schwächer oder man hört es nicht mehr, man stiert in die sonnendurchglühte Landschaft und sieht sie nicht mehr. Man spricht leise vor sich hin und rafft sich vielleicht noch einmal auf, den trockenen Mund weiter zu öffnen und dem Nächsten wehmütig zuzurufen: "wenn Sie jetzt in Berlin wären, etc.?" und lächelt schmerzlich über die matte Antwort, aus der etwas wie "Spatenbräu" oder "eine Weisse" hervorklingt. Doch an solchem Traumbild trinkt und schluckt man und an dem Staubteig kaut man und verdrossen stapft man weiter, tief- innerlich, aber ohne sich zur Abwehr aufzuschwingen, einen der Hunde ver- wünschend, der ebenso verdrossen hinterher wandert und uns bei jedem zweiten Schritt auf die Fersen tritt; man torkelt über den Weg oder die Graskuppen, die Koordinationsstörungen nehmen im Gehen oder Denken mehr und mehr zu, schliesslich schläft man, die Andern schlafen, die Tiere schlafen wie die Natur ringsum schläft, nur dass sie unbeweglich daliegt und wir mechanisch weiter rücken.
Gäbe es noch etwas Lebendiges! Doch man wundert sich schon über einen einsamen Schmetterling. Das Tierleben beschränkte sich auf die Cabeceiras und die kleinen Capao-Wäldchen; dort erhob sich stets wütendes Gebell, wenn die Hunde eindrangen und diesen oder jenen die heisse Tageszeit verschlafenden Vierfüssler aufstörten. Aber die Hochebene war tot. Selbst nach Sonnenauf- gang nichts von Vogelgezwitscher, sondern die Ruhe eines Kirchhofes oder so etwas wie eine Landschaft auf dem Monde. Gegen Mittag erbarmungslose Glut- und Bruthitze, die grauschwarzen Bäumchen im Campo cerrado, reine Gerippe, warfen nur dünne Schattenmaschen: zeigte sich in der Ferne einmal ein wirk- licher Baum, so liefen die Hunde, was ein merkwürdiges Zeugnis für ihr Schluss- vermögen abgiebt, ob er nun am Wege oder seitab stand, gerade auf ihn zu und pflanzten sich in seinem Schatten, die Zunge heraushängend und keuchend, auf, bis der Zug vorbeikam. Auf dem hohen Chapadao hörte zeitweilig aller Baumwuchs auf, den Boden deckten scharfes Massega-Gras oder die schauder- haften Pinselquasten des Bocksbarts, barba de bode, von denen der Fuss immer abgleitet, oder Cangaschlacken, die ihn immer hemmen. Dankbar begrüsste man es wie eine Erlösung, wenn wenigstens einmal ein flüchtiger Wolkenschatten ge- spendet wurde.
Das Tagesgestirn gewöhnten wir uns bald wie die brasilischen Waldläufer nicht nur als Kompass, sondern auch als Zeitmesser zu verwerten. Ich brachte es dahin, die Zeit nach dem Sonnenstand bis auf eine Viertelstunde richtig zu schätzen. Perrot behauptete, dass die Leute den Stand der Sonne oder eines Sternes, z. B. der Venus nach Bracas (a 2,2 m) bestimmten, etwa: "Die Venus geht morgen um 4 Uhr auf, treffen wir uns bei 3 Bracas". Dem aufgehenden Mond wurde ein Durchmesser von ungefähr I m, dem Mond im Zenith von 1/2 m zugeschrieben. Ich lernte auch bald, wenn ich nur wusste, wieviel Uhr es ungefähr war, über die Himmelsrichtung unseres Weges im Klaren zu bleiben, ohne besonders zur Sonne aufzuschauen: der Schatten des Vordermannes, der eines Grashalms oder
schwächer oder man hört es nicht mehr, man stiert in die sonnendurchglühte Landschaft und sieht sie nicht mehr. Man spricht leise vor sich hin und rafft sich vielleicht noch einmal auf, den trockenen Mund weiter zu öffnen und dem Nächsten wehmütig zuzurufen: »wenn Sie jetzt in Berlin wären, etc.?« und lächelt schmerzlich über die matte Antwort, aus der etwas wie »Spatenbräu« oder »eine Weisse« hervorklingt. Doch an solchem Traumbild trinkt und schluckt man und an dem Staubteig kaut man und verdrossen stapft man weiter, tief- innerlich, aber ohne sich zur Abwehr aufzuschwingen, einen der Hunde ver- wünschend, der ebenso verdrossen hinterher wandert und uns bei jedem zweiten Schritt auf die Fersen tritt; man torkelt über den Weg oder die Graskuppen, die Koordinationsstörungen nehmen im Gehen oder Denken mehr und mehr zu, schliesslich schläft man, die Andern schlafen, die Tiere schlafen wie die Natur ringsum schläft, nur dass sie unbeweglich daliegt und wir mechanisch weiter rücken.
