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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Unser Märchen beschäftigt sich aber noch mit dem besonderen Umstand,
dass der Jaguar nur Wildpret und der Ameisenbär nur Ameisen frisst, und bringt
ihn in recht drastischer Weise zur Geltung, das Schema der Wette auf einen ganz
ungewöhnlichen Fall anwendend. Von diesem Punkt abgesehen, handeln die
Tiere ganz und gar als Menschen; sie zünden Feuer an, braten, wandern mit der
Kiepe umher, tanzen, der Ameisenbär scheert sich eine Tonsur (das Haar des
Kopfes ist sehr kurzborstig), ja, der kleine Ameisenbär, Myrmecophaga tetra-
dactyla, der zum Schluss erscheint, vergiftet den Jaguar mit dem in einer Kale-
basse enthaltenen Zaubergift der Medizinmänner. Dass List und Klugheit den
Sieg über körperliche Kraft davontragen, diese wichtigste Erfahrung des Jäger-
lebens ist die Moral dieses Märchens, in dem sich der humorvolle Sinn des Indianers
prächtig wiederspiegelt. Der Jaguar wird bald utoto mit dem allgemeinen Namen
der Art, bald oka mit dem Namen der Onca pintada genannt, unter dem wir
ihn als Keri's und Kame's Pflegevater kennen gelernt haben.

Der Ameisenbär begegnete dem Jaguar. Da sagte der Ameisenbär: "lass
uns kacken, mein Freund, mit geschlossenen Augen". Sie schlossen die Augen
und kackten. Während der Jaguar die Augen geschlossen hatte, legte der Ameisen-
bär Oka's Haufen sich unter. Seinen eigenen Haufen legte der Ameisenbär dem
Jaguar unter. Nachdem er sie schön zurecht gelegt hatte, sagte der Ameisenbär:
"lass uns die Augen aufmachen". "Lass uns unsere Haufen besehen", sagte der
Ameisenbär zum Jaguar. Der Ameisenbär rief aus: "ich habe Fleisch gegessen!"
Der Ameisenbär sagte zum Jaguar: "Du hast Termiten gegessen!" ""Termiten
esse ich nicht!"" sagte der Jaguar zum Ameisenbär.

Der Tapir kam dahin, wo sie kackten. Als der Jaguar den Tapir gesehen,
forderte er den Ameisenbär auf, er solle doch gehen und den Tapir tödten.
(Nun hatte der Ameisenbär Gelegenheit, seine Renommisterei, dass er Fleisch esse,
zu erweisen.) Wie befohlen, ging der Ameisenbär auf die Spur des Tapirs.
Einen Baum! tödtete der Ameisenbär. Darauf ging der Jaguar den Tapir zu
tödten. Der Jaguar tödtete den Tapir wirklich. Der Ameisenbär war indess
Termiten essend weiter gegangen und kehrte erst zurück, als der Tapir todt
war. "Wohin ist denn der Tapir gegangen, mein Freund?" fragte der Jaguar den
Ameisenbär. ""Ich habe ihn nicht gesehen"", sagte der Ameisenbär zum Jaguar.
""Hast denn du ihn nicht gesehen?"" sagte der Ameisenbär zum Jaguar und fuhr
fort: ""ich esse kein Fleisch, ich esse stets Termiten; Fleisch esse ich nicht"".
"Ich habe ihn getödtet", sagte der Jaguar. Der Jaguar weidete den Tapir aus
und gab (eine grobe Revanche, als wollte er sagen: "da hast du auch so einen
Fleischfresser") den Koth des Tapirs dem Ameisenbär. "Zünde Feuer an, mein
Freund", sagte der Jaguar. Der Ameisenbär zündete Feuer an. Der Jaguur
stellte den Bratrost auf und briet.

"Ich habe Durst", sagte der Ameisenbär. "Wasser giebt es hier nicht!"
sagte der Jaguar. "Wohl giebt es", sagte der Ameisenbär, "es sind dort wilde
Buriti-Palmen." Der Ameisenbär ging, er ging weit, aber Wasser fand er nicht.

