Der Wickelbär interessierte die Bakairi mehr als der verschollene Nachbar- stamm, und er blieb durch die Jahrhunderte hindurch derselbe, er war der Herr des nördlichen Gebietes, und was dorther kam, ob Tabak oder Baum- wolle, stammte von ihm; Jäger, die einen Streifzug über die gewöhnlichen Grenzen hinaus nach Norden ausdehnten, fanden ihn dort oder er selbst machte gelegent- liche Besuche im Süden bei den Bakairi. Die Geschichte der Herkunft von medizinischem Tabak und Baumwolle wurde nach dem üblichen und natürlichen Schema, dass das charakteristische Tier als ursprünglicher Besitzer galt, behandelt: setzen wir, um den obigen Vergleich mit unserm ähnlichen Verfahren durchzuführen, Baumwolle und Tabak gleich zwei Krankheiten, so war der Bacillus legendarius der Wickelbär. Die von ihm erzählte Geschichte ist nur die Antwort auf die Frage: "wie kommt es, dass wir früher keinen Tabak hatten?" Zuerst hat man noch gewusst, "der und der bestimmte Stamm hat ihn uns gegeben", dann vergass man im Lauf der Zeit Namen und nähere Umstände und eine spätere Generation hörte noch vielleicht, "wir haben ihn von irgend Jemanden dort, wo der Wickelbär lebt, be- kommen", allein eine solche Auskunft musste dem üblichen Schema schon in dem Augenblick verfallen, wenn die liebe Neugier weiter fragte: "woher hatten denn jene Leute selbst den Tabak?" Da gab es, die Grundanschauung vorausgesetzt, keine bessere Antwort als "eben vom Wickelbär" und man war sehr zufrieden.
Ebenso wird, wie wir sehen werden, die Herkunft des gewöhnlichen Rauch- tabaks auf einen Fisch, der im Paranatinga nicht vorkommt, sondern im "Tabak- fluss" lebt, und die Herkunft der Mandioka auf einen ebenfalls im Paranatinga nicht vorkommenden Fisch, der den "Beijufluss" bewohnte, zurückgeführt. Ich habe Antonio zuweilen -- nicht oft, denn er wurde wie jeder Gläubige durch Zweifel, deren richtigen Kern er selbst nicht verkennen konnte, empfindlich be- rührt -- meinen skeptischen Einwurf nicht vorenthalten. Dann schwieg er ent- weder verletzt, oder er erklärte den gegenwärtigen Zustand durch Verzauberung oder -- und zwar in der Mehrzahl der Fälle -- er sagte einfach: "jetzt ist es nicht mehr so, aber es war früher so".
"Es war einmal," (das stets wiederkehrende paa der Tupilegenden) ist auch die Signatur der Indianer - "Märchen". Der weitaus grösste Teil der Legenden will die Entstehung von irgend etwas erklären, es handelt sich also stets um Vor- gänge in alter Zeit, und da sie nun immer nur dadurch zu erklären sind, dass etwas Besonderes geschehen ist, so musste sich aus alledem die Anschauung fest- setzen, dass es einmal eine Zeit gegeben hat, wo das Aussergewöhnliche Regel war. Man gelangte mit der schönsten Logik der Welt zu Situationen, aus denen man immer nur durch menschliche Handlungen der Tiere den Ausweg fand, dann aber auch vortrefflich fand. Es ist sehr leicht, die Entstehung der häufig mit vielem Humor gewürzten Geschichten zu verstehen, wenn man nur die Pointe, die bewiesen wird, zum Ausgangspunkt nimmt; es ist ja klar, dass die zu erklärende Thatsache nicht zu der Geschichte gekommen sein kann, sondern nur die Ge- schichte zu der Thatsache.
