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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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von seinem Grossvater noch belehrt sein konnte, mittelbar bis zum Grossvater
des Grossvaters zurück. Geben wir, der verschiedenen Lebenszeiten gedenkend,
auch noch zwei Generationen mehr zu, so wird das Aeusserste von Glaub-
würdigkeit zugestanden sein. Keiner unserer Indianer zweifelt daran, dass wir mit
diesen Ahnen bei der Zeit anlangen, wo Keri und Kame die Sonne holten.
Bakairi hat es zwar vorher schon gegeben und auch Kayabi waren bereits vor-
handen, ehe der Himmel mit der Erde vertauscht wurde. So geneigt ich bin,
von den guten Bakairi das Beste zu denken, so meine ich nach allem, dass wir
ihnen völlig gerecht werden, wenn wir sie seit undenklich langer Zeit am
Paranatinga sitzen und sie dort die Kenntnis von Mandioka und Tabak gewinnen
lassen.

Sind nun Keri und Kame die Namen zweier bestimmten Häuptlinge,
die vor einigen Jahrhunderten wirklich gelebt haben und denen man nun mit
Uebertreibung das Verdienst zuschreibt, den Lauf der Sonne geregelt und den
Bakairi und ihren Nachbarn Schlaf, Feuer, Flüsse u. s. w. verschafft zu haben?
Die Geschichte unserer seit Jahrhunderten als grosse Familien dahinlebenden Jäger-
stämme ist sehr wenig geeignet, Persönlichkeiten zu erzeugen, deren Namen nicht
vergessen werden könnten. Aber hiervon abgesehen, wäre nur der eine Name
"Mond" vorhanden, so möchte man noch an einen wirklichen Vorfahren dieses
Namens denken können, aber dass wir nun gerade zwei mit dem Namen "Sonne"
und "Mond" voraussetzen, sollen, ist etwas viel verlangt.

Können wir denn Keri und Kame nicht für eine Personifikation von Sonne
und Mond halten? Allein sie waren nicht Mond und Sonne oder Federbälle,
sondern hiessen nur so; die Himmelskörper Sonne und Mond sind nicht aus
Bakairiknochen entstanden. Nun, die ältesten Dinge und die ältesten Menschen
gehören zusammen; der Stammvater ist der natürliche Besitzer der Sonne. Mag
ich ihn, um seinen Ursprung zu erklären, aus irgend einem Material hervorgehen
und ihn beleben lassen, zu personifizieren ist da nichts, sondern nur zu benennen.
Die Person wird von dem geschichtlich ganz unbekannten, aber sicher
vorauszusetzenden
Begründer des Stammes ganz von selbst geliefert; es fragt
sich also nur, woher der Name genommen wird.

Es ist in erster Linie zu erwägen, ob die Namen nicht einen geographischen
Sinn haben. Orientieren wir uns! Die Töpferstämme des Kulisehu sind in unsern
Breiten die östlichsten Vorposten der Nu-Aruak. Das mächtige Gros sitzt im
Westen von dem Arinos, dem Nebenfluss des Tapajoz. Hier haben wir zu-
nächst im Quellgebiet des Arinos und Juruena die früher zahlreiche, aus vielen
einzelnen Stämmen vereinigte Paressigruppe, von denen wir wissen, dass sie sich
heute südwärts verschoben haben. Weiter nach Westen sind gewaltige Gebiete
von Nu-Aruak besetzt. Die Paressi, die uns in Cuyaba besuchten, nannten die
Sonne kamai und den Arinos als den Fluss in Sonnenaufgang, der ihr Gebiet
östlich begrenzte, kame-uhina = Sonnen-Fluss. Doch kann es irgend ein
anderer Stamm der Paressigruppe, es können durchaus auch Vorfahren der heute

von seinem Grossvater noch belehrt sein konnte, mittelbar bis zum Grossvater
des Grossvaters zurück. Geben wir, der verschiedenen Lebenszeiten gedenkend,
auch noch zwei Generationen mehr zu, so wird das Aeusserste von Glaub-
würdigkeit zugestanden sein. Keiner unserer Indianer zweifelt daran, dass wir mit
diesen Ahnen bei der Zeit anlangen, wo Keri und Kame die Sonne holten.
Bakaïrí hat es zwar vorher schon gegeben und auch Kayabí waren bereits vor-
handen, ehe der Himmel mit der Erde vertauscht wurde. So geneigt ich bin,
von den guten Bakaïrí das Beste zu denken, so meine ich nach allem, dass wir
ihnen völlig gerecht werden, wenn wir sie seit undenklich langer Zeit am
Paranatinga sitzen und sie dort die Kenntnis von Mandioka und Tabak gewinnen
lassen.

Sind nun Keri und Kame die Namen zweier bestimmten Häuptlinge,
die vor einigen Jahrhunderten wirklich gelebt haben und denen man nun mit
Uebertreibung das Verdienst zuschreibt, den Lauf der Sonne geregelt und den
Bakaïrí und ihren Nachbarn Schlaf, Feuer, Flüsse u. s. w. verschafft zu haben?
Die Geschichte unserer seit Jahrhunderten als grosse Familien dahinlebenden Jäger-
stämme ist sehr wenig geeignet, Persönlichkeiten zu erzeugen, deren Namen nicht
vergessen werden könnten. Aber hiervon abgesehen, wäre nur der eine Name
»Mond« vorhanden, so möchte man noch an einen wirklichen Vorfahren dieses
Namens denken können, aber dass wir nun gerade zwei mit dem Namen »Sonne«
und »Mond« voraussetzen, sollen, ist etwas viel verlangt.

