viele Leute, so siedelte man auf die Erde über und der Himmel stieg dahin empor, wo er jetzt ist, und wo die Tiere, die Oerter, die Sachen, die in den alten Geschichten vorkommen, noch heute zu sehen sind. "Alles ist geblieben, wie es war." "Bakairi hat es immer gegeben, aber im Anfang waren es sehr wenige." Man muss nur an einigen bestimmten Punkten festhalten und man erkennt trotz aller Spiele der Phantasie und trotz aller Verarbeitung durch die Tradition einen Kern naiver, gesunder Logik in der Naturerklärung des Indianers.
Die Indianer kennen kein Müssen. Sie betrachten jeden Vorgang in der Natur noch als einen Einzelvorgang oder richtiger als eine Einzelhandlung. Gesetze sind ja auch in der That nur durch die gemeinsame Arbeit Vieler -- solcher, die da leben und gelebt haben -- zu erkennen. Und solange es keine Gesetze und höchstens Gewohnheiten giebt, steht jeder Einzelne im Mittelpunkt der Welt, die nur die Gesamtheit seiner persönlichen Eindrücke darstellt. Nicht die Natur- erscheinung an und für sich mit ihren Bedingungen ist der Gegenstand des Nach- denkens, sondern der Eindruck, den man vor ihr empfängt; eine Geschichte genügt noch, sie zu erklären. Aus der Sprache erkennen wir denselben Zustand; jede Art hat ihren Namen, aber die Zahl der übergeordneten Begriffe ist äusserst gering. Gering ist also die Zahl der Scheidewände und Schubfächer und darum macht es nicht viel aus, wenn ein Ding aus dem einen Fach in ein anderes gerät. Es fällt entschieden auf, es ist etwas Besonderes geschehen, aber eine innere Unmöglichkeit ist nirgends vorhanden.
Man gestatte einen Vergleich mit dem undeutlichen Sehen. Fern auf dem Waldweg bemerken wir etwas, was wir genau zu erkennen noch gar nicht in der Lage sind. Jeder sieht, was er zu sehen erwartet -- einen Stein, ein Reh, einen Holzhaufen, eine Botenfrau, was weiss ich. Es regt uns an, wenn sich von den Gestalten im Wald auch eine vor unsern Augen in die andere verwandelt, aber -- und da liegt der grosse Unterschied -- wir glauben nicht an eine Verwandlung, sondern schliessen, dass wir uns beim ersten Anblick getäuscht haben, weil wir unsere Wahrnehmung sofort den uns bekannten allgemeinen, jene Möglichkeit ganz aus- schliessenden Gesetzen opfern. Doch können wir uns bei einer lebhaften Täuschung vielleicht vorstellen, dass unser Hindernis für unwissende Menschen nicht da ist. Ich hörte von einem Fall, dass ein flüchtiger Negersklave verfolgt wurde, er lief in ein kleines Dickicht, einen Capao; man suchte ihn vergeblich und fand nur eine grosse Jabuti-Schildkröte. Der Anführer der Leute nahm die Schildkröte auf sein Pferd, liess sie aber unterwegs aus Furcht fallen und gab sie frei: die ganze Gesellschaft schwor darauf, der Neger habe sich in die Schildkröte ver- wandelt. Dass man den Sklaven trotz emsigen Suchens nicht gefunden hatte, dass nur die Schildkröte zu entdecken war, diese persönliche Erfahrung ent- schied. Die Thatsache war einfach vorhanden; wenn sie ungewöhnlich war, so konnte man sie leicht dadurch erklären, dass der Neger ein Hexenmeister gewesen war.
viele Leute, so siedelte man auf die Erde über und der Himmel stieg dahin empor, wo er jetzt ist, und wo die Tiere, die Oerter, die Sachen, die in den alten Geschichten vorkommen, noch heute zu sehen sind. »Alles ist geblieben, wie es war.« »Bakaïrí hat es immer gegeben, aber im Anfang waren es sehr wenige.« Man muss nur an einigen bestimmten Punkten festhalten und man erkennt trotz aller Spiele der Phantasie und trotz aller Verarbeitung durch die Tradition einen Kern naiver, gesunder Logik in der Naturerklärung des Indianers.
Die Indianer kennen kein Müssen. Sie betrachten jeden Vorgang in der Natur noch als einen Einzelvorgang oder richtiger als eine Einzelhandlung. Gesetze sind ja auch in der That nur durch die gemeinsame Arbeit Vieler — solcher, die da leben und gelebt haben — zu erkennen. Und solange es keine Gesetze und höchstens Gewohnheiten giebt, steht jeder Einzelne im Mittelpunkt der Welt, die nur die Gesamtheit seiner persönlichen Eindrücke darstellt. Nicht die Natur- erscheinung an und für sich mit ihren Bedingungen ist der Gegenstand des Nach- denkens, sondern der Eindruck, den man vor ihr empfängt; eine Geschichte genügt noch, sie zu erklären. Aus der Sprache erkennen wir denselben Zustand; jede Art hat ihren Namen, aber die Zahl der übergeordneten Begriffe ist äusserst gering. Gering ist also die Zahl der Scheidewände und Schubfächer und darum macht es nicht viel aus, wenn ein Ding aus dem einen Fach in ein anderes gerät. Es fällt entschieden auf, es ist etwas Besonderes geschehen, aber eine innere Unmöglichkeit ist nirgends vorhanden.
