das ist der träumende Mensch; aber der wachende!“ —
Auch er denkt gelegentlich ohne Wort, und gerade da, wo er
am besten denkt: in der Logik und in den mathematischen Wis-
senschaften. Der Geometer zeichnet seine Figur, zieht seine
Hülfslinien und durchläuft in Gedanken eine lange Demonstra-
tion, ohne daß ihm dazu die Sprache unentbehrlich wäre. Der
Chemiker sieht MnO2 + SO3 = O + MnO,SO3 und erkennt hieraus
eine ganze Geschichte von Trennungen und Verbindungen. Der
mathematische Psycholog giebt durch [Formel 1] zu verstehen,
unter welchen Umständen zwei Vorstellungen eine dritte aus
dem Bewußtsein verdrängen. Der Logiker sieht
[Formel 2] und erfaßt den Inhalt dieser Formel mit einem Blicke, ohne
Wort. Alle solche Formeln werden nicht gelesen, nicht gespro-
chen; sie werden gesehen und gedacht. Sie lassen sich aller-
dings in die Sprache übersetzen und gewinnen dann wohl an
Faßlichkeit, aber sicherlich nicht an Klarheit, und verlieren
sogar an Schärfe und Bestimmtheit. Und die größere Faß-
lichkeit rührt nur von unserer Gewohnheit her, sprechend zu
denken. Das Denken wird uns leichter mit Hülfe des Wortes,
weil wir an diese Krücke gewöhnt sind. So gelangt man durch

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[154/0192] und selbst ohne besondern Unterricht hat er religiöse Vorstel- lungen. Er lernt ein Handwerk und wird ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft. Er erzählt, läßt sich erzählen, ist der Unterhaltung fähig. „Das ist der verstümmelte, unorganische Mensch! aber der organische, der im Besitze aller menschlichen Kräfte ist! aber wir!“ — Nun, auch wir denken oft genug ohne zu sprechen. Wir träumen, und Träumen ist doch ein Denken. Es werde zugestanden, daß geträumte Reden, wie unser leises Denken, von schwachen Erregungen der Nerven der Sprachorgane be- gleitet werden, und manchmal sind ja diese Nervenerregungen stark genug, um die Muskeln der Sprachorgane in Bewegung zu setzen und hörbares Schlafsprechen zu erzeugen. Die gan- zen Traumbilder aber und Handlungen und Begebenheiten sind doch sicherlich nicht ein bloßes leises Erzählen. Träumen ist Phantasiren, also ein intellectuelles Handeln, aber ohne Worte. „Das ist der träumende Mensch; aber der wachende!“ — Auch er denkt gelegentlich ohne Wort, und gerade da, wo er am besten denkt: in der Logik und in den mathematischen Wis- senschaften. Der Geometer zeichnet seine Figur, zieht seine Hülfslinien und durchläuft in Gedanken eine lange Demonstra- tion, ohne daß ihm dazu die Sprache unentbehrlich wäre. Der Chemiker sieht MnO2 + SO3 = O + MnO,SO3 und erkennt hieraus eine ganze Geschichte von Trennungen und Verbindungen. Der mathematische Psycholog giebt durch [FORMEL] zu verstehen, unter welchen Umständen zwei Vorstellungen eine dritte aus dem Bewußtsein verdrängen. Der Logiker sieht [FORMEL] und erfaßt den Inhalt dieser Formel mit einem Blicke, ohne Wort. Alle solche Formeln werden nicht gelesen, nicht gespro- chen; sie werden gesehen und gedacht. Sie lassen sich aller- dings in die Sprache übersetzen und gewinnen dann wohl an Faßlichkeit, aber sicherlich nicht an Klarheit, und verlieren sogar an Schärfe und Bestimmtheit. Und die größere Faß- lichkeit rührt nur von unserer Gewohnheit her, sprechend zu denken. Das Denken wird uns leichter mit Hülfe des Wortes, weil wir an diese Krücke gewöhnt sind. So gelangt man durch

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/192>, abgerufen am 26.11.2024.