Gesetze des Verfahrens, Richtungen und Bestrebungen dessel- ben": so wird mindestens der Verdacht rege, Becker sei wohl bei den Theilen stehen geblieben, die er allerdings durch sein organisches Differenzverhältniß in Beziehung zu einander bringt. Sollte aber wohl dieser organische Gegensatz, diese eine immer und ewig bei Becker wiederkehrende Form, das sein, was Hum- boldt Richtungen und Bestrebungen des Verfahrens nennt? Wo hat Becker in der Sprache "ein Verfahren" erkannt, in welchem sich verschiedene Richtungen und Bestrebungen geltend machen könnten? Wenn Humboldt nicht von den einzelnen Theilen der Sprache, von ihren Lauten, vom Nomen, Pronomen u. s. f. re- den will, sondern von Eigenthümlichkeiten, welche durch jene Theile, sie selbst bestimmend, hindurchgehen: wo ist bei Becker Raum, Gelegenheit für solche Eigenthümlichkeiten? Und wenn nun gerade diese die organische Natur der Sprache ausmachen, ihre Betrachtung die physiologische Betrachtung der Sprache genannt wird, wie kann wohl die Beckersche sich so nennen? und wie kann Becker unter Organismus der Sprache dasselbe ver- stehen wie Humboldt? Sehen wir aber, was das für Richtun- gen und Bestrebungen des Verfahrens sind.
Versetzen wir uns in den Zusammenhang. Humboldt be- spricht in den ersten sechs Paragraphen der Einleitung die wich- tigsten Punkte oder Momente in der Entwicklungsweise des Menschengeschlechts, die wichtigsten Triebfedern und Eigen- thümlichkeiten derselben, immer zugleich mit Rücksicht auf die Sprache, und will mit §. 7. die ausführlichere Darlegung dieses Zusammenhanges der Sprache mit der Geschichte beginnen. Er hält sich aber sogleich (§. 8. Anf.) die Schwierigkeit vor: "Die Sprache bietet uns eine Unendlichkeit von Einzelheiten dar, in Wörtern, Regeln, Analogien und Ausnahmen aller Art, und wir gerathen in nicht geringe Verlegenheit, wie wir diese Menge, die uns der schon in sie gebrachten Anordnung ungeachtet doch noch als verwirrendes Chaos erscheint, mit der Einheit des Bil- des der menschlichen Geisteskraft in beurtheilende Ver- gleichung bringen sollen." Diese Stelle stimmt auffallend über- ein mit dem Anfange des §. 13: "Wenn man das Wesen der Sprache in der Laut- und Ideenform und der richtigen und energischen Durchdringung beider sucht" -- diese drei Punkte waren jeder besonders in den §§. 10. 11. 12. besprochen --, "so bleibt dabei eine zahllose Menge die Anwendung verwirrender
9*
Gesetze des Verfahrens, Richtungen und Bestrebungen dessel- ben“: so wird mindestens der Verdacht rege, Becker sei wohl bei den Theilen stehen geblieben, die er allerdings durch sein organisches Differenzverhältniß in Beziehung zu einander bringt. Sollte aber wohl dieser organische Gegensatz, diese eine immer und ewig bei Becker wiederkehrende Form, das sein, was Hum- boldt Richtungen und Bestrebungen des Verfahrens nennt? Wo hat Becker in der Sprache „ein Verfahren“ erkannt, in welchem sich verschiedene Richtungen und Bestrebungen geltend machen könnten? Wenn Humboldt nicht von den einzelnen Theilen der Sprache, von ihren Lauten, vom Nomen, Pronomen u. s. f. re- den will, sondern von Eigenthümlichkeiten, welche durch jene Theile, sie selbst bestimmend, hindurchgehen: wo ist bei Becker Raum, Gelegenheit für solche Eigenthümlichkeiten? Und wenn nun gerade diese die organische Natur der Sprache ausmachen, ihre Betrachtung die physiologische Betrachtung der Sprache genannt wird, wie kann wohl die Beckersche sich so nennen? und wie kann Becker unter Organismus der Sprache dasselbe ver- stehen wie Humboldt? Sehen wir aber, was das für Richtun- gen und Bestrebungen des Verfahrens sind.