Der Wickelbär interessierte die Bakaïrí mehr als der verschollene Nachbar- stamm, und er blieb durch die Jahrhunderte hindurch derselbe, er war der Herr des nördlichen Gebietes, und was dorther kam, ob Tabak oder Baum- wolle, stammte von ihm; Jäger, die einen Streifzug über die gewöhnlichen Grenzen hinaus nach Norden ausdehnten, fanden ihn dort oder er selbst machte gelegent- liche Besuche im Süden bei den Bakaïrí. Die Geschichte der Herkunft von medizinischem Tabak und Baumwolle wurde nach dem üblichen und natürlichen Schema, dass das charakteristische Tier als ursprünglicher Besitzer galt, behandelt: setzen wir, um den obigen Vergleich mit unserm ähnlichen Verfahren durchzuführen, Baumwolle und Tabak gleich zwei Krankheiten, so war der Bacillus legendarius der Wickelbär. Die von ihm erzählte Geschichte ist nur die Antwort auf die Frage: »wie kommt es, dass wir früher keinen Tabak hatten?« Zuerst hat man noch gewusst, »der und der bestimmte Stamm hat ihn uns gegeben«, dann vergass man im Lauf der Zeit Namen und nähere Umstände und eine spätere Generation hörte noch vielleicht, »wir haben ihn von irgend Jemanden dort, wo der Wickelbär lebt, be- kommen«, allein eine solche Auskunft musste dem üblichen Schema schon in dem Augenblick verfallen, wenn die liebe Neugier weiter fragte: »woher hatten denn jene Leute selbst den Tabak?« Da gab es, die Grundanschauung vorausgesetzt, keine bessere Antwort als »eben vom Wickelbär« und man war sehr zufrieden.
Ebenso wird, wie wir sehen werden, die Herkunft des gewöhnlichen Rauch- tabaks auf einen Fisch, der im Paranatinga nicht vorkommt, sondern im »Tabak- fluss« lebt, und die Herkunft der Mandioka auf einen ebenfalls im Paranatinga nicht vorkommenden Fisch, der den »Beijúfluss« bewohnte, zurückgeführt. Ich habe Antonio zuweilen — nicht oft, denn er wurde wie jeder Gläubige durch Zweifel, deren richtigen Kern er selbst nicht verkennen konnte, empfindlich be- rührt — meinen skeptischen Einwurf nicht vorenthalten. Dann schwieg er ent- weder verletzt, oder er erklärte den gegenwärtigen Zustand durch Verzauberung oder — und zwar in der Mehrzahl der Fälle — er sagte einfach: »jetzt ist es nicht mehr so, aber es war früher so«.
»Es war einmal,« (das stets wiederkehrende paá der Tupílegenden) ist auch die Signatur der Indianer - »Märchen«. Der weitaus grösste Teil der Legenden will die Entstehung von irgend etwas erklären, es handelt sich also stets um Vor- gänge in alter Zeit, und da sie nun immer nur dadurch zu erklären sind, dass etwas Besonderes geschehen ist, so musste sich aus alledem die Anschauung fest- setzen, dass es einmal eine Zeit gegeben hat, wo das Aussergewöhnliche Regel war. Man gelangte mit der schönsten Logik der Welt zu Situationen, aus denen man immer nur durch menschliche Handlungen der Tiere den Ausweg fand, dann aber auch vortrefflich fand. Es ist sehr leicht, die Entstehung der häufig mit vielem Humor gewürzten Geschichten zu verstehen, wenn man nur die Pointe, die bewiesen wird, zum Ausgangspunkt nimmt; es ist ja klar, dass die zu erklärende Thatsache nicht zu der Geschichte gekommen sein kann, sondern nur die Ge- schichte zu der Thatsache.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0420"n="356"/><p>Der Wickelbär interessierte die Bakaïrí mehr als der verschollene Nachbar-<lb/>
