lenthätigkeit und folglich gehört die Sprachwissenschaft in den Kreis psychologischer Wissenschaften: gerade wie auch die Lehre vom Denken und Wollen, d. h. wie Gedanken und Willensregungen entstehen -- nicht wie sie sein sollen -- in die Psychologie ge- hört. Daß die Betrachtung der Sprache überhaupt und der Sprachfähigkeit durchaus und rein psychologisch ist, hat man immer anerkannt; auch hat man ihr einen Abschnitt in den Lehrbüchern der Psychologie gewidmet. Die Sprachwissenschaft ragt mit ihrem Haupte vollständig in die Psychologie hinein. Das Sprachmaterial aber, d. h. die einzelnen Sprachen sind be- sondere Erzeugnisse des menschlichen Geistes, die nicht mehr der Psychologie, sondern der Geschichte, d. h. der Sprachwissen- schaft, angehören*), eben so wie die einzelnen bestimmten Wil- lensregungen und Gedanken nicht mehr Gegenstand der Psycho- logie sind. Das Sprechen aber, d. h. wie wir oben definirten, die gegenwärtige oder als gegenwärtig gedachte Handlung der Sprache, kann sowohl Gegenstand der Sprachwissenschaft, als der eigentlichen Psychologie sein, natürlich nach verschiedenen Be- ziehungen. Insofern in jedem Sprechen Sprache überhaupt ge- geben und Sprachmaterial geschaffen oder angewandt ist, ist die- ses Sprechen Gegenstand der Sprachwissenschaft. Das Sprach- material aber besteht aus Vorstellungen, und selbst die bloßen Laute, die Articulationen, sind eine Reihe von Seelen-Erregun- gen: als solche können sie der rein psychologischen Betrachtung unterworfen werden, welche vom Inhalte der Seelen-Erzeugnisse absieht. So hat z. B. Herbart in einem Aufsatze "über Kate- gorien und Conjunctionen" (Sämmtliche Werke VII. S. 482 ff.) die Sprache zum Gegenstande psychologischer Untersuchungen gemacht, die nicht zur Sprachwissenschaft gehören, eben so wenig wie desselben Philosophen psychologische Betrachtung der Far- ben- und Tonvorstellungen für Farben- und Compositionslehre gelten könnte.
Alles Nähere über das eigenthümliche Wesen der Sprach- wissenschaft kann nur aus dem genauern Studium derselben her- vorgehen und ist bis heute noch in den wichtigsten Punkten sogar streitig. Denn der Charakter der Wissenschaft hängt, im tiefsten Grunde, von ihrer Erkenntniß ihres Gegenstandes ab. Je nach dem, was man in der Sprache sucht oder an ihr zu
*) Auf diesen Punkt werden wir am Schlusse des Buches zurückkommen.
lenthätigkeit und folglich gehört die Sprachwissenschaft in den Kreis psychologischer Wissenschaften: gerade wie auch die Lehre vom Denken und Wollen, d. h. wie Gedanken und Willensregungen entstehen — nicht wie sie sein sollen — in die Psychologie ge- hört. Daß die Betrachtung der Sprache überhaupt und der Sprachfähigkeit durchaus und rein psychologisch ist, hat man immer anerkannt; auch hat man ihr einen Abschnitt in den Lehrbüchern der Psychologie gewidmet. Die Sprachwissenschaft ragt mit ihrem Haupte vollständig in die Psychologie hinein. Das Sprachmaterial aber, d. h. die einzelnen Sprachen sind be- sondere Erzeugnisse des menschlichen Geistes, die nicht mehr der Psychologie, sondern der Geschichte, d. h. der Sprachwissen- schaft, angehören*), eben so wie die einzelnen bestimmten Wil- lensregungen und Gedanken nicht mehr Gegenstand der Psycho- logie sind. Das Sprechen aber, d. h. wie wir oben definirten, die gegenwärtige oder als gegenwärtig gedachte Handlung der Sprache, kann sowohl Gegenstand der Sprachwissenschaft, als der eigentlichen Psychologie sein, natürlich nach verschiedenen Be- ziehungen. Insofern in jedem Sprechen Sprache überhaupt ge- geben und Sprachmaterial geschaffen oder angewandt ist, ist die- ses Sprechen Gegenstand der Sprachwissenschaft. Das Sprach- material aber besteht aus Vorstellungen, und selbst die bloßen Laute, die Articulationen, sind eine Reihe von Seelen-Erregun- gen: als solche können sie der rein psychologischen Betrachtung unterworfen werden, welche vom Inhalte der Seelen-Erzeugnisse absieht. So hat z. B. Herbart in einem Aufsatze „über Kate- gorien und Conjunctionen“ (Sämmtliche Werke VII. S. 482 ff.) die Sprache zum Gegenstande psychologischer Untersuchungen gemacht, die nicht zur Sprachwissenschaft gehören, eben so wenig wie desselben Philosophen psychologische Betrachtung der Far- ben- und Tonvorstellungen für Farben- und Compositionslehre gelten könnte.