Unser Märchen beschäftigt sich aber noch mit dem besonderen Umstand,
dass der Jaguar nur Wildpret und der Ameisenbär nur Ameisen frisst, und bringt
ihn in recht drastischer Weise zur Geltung, das Schema der Wette auf einen ganz
ungewöhnlichen Fall anwendend. Von diesem Punkt abgesehen, handeln die
Tiere ganz und gar als Menschen; sie zünden Feuer an, braten, wandern mit der
Kiepe umher, tanzen, der Ameisenbär scheert sich eine Tonsur (das Haar des
Kopfes ist sehr kurzborstig), ja, der kleine Ameisenbär, Myrmecophaga tetra-
dactyla, der zum Schluss erscheint, vergiftet den Jaguar mit dem in einer Kale-
basse enthaltenen Zaubergift der Medizinmänner. Dass List und Klugheit den
Sieg über körperliche Kraft davontragen, diese wichtigste Erfahrung des Jäger-
lebens ist die Moral dieses Märchens, in dem sich der humorvolle Sinn des Indianers
prächtig wiederspiegelt. Der Jaguar wird bald utóto mit dem allgemeinen Namen
der Art, bald óka mit dem Namen der Onça pintada genannt, unter dem wir
ihn als Keri’s und Kame’s Pflegevater kennen gelernt haben.

Der Ameisenbär begegnete dem Jaguar. Da sagte der Ameisenbär: »lass
uns kacken, mein Freund, mit geschlossenen Augen«. Sie schlossen die Augen
und kackten. Während der Jaguar die Augen geschlossen hatte, legte der Ameisen-
bär Oka’s Haufen sich unter. Seinen eigenen Haufen legte der Ameisenbär dem
Jaguar unter. Nachdem er sie schön zurecht gelegt hatte, sagte der Ameisenbär:
»lass uns die Augen aufmachen«. »Lass uns unsere Haufen besehen«, sagte der
Ameisenbär zum Jaguar. Der Ameisenbär rief aus: »ich habe Fleisch gegessen!«
Der Ameisenbär sagte zum Jaguar: »Du hast Termiten gegessen!« »»Termiten
esse ich nicht!«« sagte der Jaguar zum Ameisenbär.

Der Tapir kam dahin, wo sie kackten. Als der Jaguar den Tapir gesehen,
forderte er den Ameisenbär auf, er solle doch gehen und den Tapir tödten.
(Nun hatte der Ameisenbär Gelegenheit, seine Renommisterei, dass er Fleisch esse,
zu erweisen.) Wie befohlen, ging der Ameisenbär auf die Spur des Tapirs.
Einen Baum! tödtete der Ameisenbär. Darauf ging der Jaguar den Tapir zu
tödten. Der Jaguar tödtete den Tapir wirklich. Der Ameisenbär war indess
Termiten essend weiter gegangen und kehrte erst zurück, als der Tapir todt
war. »Wohin ist denn der Tapir gegangen, mein Freund?« fragte der Jaguar den
Ameisenbär. »»Ich habe ihn nicht gesehen««, sagte der Ameisenbär zum Jaguar.
»»Hast denn du ihn nicht gesehen?«« sagte der Ameisenbär zum Jaguar und fuhr
fort: »»ich esse kein Fleisch, ich esse stets Termiten; Fleisch esse ich nicht««.
»Ich habe ihn getödtet«, sagte der Jaguar. Der Jaguar weidete den Tapir aus
und gab (eine grobe Revanche, als wollte er sagen: »da hast du auch so einen
Fleischfresser«) den Koth des Tapirs dem Ameisenbär. »Zünde Feuer an, mein
Freund«, sagte der Jaguar. Der Ameisenbär zündete Feuer an. Der Jaguur
stellte den Bratrost auf und briet.

»Ich habe Durst«, sagte der Ameisenbär. »Wasser giebt es hier nicht!«
sagte der Jaguar. »Wohl giebt es«, sagte der Ameisenbär, »es sind dort wilde
Burití-Palmen.« Der Ameisenbär ging, er ging weit, aber Wasser fand er nicht.