stamm, und er blieb <hirendition="#g">durch die Jahrhunderte hindurch derselbe</hi>, er war<lb/>
der Herr des nördlichen Gebietes, und was dorther kam, ob Tabak oder Baum-<lb/>
wolle, stammte von ihm; Jäger, die einen Streifzug über die gewöhnlichen Grenzen<lb/>
hinaus nach Norden ausdehnten, fanden ihn dort oder er selbst machte gelegent-<lb/>
liche Besuche im Süden bei den Bakaïrí. Die Geschichte der Herkunft von<lb/>
medizinischem Tabak und Baumwolle wurde nach dem üblichen und natürlichen<lb/>
Schema, dass das charakteristische Tier als ursprünglicher Besitzer galt, behandelt:<lb/>
setzen wir, um den obigen Vergleich mit unserm ähnlichen Verfahren durchzuführen,<lb/>
Baumwolle und Tabak gleich zwei Krankheiten, so war der Bacillus legendarius der<lb/>
Wickelbär. Die von ihm erzählte Geschichte ist nur die Antwort auf die Frage:<lb/>
»wie kommt es, dass wir früher keinen Tabak hatten?« Zuerst hat man noch gewusst,<lb/>
»der und der bestimmte Stamm hat ihn uns gegeben«, dann vergass man im Lauf<lb/>
der Zeit Namen und nähere Umstände und eine spätere Generation hörte noch<lb/>
vielleicht, »wir haben ihn von irgend Jemanden dort, wo der Wickelbär lebt, be-<lb/>
kommen«, allein eine solche Auskunft musste dem üblichen Schema schon in dem<lb/>
Augenblick verfallen, wenn die liebe Neugier weiter fragte: »woher hatten denn<lb/>
jene Leute selbst den Tabak?« Da gab es, die Grundanschauung vorausgesetzt,<lb/>
keine bessere Antwort als »eben vom Wickelbär« und man war sehr zufrieden.</p><lb/><p>Ebenso wird, wie wir sehen werden, die Herkunft des gewöhnlichen Rauch-<lb/>
tabaks auf einen Fisch, der im Paranatinga nicht vorkommt, sondern im »Tabak-<lb/>
fluss« lebt, und die Herkunft der Mandioka auf einen ebenfalls im Paranatinga<lb/>
nicht vorkommenden Fisch, der den »Beijúfluss« bewohnte, zurückgeführt. Ich<lb/>
habe Antonio zuweilen — nicht oft, denn er wurde wie jeder Gläubige durch<lb/>
Zweifel, deren richtigen Kern er selbst nicht verkennen konnte, empfindlich be-<lb/>
rührt — meinen skeptischen Einwurf nicht vorenthalten. Dann schwieg er ent-<lb/>
weder verletzt, oder er erklärte den gegenwärtigen Zustand durch Verzauberung<lb/>
oder — und zwar in der Mehrzahl der Fälle — er sagte einfach: »jetzt ist es<lb/>
nicht mehr so, aber es war früher so«.</p><lb/><p>»Es war einmal,« (das stets wiederkehrende <hirendition="#i">paá</hi> der Tupílegenden) ist auch<lb/>
die Signatur der Indianer - »Märchen«. Der weitaus grösste Teil der Legenden<lb/>
will die Entstehung von irgend etwas erklären, es handelt sich also stets um Vor-<lb/>
gänge in alter Zeit, und da sie nun immer nur dadurch zu erklären sind, dass<lb/>
etwas Besonderes geschehen ist, so musste sich aus alledem die Anschauung fest-<lb/>
setzen, dass es einmal eine Zeit gegeben hat, wo das Aussergewöhnliche Regel<lb/>
war. Man gelangte mit der schönsten Logik der Welt zu Situationen, aus denen<lb/>
man immer nur durch menschliche Handlungen der Tiere den Ausweg fand, dann<lb/>
aber auch vortrefflich fand. Es ist sehr leicht, die Entstehung der häufig mit<lb/>
vielem Humor gewürzten Geschichten zu verstehen, wenn man nur die Pointe, die<lb/>
bewiesen wird, zum Ausgangspunkt nimmt; es ist ja klar, dass die zu erklärende<lb/>
Thatsache nicht zu der Geschichte gekommen sein kann, sondern nur die Ge-<lb/>
