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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Was die Mutter selbst betrifft, so ist sie aus einem, richtiger zu einem
Maisstampfer, der aus Pikiholz geschnitzt war, hinzugemacht worden, und damit
sollte in der klaren Analogie zum Ursprung der Männer aus Pfeilen die rein
menschliche
Auffassung ihres Wesens genügend gewährleistet sein. Wer aber
in ihr trotzdem eine Personifikation z. B. der Morgendämmerung erblicken will,
aus der die Sonne hervorbricht, der äussert damit meines Erachtens einen vor-
trefflichen Gedanken, dem nur der Fehler anhaftet, dass er ihn und nicht der
Indianer ihn gehabt hat. Gern will ich aber zur Mythenbildung über den Mythus
beitragen: es wurden fünf Maisstampfer belebt, zwei der so hervorgezauberten
Frauen wollten nicht arbeiten und wurden sofort getötet, während die zukünftige
Mutter der Zwillinge eine der fleissigen war; hier ist also der Fleiss personifiziert
und der Fleiss hat die nächste Beziehung, die man nur verlangen kann, zur
Morgendämmerung, wo er sich schon kräftig regt, wenn die Faulheit noch schläft.

Die Morgendämmerung verschwindet in dem Licht des Tages und deshalb
wird erklärt, stirbt die Mutter der Kulturheroen. Ich finde es sehr grausam,
dass die Mutter nicht als Abenddämmerung wieder lebendig wird. Doch muss
ich anerkennen, dieser in den amerikanischen Schöpfungssagen oft beobachtete
Zug vom Tode der Mutter trifft allerdings auch hier zu. Und da ist es freilich
mit meiner schönen Erklärung vom Fleiss nichts, denn der sollte mit dem an-
brechenden Tage erst recht zum vollen Leben erwachen. So glaube ich, ist es
besser, auf die Allgemeinheit jenes Schicksals der Mutter keinen allzu hohen
Wert zu legen -- es stirbt sich in den Mythen überhaupt sehr leicht -- sondern
in jedem einzelnen Fall zu prüfen, wie weit der Tod den Zwecken des Er-
zählers
förderlich ist. In unserm Fall ist sowohl der Tod selbst als Motiv für
die Fortsetzung der Geschichte als auch die Art, wie er mit der Geburt kom-
biniert wird, sehr nützlich. Die Mutter wird von der Schwiegermutter getötet,
weil sie als eine Bakairi gilt und die Schwiegermutter und ihr Stamm mit den
Bakairi verfeindet waren und ihrer möglichst viele auffrassen. An ihr rächen
sich Keri und Kame, auch sie wird getötet und indem sie verbrannt wird,
entstehen die Magelhaes'schen Wolken; dieses Feuer spielt auch wieder eine
wichtige Rolle für die Entwicklung der Helden. Dann aber wurden Keri und
Kame aus der toten Mutter herausgeschnitten, und das ist doch ein Umstand,
der eine auffälligere Beziehung aufweist zu der wunderbaren, für die Mutter
freilich verhängnisvollen Geburt zweier grossen Medizinmänner, die bald so
Vieles leisten, als zu dem Tod der personifizierten Morgendämmerung! Die
Morgendämmerung wird übrigens wie die Sonne als Federn betrachtet, die der
Geier herbeibringt, um nicht die Sonne selbst hergeben zu müssen.

Wollten wir die Legenden doch mehr nehmen als das, was sie dem In-
dianer selbst sind
, denn als das, was sie uns sein könnten, was sie im Auf-
schwung einer höheren, die kindlichen Ursprünge mit tausend Arabesken aus-
schmückenden Kultur, wie ich gewiss zugebe, auch jenem werden könnten. Der
Indianer denkt sich die Sonne als einen Federball -- und das thuen nicht nur

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Was die Mutter selbst betrifft, so ist sie aus einem, richtiger zu einem
Maisstampfer, der aus Pikíholz geschnitzt war, hinzugemacht worden, und damit
sollte in der klaren Analogie zum Ursprung der Männer aus Pfeilen die rein
menschliche
Auffassung ihres Wesens genügend gewährleistet sein. Wer aber
in ihr trotzdem eine Personifikation z. B. der Morgendämmerung erblicken will,
aus der die Sonne hervorbricht, der äussert damit meines Erachtens einen vor-
trefflichen Gedanken, dem nur der Fehler anhaftet, dass er ihn und nicht der
Indianer ihn gehabt hat. Gern will ich aber zur Mythenbildung über den Mythus
beitragen: es wurden fünf Maisstampfer belebt, zwei der so hervorgezauberten
Frauen wollten nicht arbeiten und wurden sofort getötet, während die zukünftige
Mutter der Zwillinge eine der fleissigen war; hier ist also der Fleiss personifiziert
und der Fleiss hat die nächste Beziehung, die man nur verlangen kann, zur
Morgendämmerung, wo er sich schon kräftig regt, wenn die Faulheit noch schläft.

