wöhnlichen, "gesetzmässig" wiederkehrenden Zahlenverhältnisse einbegriffen sind, und bedürfen in sehr vielen Einzelfällen nicht der selbständigen Beobachtung. Schwerlich haben wir unsere Zehen jemals gezählt, aber es ist richtig, es sind ihrer 10. Eine Weste können wir ein Jahr lang tragen, täglich an- und ausziehen und haben keine Ahnung, wieviel Knöpfe daran sind. Nun klebt der Naturmensch an jeder Einzelerscheinung und weiss nichts von Gesetzen. Wenn man ihn fragt, wie viele Finger er hat, so thut er uns gern den Gefallen, sie zu zählen. Er nimmt die Frage genau so wie ein Europäer die nach den Westenknöpfen.
Wie die Zählkunst der Bakairi, die ausserordentlich ähnlich der australischer Stämme ist, sich regelmässig hätte weiter entwickeln können, sehen wir an einem häufig zitierten Beispiel bei ihren nahen, wenn auch räumlich sehr entfernten Ver- wandten, den Tamanako des Orinoko. Diese haben den bekannten Fortschritt vollzogen und ein Zahlwort für "5" von der Hand entnommen: "ganze Hand;" "10" sind "beide Hände", "15" ein "ganzer Fuss" und "20" "ein Mann". In der "4" der Tamanako ist die "2", dasselbe Wort wie bei den Bakairi, noch ent- halten, aber sie haben ihm eine den Sinn bestimmende Endung gegeben und sagen nicht mehr "zwei-zwei". Wir erkennen genau das Fingergeberden-System der Bakairi wieder, das sich aber bereits die zugehörigen Zahlwörter geschaffen hat.
Ich habe mir, während Paleko Körbe flocht oder wenn ich mich Nachts oft lange schlaflos in der Hängematte schaukelte, viel über die Art ihres Zählens den Kopf zerbrochen. Sollte man auch hier, wo die Verhältnisse so einfach liegen wie möglich, dem merkwürdigen Geheimnis nicht auf die Spur kommen, wie die Abstraktion der Zahl im menschlichen Geiste entstanden ist?
Ueberall hat man bei den Naturvölkern bemerkt, dass sie in erster Linie mit den Fingern zählen, und damit weiter kommen als mit den Zahlwörtern. Man hat aus dieser allgemeinen Erfahrung den Schluss gezogen, dass die Zahl- geberden älter sind als die Zahlwörter und dass diese erst aus jenen hervor- gegangen sind. Nur darf man, wenn von Fingergeberden die Rede ist, nicht meinen, dass es sich blos um Geberden handle, mit denen dem Frager die Zahl mitgeteilt werden soll, als wenn sie zunächst den Zweck hätten, für ihn eine lebhaftere Verdeutlichung zu bewirken; wie etwa der Italiener, sobald er "3" sagt, auch 3 Finger vorstreckt. Der Eingeborene rechnet mit seinen Fingern, wie man die Kugeln an den Drähten einer Rechenmaschine anfasst. Es ist wahr, beim Zählen von einem oder zwei Dingen berührt er die Finger der linken Hand oft so flüchtig, dass die Bewegung den Charakter einer rein mitteilenden Geberde annimmt. Hat man aber der sorgfältigen und peinlichen Arbeit zu- geschaut, die das Zählen von 3 Maiskörnern darstellt, wie der Bakairi erst die Körner und dann die Finger links betastet, so wird man nicht zweifeln, dass die linke Hand seine Rechenmaschine ist. Und so tastet er auch jenseit der "6" die Finger und Zehen wie die Kugeln einer Rechenmaschine ab, und es liegt ihm fern, nur mitteilend darauf zu deuten oder gar, soweit das mechanisch möglich wäre, sie frei mit mimischer Veranschaulichung vorzustrecken.