Man gestatte einen Vergleich mit dem undeutlichen Sehen. Fern auf dem Waldweg bemerken wir etwas, was wir genau zu erkennen noch gar nicht in der Lage sind. Jeder sieht, was er zu sehen erwartet — einen Stein, ein Reh, einen Holzhaufen, eine Botenfrau, was weiss ich. Es regt uns an, wenn sich von den Gestalten im Wald auch eine vor unsern Augen in die andere verwandelt, aber — und da liegt der grosse Unterschied — wir glauben nicht an eine Verwandlung, sondern schliessen, dass wir uns beim ersten Anblick getäuscht haben, weil wir unsere Wahrnehmung sofort den uns bekannten allgemeinen, jene Möglichkeit ganz aus- schliessenden Gesetzen opfern. Doch können wir uns bei einer lebhaften Täuschung vielleicht vorstellen, dass unser Hindernis für unwissende Menschen nicht da ist. Ich hörte von einem Fall, dass ein flüchtiger Negersklave verfolgt wurde, er lief in ein kleines Dickicht, einen Capão; man suchte ihn vergeblich und fand nur eine grosse Jabutí-Schildkröte. Der Anführer der Leute nahm die Schildkröte auf sein Pferd, liess sie aber unterwegs aus Furcht fallen und gab sie frei: die ganze Gesellschaft schwor darauf, der Neger habe sich in die Schildkröte ver- wandelt. Dass man den Sklaven trotz emsigen Suchens nicht gefunden hatte, dass nur die Schildkröte zu entdecken war, diese persönliche Erfahrung ent- schied. Die Thatsache war einfach vorhanden; wenn sie ungewöhnlich war, so konnte man sie leicht dadurch erklären, dass der Neger ein Hexenmeister gewesen war.
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[350/0414]
viele Leute, so siedelte man auf die Erde über und der Himmel stieg dahin
empor, wo er jetzt ist, und wo die Tiere, die Oerter, die Sachen, die in den
alten Geschichten vorkommen, noch heute zu sehen sind. »Alles ist geblieben,
wie es war.« »Bakaïrí hat es immer gegeben, aber im Anfang waren es
sehr wenige.« Man muss nur an einigen bestimmten Punkten festhalten und
man erkennt trotz aller Spiele der Phantasie und trotz aller Verarbeitung durch
die Tradition einen Kern naiver, gesunder Logik in der Naturerklärung des
Indianers.
Die Indianer kennen kein Müssen. Sie betrachten jeden Vorgang in der
Natur noch als einen Einzelvorgang oder richtiger als eine Einzelhandlung. Gesetze
sind ja auch in der That nur durch die gemeinsame Arbeit Vieler — solcher, die
da leben und gelebt haben — zu erkennen. Und solange es keine Gesetze und
höchstens Gewohnheiten giebt, steht jeder Einzelne im Mittelpunkt der Welt, die
nur die Gesamtheit seiner persönlichen Eindrücke darstellt. Nicht die Natur-
erscheinung an und für sich mit ihren Bedingungen ist der Gegenstand des Nach-
denkens, sondern der Eindruck, den man vor ihr empfängt; eine Geschichte
genügt noch, sie zu erklären. Aus der Sprache erkennen wir denselben Zustand;
jede Art hat ihren Namen, aber die Zahl der übergeordneten Begriffe ist äusserst
gering. Gering ist also die Zahl der Scheidewände und Schubfächer und darum
macht es nicht viel aus, wenn ein Ding aus dem einen Fach in ein anderes gerät.
Es fällt entschieden auf, es ist etwas Besonderes geschehen, aber eine innere
Unmöglichkeit ist nirgends vorhanden.
Man gestatte einen Vergleich mit dem undeutlichen Sehen. Fern auf dem
Waldweg bemerken wir etwas, was wir genau zu erkennen noch gar nicht in der
Lage sind. Jeder sieht, was er zu sehen erwartet — einen Stein, ein Reh, einen
Holzhaufen, eine Botenfrau, was weiss ich. Es regt uns an, wenn sich von den
Gestalten im Wald auch eine vor unsern Augen in die andere verwandelt, aber
— und da liegt der grosse Unterschied — wir glauben nicht an eine Verwandlung,
sondern schliessen, dass wir uns beim ersten Anblick getäuscht haben, weil wir unsere
Wahrnehmung sofort den uns bekannten allgemeinen, jene Möglichkeit ganz aus-
schliessenden Gesetzen opfern. Doch können wir uns bei einer lebhaften Täuschung
vielleicht vorstellen, dass unser Hindernis für unwissende Menschen nicht da ist.
Ich hörte von einem Fall, dass ein flüchtiger Negersklave verfolgt wurde, er lief
in ein kleines Dickicht, einen Capão; man suchte ihn vergeblich und fand nur
eine grosse Jabutí-Schildkröte. Der Anführer der Leute nahm die Schildkröte
auf sein Pferd, liess sie aber unterwegs aus Furcht fallen und gab sie frei: die
ganze Gesellschaft schwor darauf, der Neger habe sich in die Schildkröte ver-
wandelt. Dass man den Sklaven trotz emsigen Suchens nicht gefunden hatte,
dass nur die Schildkröte zu entdecken war, diese persönliche Erfahrung ent-
schied. Die Thatsache war einfach vorhanden; wenn sie ungewöhnlich war,
so konnte man sie leicht dadurch erklären, dass der Neger ein Hexenmeister
gewesen war.
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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/414>, abgerufen am 24.11.2024.
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