Gäbe es noch etwas Lebendiges! Doch man wundert sich schon über einen einsamen Schmetterling. Das Tierleben beschränkte sich auf die Cabeceiras und die kleinen Capão-Wäldchen; dort erhob sich stets wütendes Gebell, wenn die Hunde eindrangen und diesen oder jenen die heisse Tageszeit verschlafenden Vierfüssler aufstörten. Aber die Hochebene war tot. Selbst nach Sonnenauf- gang nichts von Vogelgezwitscher, sondern die Ruhe eines Kirchhofes oder so etwas wie eine Landschaft auf dem Monde. Gegen Mittag erbarmungslose Glut- und Bruthitze, die grauschwarzen Bäumchen im Campo cerrado, reine Gerippe, warfen nur dünne Schattenmaschen: zeigte sich in der Ferne einmal ein wirk- licher Baum, so liefen die Hunde, was ein merkwürdiges Zeugnis für ihr Schluss- vermögen abgiebt, ob er nun am Wege oder seitab stand, gerade auf ihn zu und pflanzten sich in seinem Schatten, die Zunge heraushängend und keuchend, auf, bis der Zug vorbeikam. Auf dem hohen Chapadão hörte zeitweilig aller Baumwuchs auf, den Boden deckten scharfes Massega-Gras oder die schauder- haften Pinselquasten des Bocksbarts, barba de bode, von denen der Fuss immer abgleitet, oder Cangaschlacken, die ihn immer hemmen. Dankbar begrüsste man es wie eine Erlösung, wenn wenigstens einmal ein flüchtiger Wolkenschatten ge- spendet wurde.
Das Tagesgestirn gewöhnten wir uns bald wie die brasilischen Waldläufer nicht nur als Kompass, sondern auch als Zeitmesser zu verwerten. Ich brachte es dahin, die Zeit nach dem Sonnenstand bis auf eine Viertelstunde richtig zu schätzen. Perrot behauptete, dass die Leute den Stand der Sonne oder eines Sternes, z. B. der Venus nach Braças (à 2,2 m) bestimmten, etwa: »Die Venus geht morgen um 4 Uhr auf, treffen wir uns bei 3 Braças«. Dem aufgehenden Mond wurde ein Durchmesser von ungefähr I m, dem Mond im Zenith von ½ m zugeschrieben. Ich lernte auch bald, wenn ich nur wusste, wieviel Uhr es ungefähr war, über die Himmelsrichtung unseres Weges im Klaren zu bleiben, ohne besonders zur Sonne aufzuschauen: der Schatten des Vordermannes, der eines Grashalms oder
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[30/0054]
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Landschaft und sieht sie nicht mehr. Man spricht leise vor sich hin und rafft
sich vielleicht noch einmal auf, den trockenen Mund weiter zu öffnen und dem
Nächsten wehmütig zuzurufen: »wenn Sie jetzt in Berlin wären, etc.?« und
lächelt schmerzlich über die matte Antwort, aus der etwas wie »Spatenbräu«
oder »eine Weisse« hervorklingt. Doch an solchem Traumbild trinkt und schluckt
man und an dem Staubteig kaut man und verdrossen stapft man weiter, tief-
innerlich, aber ohne sich zur Abwehr aufzuschwingen, einen der Hunde ver-
wünschend, der ebenso verdrossen hinterher wandert und uns bei jedem zweiten
Schritt auf die Fersen tritt; man torkelt über den Weg oder die Graskuppen,
die Koordinationsstörungen nehmen im Gehen oder Denken mehr und mehr zu,
schliesslich schläft man, die Andern schlafen, die Tiere schlafen wie die Natur
ringsum schläft, nur dass sie unbeweglich daliegt und wir mechanisch weiter
rücken.
Gäbe es noch etwas Lebendiges! Doch man wundert sich schon über
einen einsamen Schmetterling. Das Tierleben beschränkte sich auf die Cabeceiras
und die kleinen Capão-Wäldchen; dort erhob sich stets wütendes Gebell, wenn
die Hunde eindrangen und diesen oder jenen die heisse Tageszeit verschlafenden
Vierfüssler aufstörten. Aber die Hochebene war tot. Selbst nach Sonnenauf-
gang nichts von Vogelgezwitscher, sondern die Ruhe eines Kirchhofes oder so
etwas wie eine Landschaft auf dem Monde. Gegen Mittag erbarmungslose Glut-
und Bruthitze, die grauschwarzen Bäumchen im Campo cerrado, reine Gerippe,
warfen nur dünne Schattenmaschen: zeigte sich in der Ferne einmal ein wirk-
licher Baum, so liefen die Hunde, was ein merkwürdiges Zeugnis für ihr Schluss-
vermögen abgiebt, ob er nun am Wege oder seitab stand, gerade auf ihn zu
und pflanzten sich in seinem Schatten, die Zunge heraushängend und keuchend,
auf, bis der Zug vorbeikam. Auf dem hohen Chapadão hörte zeitweilig aller
Baumwuchs auf, den Boden deckten scharfes Massega-Gras oder die schauder-
haften Pinselquasten des Bocksbarts, barba de bode, von denen der Fuss immer
abgleitet, oder Cangaschlacken, die ihn immer hemmen. Dankbar begrüsste man
es wie eine Erlösung, wenn wenigstens einmal ein flüchtiger Wolkenschatten ge-
spendet wurde.
Das Tagesgestirn gewöhnten wir uns bald wie die brasilischen Waldläufer
nicht nur als Kompass, sondern auch als Zeitmesser zu verwerten. Ich brachte
es dahin, die Zeit nach dem Sonnenstand bis auf eine Viertelstunde richtig zu
schätzen. Perrot behauptete, dass die Leute den Stand der Sonne oder eines
Sternes, z. B. der Venus nach Braças (à 2,2 m) bestimmten, etwa: »Die Venus
geht morgen um 4 Uhr auf, treffen wir uns bei 3 Braças«. Dem aufgehenden
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zugeschrieben. Ich lernte auch bald, wenn ich nur wusste, wieviel Uhr es ungefähr
war, über die Himmelsrichtung unseres Weges im Klaren zu bleiben, ohne besonders
zur Sonne aufzuschauen: der Schatten des Vordermannes, der eines Grashalms oder
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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/54>, abgerufen am 27.11.2024.
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