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[384/0448] Unser Märchen beschäftigt sich aber noch mit dem besonderen Umstand, dass der Jaguar nur Wildpret und der Ameisenbär nur Ameisen frisst, und bringt ihn in recht drastischer Weise zur Geltung, das Schema der Wette auf einen ganz ungewöhnlichen Fall anwendend. Von diesem Punkt abgesehen, handeln die Tiere ganz und gar als Menschen; sie zünden Feuer an, braten, wandern mit der Kiepe umher, tanzen, der Ameisenbär scheert sich eine Tonsur (das Haar des Kopfes ist sehr kurzborstig), ja, der kleine Ameisenbär, Myrmecophaga tetra- dactyla, der zum Schluss erscheint, vergiftet den Jaguar mit dem in einer Kale- basse enthaltenen Zaubergift der Medizinmänner. Dass List und Klugheit den Sieg über körperliche Kraft davontragen, diese wichtigste Erfahrung des Jäger- lebens ist die Moral dieses Märchens, in dem sich der humorvolle Sinn des Indianers prächtig wiederspiegelt. Der Jaguar wird bald utóto mit dem allgemeinen Namen der Art, bald óka mit dem Namen der Onça pintada genannt, unter dem wir ihn als Keri’s und Kame’s Pflegevater kennen gelernt haben. Der Ameisenbär begegnete dem Jaguar. Da sagte der Ameisenbär: »lass uns kacken, mein Freund, mit geschlossenen Augen«. Sie schlossen die Augen und kackten. Während der Jaguar die Augen geschlossen hatte, legte der Ameisen- bär Oka’s Haufen sich unter. Seinen eigenen Haufen legte der Ameisenbär dem Jaguar unter. Nachdem er sie schön zurecht gelegt hatte, sagte der Ameisenbär: »lass uns die Augen aufmachen«. »Lass uns unsere Haufen besehen«, sagte der Ameisenbär zum Jaguar. Der Ameisenbär rief aus: »ich habe Fleisch gegessen!« Der Ameisenbär sagte zum Jaguar: »Du hast Termiten gegessen!« »»Termiten esse ich nicht!«« sagte der Jaguar zum Ameisenbär. Der Tapir kam dahin, wo sie kackten. Als der Jaguar den Tapir gesehen, forderte er den Ameisenbär auf, er solle doch gehen und den Tapir tödten. (Nun hatte der Ameisenbär Gelegenheit, seine Renommisterei, dass er Fleisch esse, zu erweisen.) Wie befohlen, ging der Ameisenbär auf die Spur des Tapirs. Einen Baum! tödtete der Ameisenbär. Darauf ging der Jaguar den Tapir zu tödten. Der Jaguar tödtete den Tapir wirklich. Der Ameisenbär war indess Termiten essend weiter gegangen und kehrte erst zurück, als der Tapir todt war. »Wohin ist denn der Tapir gegangen, mein Freund?« fragte der Jaguar den Ameisenbär. »»Ich habe ihn nicht gesehen««, sagte der Ameisenbär zum Jaguar. »»Hast denn du ihn nicht gesehen?«« sagte der Ameisenbär zum Jaguar und fuhr fort: »»ich esse kein Fleisch, ich esse stets Termiten; Fleisch esse ich nicht««. »Ich habe ihn getödtet«, sagte der Jaguar. Der Jaguar weidete den Tapir aus und gab (eine grobe Revanche, als wollte er sagen: »da hast du auch so einen Fleischfresser«) den Koth des Tapirs dem Ameisenbär. »Zünde Feuer an, mein Freund«, sagte der Jaguar. Der Ameisenbär zündete Feuer an. Der Jaguur stellte den Bratrost auf und briet. »Ich habe Durst«, sagte der Ameisenbär. »Wasser giebt es hier nicht!« sagte der Jaguar. »Wohl giebt es«, sagte der Ameisenbär, »es sind dort wilde Burití-Palmen.« Der Ameisenbär ging, er ging weit, aber Wasser fand er nicht.

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/448>, abgerufen am 22.11.2024.