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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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und schleudert sie dem armen Eliseo vor die Füsse; er wendet sich an die
Soldaten, die müssig umherstehen, und schüttet Alles, was er von Injurien kennt,
über die Vorgesetzten aus, die ebenfalls müssig umherstehen. Es will fort und
mit uns gehen, da man ihm hier den Branntwein vorenthalte. Endlich trollt
er heim.

Am 30. März, Charfreitag. Der Wachtposten hält sein Gewehr abwärts
gerichtet. Die Gewehre der übrigen Soldaten bleiben auf dem Boden liegen.
Die Soldatenfrauen wandern in frisch geplätteten Sonntagskleidern mit Kreuzen
und Kerzen zum Kirchhof. Das Gefängnis öffnet sich; zwei Arrestanten kommen
heraus, der eine ein langer Neger, den Surrao -- den Ledersack, der die Stelle
des Tornisters vertritt -- auf dem Rücken und in der Hand den Coxo, die Geige
des Sertanejo, auf dem er fröhlich klimpert.

Schwer bepackt sind die Jäger zurückgekehrt und haben in ihren Trag-
körben eine Menge Wildpret mitgebracht; Coqueiro, der neue Wittwer, weilt noch
auf der Militärkolonie. Die Leiche seiner Frau ist ausgegraben. Die Knochen
sind gereinigt und in einem Korb am Abend zum Männerhaus gebracht worden;
daneben liegt eine neue Korbtasche, in die sie bei der eigentlichen Leichenfeier
umgepackt werden sollen, und steht ein Topf mit Wasser. Der Raum ist dunkel,
nur einige Feuerkohlen leuchten beiseit, an dem, wer raucht, die Zigarre anzündet.
Viele Männer, Frauen, Kinder liegen bequem ausgestreckt auf dem Boden. Die
Körbe aber und den Topf umgiebt ein dichter Halbkreis hockender Gestalten den
Bari in der Mitte, sie singen einen einförmigen, doch laut hallenden Klagegesang.
Der Bari schwingt unablässig die mit klirrenden Muschelscherben gefüllte Kürbis-
rassel, seine tiefe, bebende Stimme übertönt alle andern mit kräftigem Pathos, er
lässt nicht nach mit Singen und Schwingen, bis ihm die Stimme und die Hand
versagt; dann verstummt er und lässt die Rassel zitternd ausklappern, eine kleine
Pause entsteht, während deren er in seiner Verzückung hastig eine Zigarre zum
Munde führt und heftig einziehend den Rauch verschluckt. Wieder singt er und
klappert er und raucht zwischendurch; bis nach einer kleinen Stunde die Pflicht
erfüllt ist, Alles den Ranchao verlässt und sich draussen umhertreibt, schwatzend,
lachend, wie fast alle Abende. In den Hütten hört man noch Mais stampfen,
hier und dort flackert ein Feuerchen, eine malerische Gruppe beleuchtend, es
wird gesungen, gelärmt, die Jungen balgen sich, Pärchen tauchen auf und ver-
schwinden -- kurz, Jahrmarkt vor dem Dorf, nur mit aussergewöhnlich vielen
Buden, in denen Wilde Kaninchen fressen und Sterne anbeten.

Am Tag nach Charfreitag ist in Brasilien der sogenannte Halleluja-Sonn-
abend
. Um zwölf Uhr Mittags hört die allgemeine Trauer auf, sie schlägt in
helle Ausgelassenheit um, es wird überall geschossen und geknallt, der Verräter
Judas, der an einem Baum hängt, wird gemisshandelt und vernichtet.

Auf der Kolonie erklärt man den Beginn des Halleluja um 8 Uhr Morgens,
weil eine Kuh und ein Schwein geschlachtet werden muss. Der Fluss ist gestiegen,
Fische waren bei dem vollen Strom für den Charfreitag nicht gefangen worden

und schleudert sie dem armen Eliseo vor die Füsse; er wendet sich an die
Soldaten, die müssig umherstehen, und schüttet Alles, was er von Injurien kennt,
über die Vorgesetzten aus, die ebenfalls müssig umherstehen. Es will fort und
mit uns gehen, da man ihm hier den Branntwein vorenthalte. Endlich trollt
er heim.

Am 30. März, Charfreitag. Der Wachtposten hält sein Gewehr abwärts
gerichtet. Die Gewehre der übrigen Soldaten bleiben auf dem Boden liegen.
Die Soldatenfrauen wandern in frisch geplätteten Sonntagskleidern mit Kreuzen
und Kerzen zum Kirchhof. Das Gefängnis öffnet sich; zwei Arrestanten kommen
heraus, der eine ein langer Neger, den Surrão — den Ledersack, der die Stelle
des Tornisters vertritt — auf dem Rücken und in der Hand den Coxó, die Geige
des Sertanejo, auf dem er fröhlich klimpert.

