die Nothwendigkeit der Physiologie von der Krankheit ableitet, und wie Alles mit Bedürfnissen zusammenhängt, welche die Mut- ter aller Erfindungen, Einrichtungen und Wissenschaften genannt werden mögen. Woher erhält aber die streng theoretische Sprach- wissenschaft ihre erste Anregung? welches Problem, welcher Wi- derspruch, welches Räthsel reizt zuerst? Becker kennt ja gar keine Schwierigkeit.
Indessen ist klar, dieser Ausgangspunkt der Sprachwissen- schaft läßt sich in ganz ähnlicher Weise aussprechen, wie Tren- delenburg den der Logik gefaßt hat. Wie die Erkenntniß auf dem aufgehobenen und doch immer bleibenden Gegensatze von Denken und Sein beruht, so die Sprache auf dem von Laut und Bedeutung; wie also gefragt wird: wie durchdringt das Denken das Sein, wie kommt das Sein in das Denken? so hier: wie durchdringt der Gedanke den Laut; wie wird der Laut bedeut- sam? -- Wir meinen nicht, daß Becker diese Frage übersehen habe; er hat sie beantwortet -- aber wie? Statt die darin lie- genden Gegensätze durch sorgfältige Untersuchung zu vermit- teln, spricht er ihre Einheit ganz unmittelbar aus und er- greift das Ziel im ersten Satze mit dem Worte: Organis- mus. Man fragt: wie ist ein solcher Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen möglich? und Becker antwortet: Sprechen ist mit dem Denken gegeben. Das heißt aber bloß die Frage zurückgeben. Die Sprache ist das Organ für das Denken, wie das Auge für das Sehen; der Mensch spricht, weil er denkt: damit, meint Becker, sei jene Frage beantwortet. Ist das aber wohl etwas anderes, als wenn der Physiolog auf die ihm vorge- haltene Schwierigkeit des Sehens antwortete: das Sehen ist eine organische Verrichtung, die sich im Auge verleiblicht; der Mensch hat Augen, weil er sieht, und das Auge ist gar nichts anderes als das leiblich gewordene Sehen?
Die oben schon vielfach gerügte Tautologie erkennen wir hier in Beckers Princip, Organismus, wieder. Das im Anfang vorausgegriffene Ziel kann nur durchaus leer sein; es kann nichts anderes sein als die Wiederholung der anfänglichen Frage in Form einer Antwort; und als Princip ist es nur die Form, be- zeichnet es nur die leer gelassene Stelle desselben, erfüllt aber, inhaltslos wie es ist, durchaus nichts. Wenn wir fragen: wie ist der Vorgang des Sprechens möglich? wie kommt er zu Stande? und Becker darauf antwortet: die Sprache ist ein organischer
die Nothwendigkeit der Physiologie von der Krankheit ableitet, und wie Alles mit Bedürfnissen zusammenhängt, welche die Mut- ter aller Erfindungen, Einrichtungen und Wissenschaften genannt werden mögen. Woher erhält aber die streng theoretische Sprach- wissenschaft ihre erste Anregung? welches Problem, welcher Wi- derspruch, welches Räthsel reizt zuerst? Becker kennt ja gar keine Schwierigkeit.
Indessen ist klar, dieser Ausgangspunkt der Sprachwissen- schaft läßt sich in ganz ähnlicher Weise aussprechen, wie Tren- delenburg den der Logik gefaßt hat. Wie die Erkenntniß auf dem aufgehobenen und doch immer bleibenden Gegensatze von Denken und Sein beruht, so die Sprache auf dem von Laut und Bedeutung; wie also gefragt wird: wie durchdringt das Denken das Sein, wie kommt das Sein in das Denken? so hier: wie durchdringt der Gedanke den Laut; wie wird der Laut bedeut- sam? — Wir meinen nicht, daß Becker diese Frage übersehen habe; er hat sie beantwortet — aber wie? Statt die darin lie- genden Gegensätze durch sorgfältige Untersuchung zu vermit- teln, spricht er ihre Einheit ganz unmittelbar aus und er- greift das Ziel im ersten Satze mit dem Worte: Organis- mus. Man fragt: wie ist ein solcher Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen möglich? und Becker antwortet: Sprechen ist mit dem Denken gegeben. Das heißt aber bloß die Frage zurückgeben. Die Sprache ist das Organ für das Denken, wie das Auge für das Sehen; der Mensch spricht, weil er denkt: damit, meint Becker, sei jene Frage beantwortet. Ist das aber wohl etwas anderes, als wenn der Physiolog auf die ihm vorge- haltene Schwierigkeit des Sehens antwortete: das Sehen ist eine organische Verrichtung, die sich im Auge verleiblicht; der Mensch hat Augen, weil er sieht, und das Auge ist gar nichts anderes als das leiblich gewordene Sehen?