Können wir denn Keri und Kame nicht für eine Personifikation von Sonne
und Mond halten? Allein sie waren nicht Mond und Sonne oder Federbälle,
sondern hiessen nur so; die Himmelskörper Sonne und Mond sind nicht aus
Bakaïríknochen entstanden. Nun, die ältesten Dinge und die ältesten Menschen
gehören zusammen; der Stammvater ist der natürliche Besitzer der Sonne. Mag
ich ihn, um seinen Ursprung zu erklären, aus irgend einem Material hervorgehen
und ihn beleben lassen, zu personifizieren ist da nichts, sondern nur zu benennen.
Die Person wird von dem geschichtlich ganz unbekannten, aber sicher
vorauszusetzenden
Begründer des Stammes ganz von selbst geliefert; es fragt
sich also nur, woher der Name genommen wird.

Es ist in erster Linie zu erwägen, ob die Namen nicht einen geographischen
Sinn haben. Orientieren wir uns! Die Töpferstämme des Kulisehu sind in unsern
Breiten die östlichsten Vorposten der Nu-Aruak. Das mächtige Gros sitzt im
Westen von dem Arinos, dem Nebenfluss des Tapajoz. Hier haben wir zu-
nächst im Quellgebiet des Arinos und Juruena die früher zahlreiche, aus vielen
einzelnen Stämmen vereinigte Paressígruppe, von denen wir wissen, dass sie sich
heute südwärts verschoben haben. Weiter nach Westen sind gewaltige Gebiete
von Nu-Aruak besetzt. Die Paressí, die uns in Cuyabá besuchten, nannten die
Sonne kamái und den Arinos als den Fluss in Sonnenaufgang, der ihr Gebiet
östlich begrenzte, kame-uhína = Sonnen-Fluss. Doch kann es irgend ein
anderer Stamm der Paressígruppe, es können durchaus auch Vorfahren der heute

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[366/0430] von seinem Grossvater noch belehrt sein konnte, mittelbar bis zum Grossvater des Grossvaters zurück. Geben wir, der verschiedenen Lebenszeiten gedenkend, auch noch zwei Generationen mehr zu, so wird das Aeusserste von Glaub- würdigkeit zugestanden sein. Keiner unserer Indianer zweifelt daran, dass wir mit diesen Ahnen bei der Zeit anlangen, wo Keri und Kame die Sonne holten. Bakaïrí hat es zwar vorher schon gegeben und auch Kayabí waren bereits vor- handen, ehe der Himmel mit der Erde vertauscht wurde. So geneigt ich bin, von den guten Bakaïrí das Beste zu denken, so meine ich nach allem, dass wir ihnen völlig gerecht werden, wenn wir sie seit undenklich langer Zeit am Paranatinga sitzen und sie dort die Kenntnis von Mandioka und Tabak gewinnen lassen. Sind nun Keri und Kame die Namen zweier bestimmten Häuptlinge, die vor einigen Jahrhunderten wirklich gelebt haben und denen man nun mit Uebertreibung das Verdienst zuschreibt, den Lauf der Sonne geregelt und den Bakaïrí und ihren Nachbarn Schlaf, Feuer, Flüsse u. s. w. verschafft zu haben? Die Geschichte unserer seit Jahrhunderten als grosse Familien dahinlebenden Jäger- stämme ist sehr wenig geeignet, Persönlichkeiten zu erzeugen, deren Namen nicht vergessen werden könnten. Aber hiervon abgesehen, wäre nur der eine Name »Mond« vorhanden, so möchte man noch an einen wirklichen Vorfahren dieses Namens denken können, aber dass wir nun gerade zwei mit dem Namen »Sonne« und »Mond« voraussetzen, sollen, ist etwas viel verlangt. Können wir denn Keri und Kame nicht für eine Personifikation von Sonne und Mond halten? Allein sie waren nicht Mond und Sonne oder Federbälle, sondern hiessen nur so; die Himmelskörper Sonne und Mond sind nicht aus Bakaïríknochen entstanden. Nun, die ältesten Dinge und die ältesten Menschen gehören zusammen; der Stammvater ist der natürliche Besitzer der Sonne. Mag ich ihn, um seinen Ursprung zu erklären, aus irgend einem Material hervorgehen und ihn beleben lassen, zu personifizieren ist da nichts, sondern nur zu benennen. Die Person wird von dem geschichtlich ganz unbekannten, aber sicher vorauszusetzenden Begründer des Stammes ganz von selbst geliefert; es fragt sich also nur, woher der Name genommen wird. Es ist in erster Linie zu erwägen, ob die Namen nicht einen geographischen Sinn haben. Orientieren wir uns! Die Töpferstämme des Kulisehu sind in unsern Breiten die östlichsten Vorposten der Nu-Aruak. Das mächtige Gros sitzt im Westen von dem Arinos, dem Nebenfluss des Tapajoz. Hier haben wir zu- nächst im Quellgebiet des Arinos und Juruena die früher zahlreiche, aus vielen einzelnen Stämmen vereinigte Paressígruppe, von denen wir wissen, dass sie sich heute südwärts verschoben haben. Weiter nach Westen sind gewaltige Gebiete von Nu-Aruak besetzt. Die Paressí, die uns in Cuyabá besuchten, nannten die Sonne kamái und den Arinos als den Fluss in Sonnenaufgang, der ihr Gebiet östlich begrenzte, kame-uhína = Sonnen-Fluss. Doch kann es irgend ein anderer Stamm der Paressígruppe, es können durchaus auch Vorfahren der heute

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/430>, abgerufen am 22.11.2024.