Schwer bepackt sind die Jäger zurückgekehrt und haben in ihren Trag-
körben eine Menge Wildpret mitgebracht; Coqueiro, der neue Wittwer, weilt noch
auf der Militärkolonie. Die Leiche seiner Frau ist ausgegraben. Die Knochen
sind gereinigt und in einem Korb am Abend zum Männerhaus gebracht worden;
daneben liegt eine neue Korbtasche, in die sie bei der eigentlichen Leichenfeier
umgepackt werden sollen, und steht ein Topf mit Wasser. Der Raum ist dunkel,
nur einige Feuerkohlen leuchten beiseit, an dem, wer raucht, die Zigarre anzündet.
Viele Männer, Frauen, Kinder liegen bequem ausgestreckt auf dem Boden. Die
Körbe aber und den Topf umgiebt ein dichter Halbkreis hockender Gestalten den
Bari in der Mitte, sie singen einen einförmigen, doch laut hallenden Klagegesang.
Der Bari schwingt unablässig die mit klirrenden Muschelscherben gefüllte Kürbis-
rassel, seine tiefe, bebende Stimme übertönt alle andern mit kräftigem Pathos, er
lässt nicht nach mit Singen und Schwingen, bis ihm die Stimme und die Hand
versagt; dann verstummt er und lässt die Rassel zitternd ausklappern, eine kleine
Pause entsteht, während deren er in seiner Verzückung hastig eine Zigarre zum
Munde führt und heftig einziehend den Rauch verschluckt. Wieder singt er und
klappert er und raucht zwischendurch; bis nach einer kleinen Stunde die Pflicht
erfüllt ist, Alles den Ranchão verlässt und sich draussen umhertreibt, schwatzend,
lachend, wie fast alle Abende. In den Hütten hört man noch Mais stampfen,
hier und dort flackert ein Feuerchen, eine malerische Gruppe beleuchtend, es
wird gesungen, gelärmt, die Jungen balgen sich, Pärchen tauchen auf und ver-
schwinden — kurz, Jahrmarkt vor dem Dorf, nur mit aussergewöhnlich vielen
Buden, in denen Wilde Kaninchen fressen und Sterne anbeten.

Am Tag nach Charfreitag ist in Brasilien der sogenannte Halleluja-Sonn-
abend
. Um zwölf Uhr Mittags hört die allgemeine Trauer auf, sie schlägt in
helle Ausgelassenheit um, es wird überall geschossen und geknallt, der Verräter
Judas, der an einem Baum hängt, wird gemisshandelt und vernichtet.

Auf der Kolonie erklärt man den Beginn des Halleluja um 8 Uhr Morgens,
weil eine Kuh und ein Schwein geschlachtet werden muss. Der Fluss ist gestiegen,
Fische waren bei dem vollen Strom für den Charfreitag nicht gefangen worden

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[458/0524] und schleudert sie dem armen Eliseo vor die Füsse; er wendet sich an die Soldaten, die müssig umherstehen, und schüttet Alles, was er von Injurien kennt, über die Vorgesetzten aus, die ebenfalls müssig umherstehen. Es will fort und mit uns gehen, da man ihm hier den Branntwein vorenthalte. Endlich trollt er heim. Am 30. März, Charfreitag. Der Wachtposten hält sein Gewehr abwärts gerichtet. Die Gewehre der übrigen Soldaten bleiben auf dem Boden liegen. Die Soldatenfrauen wandern in frisch geplätteten Sonntagskleidern mit Kreuzen und Kerzen zum Kirchhof. Das Gefängnis öffnet sich; zwei Arrestanten kommen heraus, der eine ein langer Neger, den Surrão — den Ledersack, der die Stelle des Tornisters vertritt — auf dem Rücken und in der Hand den Coxó, die Geige des Sertanejo, auf dem er fröhlich klimpert. Schwer bepackt sind die Jäger zurückgekehrt und haben in ihren Trag- körben eine Menge Wildpret mitgebracht; Coqueiro, der neue Wittwer, weilt noch auf der Militärkolonie. Die Leiche seiner Frau ist ausgegraben. Die Knochen sind gereinigt und in einem Korb am Abend zum Männerhaus gebracht worden; daneben liegt eine neue Korbtasche, in die sie bei der eigentlichen Leichenfeier umgepackt werden sollen, und steht ein Topf mit Wasser. Der Raum ist dunkel, nur einige Feuerkohlen leuchten beiseit, an dem, wer raucht, die Zigarre anzündet. Viele Männer, Frauen, Kinder liegen bequem ausgestreckt auf dem Boden. Die Körbe aber und den Topf umgiebt ein dichter Halbkreis hockender Gestalten den Bari in der Mitte, sie singen einen einförmigen, doch laut hallenden Klagegesang. Der Bari schwingt unablässig die mit klirrenden Muschelscherben gefüllte Kürbis- rassel, seine tiefe, bebende Stimme übertönt alle andern mit kräftigem Pathos, er lässt nicht nach mit Singen und Schwingen, bis ihm die Stimme und die Hand versagt; dann verstummt er und lässt die Rassel zitternd ausklappern, eine kleine Pause entsteht, während deren er in seiner Verzückung hastig eine Zigarre zum Munde führt und heftig einziehend den Rauch verschluckt. Wieder singt er und klappert er und raucht zwischendurch; bis nach einer kleinen Stunde die Pflicht erfüllt ist, Alles den Ranchão verlässt und sich draussen umhertreibt, schwatzend, lachend, wie fast alle Abende. In den Hütten hört man noch Mais stampfen, hier und dort flackert ein Feuerchen, eine malerische Gruppe beleuchtend, es wird gesungen, gelärmt, die Jungen balgen sich, Pärchen tauchen auf und ver- schwinden — kurz, Jahrmarkt vor dem Dorf, nur mit aussergewöhnlich vielen Buden, in denen Wilde Kaninchen fressen und Sterne anbeten. Am Tag nach Charfreitag ist in Brasilien der sogenannte Halleluja-Sonn- abend. Um zwölf Uhr Mittags hört die allgemeine Trauer auf, sie schlägt in helle Ausgelassenheit um, es wird überall geschossen und geknallt, der Verräter Judas, der an einem Baum hängt, wird gemisshandelt und vernichtet. Auf der Kolonie erklärt man den Beginn des Halleluja um 8 Uhr Morgens, weil eine Kuh und ein Schwein geschlachtet werden muss. Der Fluss ist gestiegen, Fische waren bei dem vollen Strom für den Charfreitag nicht gefangen worden

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/524>, abgerufen am 22.11.2024.