Versetzen wir uns in den Zusammenhang. Humboldt be- spricht in den ersten sechs Paragraphen der Einleitung die wich- tigsten Punkte oder Momente in der Entwicklungsweise des Menschengeschlechts, die wichtigsten Triebfedern und Eigen- thümlichkeiten derselben, immer zugleich mit Rücksicht auf die Sprache, und will mit §. 7. die ausführlichere Darlegung dieses Zusammenhanges der Sprache mit der Geschichte beginnen. Er hält sich aber sogleich (§. 8. Anf.) die Schwierigkeit vor: „Die Sprache bietet uns eine Unendlichkeit von Einzelheiten dar, in Wörtern, Regeln, Analogien und Ausnahmen aller Art, und wir gerathen in nicht geringe Verlegenheit, wie wir diese Menge, die uns der schon in sie gebrachten Anordnung ungeachtet doch noch als verwirrendes Chaos erscheint, mit der Einheit des Bil- des der menschlichen Geisteskraft in beurtheilende Ver- gleichung bringen sollen.“ Diese Stelle stimmt auffallend über- ein mit dem Anfange des §. 13: „Wenn man das Wesen der Sprache in der Laut- und Ideenform und der richtigen und energischen Durchdringung beider sucht“ — diese drei Punkte waren jeder besonders in den §§. 10. 11. 12. besprochen —, „so bleibt dabei eine zahllose Menge die Anwendung verwirrender
9*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0169"n="131"/><hirendition="#g">Gesetze</hi> des Verfahrens, Richtungen und Bestrebungen dessel-<lb/>
ben“: so wird mindestens der Verdacht rege, Becker sei wohl<lb/>
bei den <hirendition="#g">Theilen</hi> stehen geblieben, die er allerdings durch sein<lb/>
organisches Differenzverhältniß in Beziehung zu einander bringt.<lb/>
Sollte aber wohl dieser organische Gegensatz, diese eine immer<lb/>
und ewig bei Becker wiederkehrende Form, das sein, was Hum-<lb/>
boldt Richtungen und Bestrebungen des Verfahrens nennt? Wo<lb/>
hat Becker in der Sprache „ein Verfahren“ erkannt, in welchem<lb/>
sich verschiedene Richtungen und Bestrebungen geltend machen<lb/>
könnten? Wenn Humboldt nicht von den einzelnen Theilen der<lb/>
Sprache, von ihren Lauten, vom Nomen, Pronomen u. s. f. re-<lb/>
den will, sondern von Eigenthümlichkeiten, welche durch jene<lb/>
Theile, sie selbst bestimmend, hindurchgehen: wo ist bei Becker<lb/>
Raum, Gelegenheit für solche Eigenthümlichkeiten? Und wenn<lb/>
nun gerade diese die organische Natur der Sprache ausmachen,<lb/>
ihre Betrachtung die physiologische Betrachtung der Sprache<lb/>
genannt wird, wie kann wohl die Beckersche sich so nennen?<lb/>
und wie kann Becker unter Organismus der Sprache dasselbe ver-<lb/>
stehen wie Humboldt? Sehen wir aber, was das für Richtun-<lb/>
gen und Bestrebungen des Verfahrens sind.</p><lb/><p>Versetzen wir uns in den Zusammenhang. Humboldt be-<lb/>
spricht in den ersten sechs Paragraphen der Einleitung die wich-<lb/>
tigsten Punkte oder Momente in der Entwicklungsweise des<lb/>
Menschengeschlechts, die wichtigsten Triebfedern und Eigen-<lb/>
thümlichkeiten derselben, immer zugleich mit Rücksicht auf die<lb/>
Sprache, und will mit §. 7. die ausführlichere Darlegung dieses<lb/>
Zusammenhanges der Sprache mit der Geschichte beginnen. Er<lb/>
hält sich aber sogleich (§. 8. Anf.) die Schwierigkeit vor: „Die<lb/>
Sprache bietet uns eine Unendlichkeit von <hirendition="#g">Einzelheiten</hi> dar,<lb/>
in Wörtern, Regeln, Analogien und Ausnahmen aller Art, und<lb/>