Die Morgendämmerung verschwindet in dem Licht des Tages und deshalb
wird erklärt, stirbt die Mutter der Kulturheroen. Ich finde es sehr grausam,
dass die Mutter nicht als Abenddämmerung wieder lebendig wird. Doch muss
ich anerkennen, dieser in den amerikanischen Schöpfungssagen oft beobachtete
Zug vom Tode der Mutter trifft allerdings auch hier zu. Und da ist es freilich
mit meiner schönen Erklärung vom Fleiss nichts, denn der sollte mit dem an-
brechenden Tage erst recht zum vollen Leben erwachen. So glaube ich, ist es
besser, auf die Allgemeinheit jenes Schicksals der Mutter keinen allzu hohen
Wert zu legen — es stirbt sich in den Mythen überhaupt sehr leicht — sondern
in jedem einzelnen Fall zu prüfen, wie weit der Tod den Zwecken des Er-
zählers
förderlich ist. In unserm Fall ist sowohl der Tod selbst als Motiv für
die Fortsetzung der Geschichte als auch die Art, wie er mit der Geburt kom-
biniert wird, sehr nützlich. Die Mutter wird von der Schwiegermutter getötet,
weil sie als eine Bakaïrí gilt und die Schwiegermutter und ihr Stamm mit den
Bakaïrí verfeindet waren und ihrer möglichst viele auffrassen. An ihr rächen
sich Keri und Kame, auch sie wird getötet und indem sie verbrannt wird,
entstehen die Magelhães’schen Wolken; dieses Feuer spielt auch wieder eine
wichtige Rolle für die Entwicklung der Helden. Dann aber wurden Keri und
Kame aus der toten Mutter herausgeschnitten, und das ist doch ein Umstand,
der eine auffälligere Beziehung aufweist zu der wunderbaren, für die Mutter
freilich verhängnisvollen Geburt zweier grossen Medizinmänner, die bald so
Vieles leisten, als zu dem Tod der personifizierten Morgendämmerung! Die
Morgendämmerung wird übrigens wie die Sonne als Federn betrachtet, die der
Geier herbeibringt, um nicht die Sonne selbst hergeben zu müssen.

Wollten wir die Legenden doch mehr nehmen als das, was sie dem In-
dianer selbst sind
, denn als das, was sie uns sein könnten, was sie im Auf-
schwung einer höheren, die kindlichen Ursprünge mit tausend Arabesken aus-
schmückenden Kultur, wie ich gewiss zugebe, auch jenem werden könnten. Der
Indianer denkt sich die Sonne als einen Federball — und das thuen nicht nur

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[371/0435] Was die Mutter selbst betrifft, so ist sie aus einem, richtiger zu einem Maisstampfer, der aus Pikíholz geschnitzt war, hinzugemacht worden, und damit sollte in der klaren Analogie zum Ursprung der Männer aus Pfeilen die rein menschliche Auffassung ihres Wesens genügend gewährleistet sein. Wer aber in ihr trotzdem eine Personifikation z. B. der Morgendämmerung erblicken will, aus der die Sonne hervorbricht, der äussert damit meines Erachtens einen vor- trefflichen Gedanken, dem nur der Fehler anhaftet, dass er ihn und nicht der Indianer ihn gehabt hat. Gern will ich aber zur Mythenbildung über den Mythus beitragen: es wurden fünf Maisstampfer belebt, zwei der so hervorgezauberten Frauen wollten nicht arbeiten und wurden sofort getötet, während die zukünftige Mutter der Zwillinge eine der fleissigen war; hier ist also der Fleiss personifiziert und der Fleiss hat die nächste Beziehung, die man nur verlangen kann, zur Morgendämmerung, wo er sich schon kräftig regt, wenn die Faulheit noch schläft. Die Morgendämmerung verschwindet in dem Licht des Tages und deshalb wird erklärt, stirbt die Mutter der Kulturheroen. Ich finde es sehr grausam, dass die Mutter nicht als Abenddämmerung wieder lebendig wird. Doch muss ich anerkennen, dieser in den amerikanischen Schöpfungssagen oft beobachtete Zug vom Tode der Mutter trifft allerdings auch hier zu. Und da ist es freilich mit meiner schönen Erklärung vom Fleiss nichts, denn der sollte mit dem an- brechenden Tage erst recht zum vollen Leben erwachen. So glaube ich, ist es besser, auf die Allgemeinheit jenes Schicksals der Mutter keinen allzu hohen Wert zu legen — es stirbt sich in den Mythen überhaupt sehr leicht — sondern in jedem einzelnen Fall zu prüfen, wie weit der Tod den Zwecken des Er- zählers förderlich ist. In unserm Fall ist sowohl der Tod selbst als Motiv für die Fortsetzung der Geschichte als auch die Art, wie er mit der Geburt kom- biniert wird, sehr nützlich. Die Mutter wird von der Schwiegermutter getötet, weil sie als eine Bakaïrí gilt und die Schwiegermutter und ihr Stamm mit den Bakaïrí verfeindet waren und ihrer möglichst viele auffrassen. An ihr rächen sich Keri und Kame, auch sie wird getötet und indem sie verbrannt wird, entstehen die Magelhães’schen Wolken; dieses Feuer spielt auch wieder eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Helden. Dann aber wurden Keri und Kame aus der toten Mutter herausgeschnitten, und das ist doch ein Umstand, der eine auffälligere Beziehung aufweist zu der wunderbaren, für die Mutter freilich verhängnisvollen Geburt zweier grossen Medizinmänner, die bald so Vieles leisten, als zu dem Tod der personifizierten Morgendämmerung! Die Morgendämmerung wird übrigens wie die Sonne als Federn betrachtet, die der Geier herbeibringt, um nicht die Sonne selbst hergeben zu müssen. Wollten wir die Legenden doch mehr nehmen als das, was sie dem In- dianer selbst sind, denn als das, was sie uns sein könnten, was sie im Auf- schwung einer höheren, die kindlichen Ursprünge mit tausend Arabesken aus- schmückenden Kultur, wie ich gewiss zugebe, auch jenem werden könnten. Der Indianer denkt sich die Sonne als einen Federball — und das thuen nicht nur 24*

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/435>, abgerufen am 24.11.2024.