wöhnlichen, »gesetzmässig« wiederkehrenden Zahlenverhältnisse einbegriffen sind, und bedürfen in sehr vielen Einzelfällen nicht der selbständigen Beobachtung. Schwerlich haben wir unsere Zehen jemals gezählt, aber es ist richtig, es sind ihrer 10. Eine Weste können wir ein Jahr lang tragen, täglich an- und ausziehen und haben keine Ahnung, wieviel Knöpfe daran sind. Nun klebt der Naturmensch an jeder Einzelerscheinung und weiss nichts von Gesetzen. Wenn man ihn fragt, wie viele Finger er hat, so thut er uns gern den Gefallen, sie zu zählen. Er nimmt die Frage genau so wie ein Europäer die nach den Westenknöpfen.
Wie die Zählkunst der Bakaïrí, die ausserordentlich ähnlich der australischer Stämme ist, sich regelmässig hätte weiter entwickeln können, sehen wir an einem häufig zitierten Beispiel bei ihren nahen, wenn auch räumlich sehr entfernten Ver- wandten, den Tamanako des Orinoko. Diese haben den bekannten Fortschritt vollzogen und ein Zahlwort für »5« von der Hand entnommen: »ganze Hand;« »10« sind »beide Hände«, »15« ein »ganzer Fuss« und »20« »ein Mann«. In der »4« der Tamanako ist die »2«, dasselbe Wort wie bei den Bakaïrí, noch ent- halten, aber sie haben ihm eine den Sinn bestimmende Endung gegeben und sagen nicht mehr »zwei-zwei«. Wir erkennen genau das Fingergeberden-System der Bakaïrí wieder, das sich aber bereits die zugehörigen Zahlwörter geschaffen hat.
Ich habe mir, während Paleko Körbe flocht oder wenn ich mich Nachts oft lange schlaflos in der Hängematte schaukelte, viel über die Art ihres Zählens den Kopf zerbrochen. Sollte man auch hier, wo die Verhältnisse so einfach liegen wie möglich, dem merkwürdigen Geheimnis nicht auf die Spur kommen, wie die Abstraktion der Zahl im menschlichen Geiste entstanden ist?
Ueberall hat man bei den Naturvölkern bemerkt, dass sie in erster Linie mit den Fingern zählen, und damit weiter kommen als mit den Zahlwörtern. Man hat aus dieser allgemeinen Erfahrung den Schluss gezogen, dass die Zahl- geberden älter sind als die Zahlwörter und dass diese erst aus jenen hervor- gegangen sind. Nur darf man, wenn von Fingergeberden die Rede ist, nicht meinen, dass es sich blos um Geberden handle, mit denen dem Frager die Zahl mitgeteilt werden soll, als wenn sie zunächst den Zweck hätten, für ihn eine lebhaftere Verdeutlichung zu bewirken; wie etwa der Italiener, sobald er »3« sagt, auch 3 Finger vorstreckt. Der Eingeborene rechnet mit seinen Fingern, wie man die Kugeln an den Drähten einer Rechenmaschine anfasst. Es ist wahr, beim Zählen von einem oder zwei Dingen berührt er die Finger der linken Hand oft so flüchtig, dass die Bewegung den Charakter einer rein mitteilenden Geberde annimmt. Hat man aber der sorgfältigen und peinlichen Arbeit zu- geschaut, die das Zählen von 3 Maiskörnern darstellt, wie der Bakaïrí erst die Körner und dann die Finger links betastet, so wird man nicht zweifeln, dass die linke Hand seine Rechenmaschine ist. Und so tastet er auch jenseit der »6« die Finger und Zehen wie die Kugeln einer Rechenmaschine ab, und es liegt ihm fern, nur mitteilend darauf zu deuten oder gar, soweit das mechanisch möglich wäre, sie frei mit mimischer Veranschaulichung vorzustrecken.