Die oben schon vielfach gerügte Tautologie erkennen wir hier in Beckers Princip, Organismus, wieder. Das im Anfang vorausgegriffene Ziel kann nur durchaus leer sein; es kann nichts anderes sein als die Wiederholung der anfänglichen Frage in Form einer Antwort; und als Princip ist es nur die Form, be- zeichnet es nur die leer gelassene Stelle desselben, erfüllt aber, inhaltslos wie es ist, durchaus nichts. Wenn wir fragen: wie ist der Vorgang des Sprechens möglich? wie kommt er zu Stande? und Becker darauf antwortet: die Sprache ist ein organischer
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die Nothwendigkeit der Physiologie von der Krankheit ableitet,
und wie Alles mit Bedürfnissen zusammenhängt, welche die Mut-
ter aller Erfindungen, Einrichtungen und Wissenschaften genannt
werden mögen. Woher erhält aber die streng theoretische Sprach-
wissenschaft ihre erste Anregung? welches Problem, welcher Wi-
derspruch, welches Räthsel reizt zuerst? Becker kennt ja gar
keine Schwierigkeit.
Indessen ist klar, dieser Ausgangspunkt der Sprachwissen-
schaft läßt sich in ganz ähnlicher Weise aussprechen, wie Tren-
delenburg den der Logik gefaßt hat. Wie die Erkenntniß auf
dem aufgehobenen und doch immer bleibenden Gegensatze von
Denken und Sein beruht, so die Sprache auf dem von Laut und
Bedeutung; wie also gefragt wird: wie durchdringt das Denken
das Sein, wie kommt das Sein in das Denken? so hier: wie
durchdringt der Gedanke den Laut; wie wird der Laut bedeut-
sam? — Wir meinen nicht, daß Becker diese Frage übersehen
habe; er hat sie beantwortet — aber wie? Statt die darin lie-
genden Gegensätze durch sorgfältige Untersuchung zu vermit-
teln, spricht er ihre Einheit ganz unmittelbar aus und er-
greift das Ziel im ersten Satze mit dem Worte: Organis-
mus. Man fragt: wie ist ein solcher Zusammenhang zwischen
Denken und Sprechen möglich? und Becker antwortet: Sprechen
ist mit dem Denken gegeben. Das heißt aber bloß die Frage
zurückgeben. Die Sprache ist das Organ für das Denken, wie
das Auge für das Sehen; der Mensch spricht, weil er denkt:
damit, meint Becker, sei jene Frage beantwortet. Ist das aber
wohl etwas anderes, als wenn der Physiolog auf die ihm vorge-
haltene Schwierigkeit des Sehens antwortete: das Sehen ist eine
organische Verrichtung, die sich im Auge verleiblicht; der Mensch
hat Augen, weil er sieht, und das Auge ist gar nichts anderes
als das leiblich gewordene Sehen?
Die oben schon vielfach gerügte Tautologie erkennen wir
hier in Beckers Princip, Organismus, wieder. Das im Anfang
vorausgegriffene Ziel kann nur durchaus leer sein; es kann nichts
anderes sein als die Wiederholung der anfänglichen Frage in
Form einer Antwort; und als Princip ist es nur die Form, be-
zeichnet es nur die leer gelassene Stelle desselben, erfüllt aber,
inhaltslos wie es ist, durchaus nichts. Wenn wir fragen: wie
ist der Vorgang des Sprechens möglich? wie kommt er zu Stande?
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/108>, abgerufen am 30.01.2025.
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