Alles Nähere über das eigenthümliche Wesen der Sprach- wissenschaft kann nur aus dem genauern Studium derselben her- vorgehen und ist bis heute noch in den wichtigsten Punkten sogar streitig. Denn der Charakter der Wissenschaft hängt, im tiefsten Grunde, von ihrer Erkenntniß ihres Gegenstandes ab. Je nach dem, was man in der Sprache sucht oder an ihr zu
*) Auf diesen Punkt werden wir am Schlusse des Buches zurückkommen.
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lenthätigkeit und folglich gehört die Sprachwissenschaft in den
Kreis psychologischer Wissenschaften: gerade wie auch die Lehre
vom Denken und Wollen, d. h. wie Gedanken und Willensregungen
entstehen — nicht wie sie sein sollen — in die Psychologie ge-
hört. Daß die Betrachtung der Sprache überhaupt und der
Sprachfähigkeit durchaus und rein psychologisch ist, hat man
immer anerkannt; auch hat man ihr einen Abschnitt in den
Lehrbüchern der Psychologie gewidmet. Die Sprachwissenschaft
ragt mit ihrem Haupte vollständig in die Psychologie hinein.
Das Sprachmaterial aber, d. h. die einzelnen Sprachen sind be-
sondere Erzeugnisse des menschlichen Geistes, die nicht mehr der
Psychologie, sondern der Geschichte, d. h. der Sprachwissen-
schaft, angehören *), eben so wie die einzelnen bestimmten Wil-
lensregungen und Gedanken nicht mehr Gegenstand der Psycho-
logie sind. Das Sprechen aber, d. h. wie wir oben definirten,
die gegenwärtige oder als gegenwärtig gedachte Handlung der
Sprache, kann sowohl Gegenstand der Sprachwissenschaft, als der
eigentlichen Psychologie sein, natürlich nach verschiedenen Be-
ziehungen. Insofern in jedem Sprechen Sprache überhaupt ge-
geben und Sprachmaterial geschaffen oder angewandt ist, ist die-
ses Sprechen Gegenstand der Sprachwissenschaft. Das Sprach-
material aber besteht aus Vorstellungen, und selbst die bloßen
Laute, die Articulationen, sind eine Reihe von Seelen-Erregun-
gen: als solche können sie der rein psychologischen Betrachtung
unterworfen werden, welche vom Inhalte der Seelen-Erzeugnisse
absieht. So hat z. B. Herbart in einem Aufsatze „über Kate-
gorien und Conjunctionen“ (Sämmtliche Werke VII. S. 482 ff.)
die Sprache zum Gegenstande psychologischer Untersuchungen
gemacht, die nicht zur Sprachwissenschaft gehören, eben so wenig
wie desselben Philosophen psychologische Betrachtung der Far-
ben- und Tonvorstellungen für Farben- und Compositionslehre
gelten könnte.
Alles Nähere über das eigenthümliche Wesen der Sprach-
wissenschaft kann nur aus dem genauern Studium derselben her-
vorgehen und ist bis heute noch in den wichtigsten Punkten
sogar streitig. Denn der Charakter der Wissenschaft hängt, im
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Je nach dem, was man in der Sprache sucht oder an ihr zu
*) Auf diesen Punkt werden wir am Schlusse des Buches zurückkommen.
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/180>, abgerufen am 25.11.2024.
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