schichte zu der Thatsache.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[356/0420]
Der Wickelbär interessierte die Bakaïrí mehr als der verschollene Nachbar-
stamm, und er blieb durch die Jahrhunderte hindurch derselbe, er war
der Herr des nördlichen Gebietes, und was dorther kam, ob Tabak oder Baum-
wolle, stammte von ihm; Jäger, die einen Streifzug über die gewöhnlichen Grenzen
hinaus nach Norden ausdehnten, fanden ihn dort oder er selbst machte gelegent-
liche Besuche im Süden bei den Bakaïrí. Die Geschichte der Herkunft von
medizinischem Tabak und Baumwolle wurde nach dem üblichen und natürlichen
Schema, dass das charakteristische Tier als ursprünglicher Besitzer galt, behandelt:
setzen wir, um den obigen Vergleich mit unserm ähnlichen Verfahren durchzuführen,
Baumwolle und Tabak gleich zwei Krankheiten, so war der Bacillus legendarius der
Wickelbär. Die von ihm erzählte Geschichte ist nur die Antwort auf die Frage:
»wie kommt es, dass wir früher keinen Tabak hatten?« Zuerst hat man noch gewusst,
»der und der bestimmte Stamm hat ihn uns gegeben«, dann vergass man im Lauf
der Zeit Namen und nähere Umstände und eine spätere Generation hörte noch
vielleicht, »wir haben ihn von irgend Jemanden dort, wo der Wickelbär lebt, be-
kommen«, allein eine solche Auskunft musste dem üblichen Schema schon in dem
Augenblick verfallen, wenn die liebe Neugier weiter fragte: »woher hatten denn
jene Leute selbst den Tabak?« Da gab es, die Grundanschauung vorausgesetzt,
keine bessere Antwort als »eben vom Wickelbär« und man war sehr zufrieden.
Ebenso wird, wie wir sehen werden, die Herkunft des gewöhnlichen Rauch-
tabaks auf einen Fisch, der im Paranatinga nicht vorkommt, sondern im »Tabak-
fluss« lebt, und die Herkunft der Mandioka auf einen ebenfalls im Paranatinga
nicht vorkommenden Fisch, der den »Beijúfluss« bewohnte, zurückgeführt. Ich
habe Antonio zuweilen — nicht oft, denn er wurde wie jeder Gläubige durch
Zweifel, deren richtigen Kern er selbst nicht verkennen konnte, empfindlich be-
rührt — meinen skeptischen Einwurf nicht vorenthalten. Dann schwieg er ent-
weder verletzt, oder er erklärte den gegenwärtigen Zustand durch Verzauberung
oder — und zwar in der Mehrzahl der Fälle — er sagte einfach: »jetzt ist es
nicht mehr so, aber es war früher so«.
»Es war einmal,« (das stets wiederkehrende paá der Tupílegenden) ist auch
die Signatur der Indianer - »Märchen«. Der weitaus grösste Teil der Legenden
will die Entstehung von irgend etwas erklären, es handelt sich also stets um Vor-
gänge in alter Zeit, und da sie nun immer nur dadurch zu erklären sind, dass
etwas Besonderes geschehen ist, so musste sich aus alledem die Anschauung fest-
setzen, dass es einmal eine Zeit gegeben hat, wo das Aussergewöhnliche Regel
war. Man gelangte mit der schönsten Logik der Welt zu Situationen, aus denen
man immer nur durch menschliche Handlungen der Tiere den Ausweg fand, dann
aber auch vortrefflich fand. Es ist sehr leicht, die Entstehung der häufig mit
vielem Humor gewürzten Geschichten zu verstehen, wenn man nur die Pointe, die
bewiesen wird, zum Ausgangspunkt nimmt; es ist ja klar, dass die zu erklärende
Thatsache nicht zu der Geschichte gekommen sein kann, sondern nur die Ge-
schichte zu der Thatsache.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/420>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.