wir gerathen in nicht geringe Verlegenheit, wie wir diese Menge,<lb/>
die uns der schon in sie gebrachten Anordnung ungeachtet doch<lb/>
noch als verwirrendes Chaos erscheint, mit der Einheit des Bil-<lb/>
des der <hirendition="#g">menschlichen Geisteskraft</hi> in beurtheilende Ver-<lb/>
gleichung bringen sollen.“ Diese Stelle stimmt auffallend über-<lb/>
ein mit dem Anfange des §. 13: „Wenn man das Wesen der<lb/>
Sprache in der <hirendition="#g">Laut</hi>- und <hirendition="#g">Ideenform</hi> und der richtigen und<lb/>
energischen Durchdringung beider sucht“— diese drei Punkte<lb/>
waren jeder besonders in den §§. 10. 11. 12. besprochen —, „so<lb/>
bleibt dabei eine zahllose Menge die Anwendung verwirrender<lb/><fwplace="bottom"type="sig">9*</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[131/0169]
Gesetze des Verfahrens, Richtungen und Bestrebungen dessel-
ben“: so wird mindestens der Verdacht rege, Becker sei wohl
bei den Theilen stehen geblieben, die er allerdings durch sein
organisches Differenzverhältniß in Beziehung zu einander bringt.
Sollte aber wohl dieser organische Gegensatz, diese eine immer
und ewig bei Becker wiederkehrende Form, das sein, was Hum-
boldt Richtungen und Bestrebungen des Verfahrens nennt? Wo
hat Becker in der Sprache „ein Verfahren“ erkannt, in welchem
sich verschiedene Richtungen und Bestrebungen geltend machen
könnten? Wenn Humboldt nicht von den einzelnen Theilen der
Sprache, von ihren Lauten, vom Nomen, Pronomen u. s. f. re-
den will, sondern von Eigenthümlichkeiten, welche durch jene
Theile, sie selbst bestimmend, hindurchgehen: wo ist bei Becker
Raum, Gelegenheit für solche Eigenthümlichkeiten? Und wenn
nun gerade diese die organische Natur der Sprache ausmachen,
ihre Betrachtung die physiologische Betrachtung der Sprache
genannt wird, wie kann wohl die Beckersche sich so nennen?
und wie kann Becker unter Organismus der Sprache dasselbe ver-
stehen wie Humboldt? Sehen wir aber, was das für Richtun-
gen und Bestrebungen des Verfahrens sind.
Versetzen wir uns in den Zusammenhang. Humboldt be-
spricht in den ersten sechs Paragraphen der Einleitung die wich-
tigsten Punkte oder Momente in der Entwicklungsweise des
Menschengeschlechts, die wichtigsten Triebfedern und Eigen-
thümlichkeiten derselben, immer zugleich mit Rücksicht auf die
Sprache, und will mit §. 7. die ausführlichere Darlegung dieses
Zusammenhanges der Sprache mit der Geschichte beginnen. Er
hält sich aber sogleich (§. 8. Anf.) die Schwierigkeit vor: „Die
Sprache bietet uns eine Unendlichkeit von Einzelheiten dar,
in Wörtern, Regeln, Analogien und Ausnahmen aller Art, und
wir gerathen in nicht geringe Verlegenheit, wie wir diese Menge,
die uns der schon in sie gebrachten Anordnung ungeachtet doch
noch als verwirrendes Chaos erscheint, mit der Einheit des Bil-
des der menschlichen Geisteskraft in beurtheilende Ver-
gleichung bringen sollen.“ Diese Stelle stimmt auffallend über-
ein mit dem Anfange des §. 13: „Wenn man das Wesen der
Sprache in der Laut- und Ideenform und der richtigen und
energischen Durchdringung beider sucht“ — diese drei Punkte
waren jeder besonders in den §§. 10. 11. 12. besprochen —, „so
bleibt dabei eine zahllose Menge die Anwendung verwirrender
9*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/169>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.