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[410/0474]
wöhnlichen, »gesetzmässig« wiederkehrenden Zahlenverhältnisse einbegriffen sind,
und bedürfen in sehr vielen Einzelfällen nicht der selbständigen Beobachtung.
Schwerlich haben wir unsere Zehen jemals gezählt, aber es ist richtig, es sind
ihrer 10. Eine Weste können wir ein Jahr lang tragen, täglich an- und ausziehen
und haben keine Ahnung, wieviel Knöpfe daran sind. Nun klebt der Naturmensch
an jeder Einzelerscheinung und weiss nichts von Gesetzen. Wenn man ihn fragt,
wie viele Finger er hat, so thut er uns gern den Gefallen, sie zu zählen. Er
nimmt die Frage genau so wie ein Europäer die nach den Westenknöpfen.
Wie die Zählkunst der Bakaïrí, die ausserordentlich ähnlich der australischer
Stämme ist, sich regelmässig hätte weiter entwickeln können, sehen wir an einem
häufig zitierten Beispiel bei ihren nahen, wenn auch räumlich sehr entfernten Ver-
wandten, den Tamanako des Orinoko. Diese haben den bekannten Fortschritt
vollzogen und ein Zahlwort für »5« von der Hand entnommen: »ganze Hand;«
»10« sind »beide Hände«, »15« ein »ganzer Fuss« und »20« »ein Mann«. In der
»4« der Tamanako ist die »2«, dasselbe Wort wie bei den Bakaïrí, noch ent-
halten, aber sie haben ihm eine den Sinn bestimmende Endung gegeben und sagen
nicht mehr »zwei-zwei«. Wir erkennen genau das Fingergeberden-System der
Bakaïrí wieder, das sich aber bereits die zugehörigen Zahlwörter geschaffen hat.
Ich habe mir, während Paleko Körbe flocht oder wenn ich mich Nachts oft
lange schlaflos in der Hängematte schaukelte, viel über die Art ihres Zählens
den Kopf zerbrochen. Sollte man auch hier, wo die Verhältnisse so einfach liegen
wie möglich, dem merkwürdigen Geheimnis nicht auf die Spur kommen, wie die
Abstraktion der Zahl im menschlichen Geiste entstanden ist?
Ueberall hat man bei den Naturvölkern bemerkt, dass sie in erster Linie
mit den Fingern zählen, und damit weiter kommen als mit den Zahlwörtern.
Man hat aus dieser allgemeinen Erfahrung den Schluss gezogen, dass die Zahl-
geberden älter sind als die Zahlwörter und dass diese erst aus jenen hervor-
gegangen sind. Nur darf man, wenn von Fingergeberden die Rede ist, nicht
meinen, dass es sich blos um Geberden handle, mit denen dem Frager die Zahl
mitgeteilt werden soll, als wenn sie zunächst den Zweck hätten, für ihn eine
lebhaftere Verdeutlichung zu bewirken; wie etwa der Italiener, sobald er »3«
sagt, auch 3 Finger vorstreckt. Der Eingeborene rechnet mit seinen Fingern,
wie man die Kugeln an den Drähten einer Rechenmaschine anfasst. Es ist wahr,
beim Zählen von einem oder zwei Dingen berührt er die Finger der linken
Hand oft so flüchtig, dass die Bewegung den Charakter einer rein mitteilenden
Geberde annimmt. Hat man aber der sorgfältigen und peinlichen Arbeit zu-
geschaut, die das Zählen von 3 Maiskörnern darstellt, wie der Bakaïrí erst die
Körner und dann die Finger links betastet, so wird man nicht zweifeln, dass die
linke Hand seine Rechenmaschine ist. Und so tastet er auch jenseit der »6« die
Finger und Zehen wie die Kugeln einer Rechenmaschine ab, und es liegt ihm
fern, nur mitteilend darauf zu deuten oder gar, soweit das mechanisch möglich
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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/474>, abgerufen am 25.11.2024.
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