stube eingerichtet, indem man von einem der Hauptpfosten aus zwei mannshohe Wände aus hängenden Buritiblättern nach der Aussenwand gespannt hatte. So war ein Kreisdreieck abgesperrt. Man erlaubte mir gern den Eintritt, damit ich dem Kinde Perlen schenke. Drinnen waren vier Hängematten ausgespannt, zwei Frauen mit Säuglingen und zwei Männer beherbergend. Starker Pikigeruch, von Einreibungen herrührend, erfüllte den Raum. Die Säuglinge waren kurapa, krank, schwach, wie die Eltern klagten. Die Mütter und Väter waren unausgesetzt thätig, sie anzublasen, und zwar in hohlklingenden Geräuschen mit fast ge- schlossenem Mund, die auch während der ganzen folgenden Nacht kaum einen Augenblick unterbrochen wurden. Die Ehemänner verliessen das Haus nur für die Befriedigung der Notdurft, sie lebten ausschliesslich von dünnem Pogu, in Wasser verkrümelten Mandiokafladen. Alles Andere würde dem Kind schaden; es wäre gerade so, als ob das Kind selbst Fleisch, Fisch oder Frucht esse.
Nun ist nichts naheliegender als die merkwürdige Sitte, die den Frauen zu Gute kommt, mit dem Jägerleben in Zusammenhang zu bringen; der Mann sollte Frau und Kind während der schweren Stunde und der ersten Tage nahe sein, und nicht draussen umherstreifen; dafür gab es kein besseres Mittel, als wenn man ihn auf Diät setzte. Und, wie auch die Sitte entstanden sein möge, dass sie diesen Vorteil darbot, ist klar, und es ist mindestens wohl verständlich, dass die Frauen ihr zugethan waren und sie sich fest einbürgerte. Allein am modernen Paranatinga, wo sie vernachlässigt wird, sind die Frauen unzufrieden, nicht weil sie, sondern weil die Kinder darunter litten. Wenn sie den Frauen nützte, so ist das auch kein Grund dafür, dass sich die Männer ihr unterworfen hätten. Und die Männer unterwerfen sich ihr doch so allgemein und mit solcher Ueberzeugung, dass man sieht, es handelt sich um ein tief eingewurzeltes, uraltes Element des Volksglaubens. Es ist sehr zweifelhaft, ob es überhaupt irgend einen brasilischen Indianerstamm giebt, der sie nicht geübt hätte. Man muss die Einrichtung mög- lichst an Stämmen untersuchen, die noch unter ungestörten Verhältnissen ange- troffen worden sind und nicht nur Reste der alten Einrichtungen bewahrt haben. Die Inselkaraiben assen und tranken gewöhnlich nichts in den ersten fünf Tagen, beschränkten sich die folgenden vier auf ein Getränk aus gekochter Mandioka, wurden dann üppiger, enthielten sich aber noch mehrere Monate einiger Fleisch- arten. "Es ist nicht wahrscheinlich", sagt der vortreffliche Pater Breton, "dass der Ehemann auch schreit wie die Frau in Kindsnöten, ich habe sie im Gegenteil heimlich und versteckter Weise von draussen kommen sehen, einen Monat nach der Geburt, um in der Zurückgezogenheit ihre Fasten zu begehen." Sie ver- achten diejenigen, die die Sitte nicht üben, erklären, sich selbst dabei besser zu befinden und älter zu werden, und glauben, dass ihre durch überflüssige Säfte erzeugten Krankheiten bei Unterlassung des Gebrauchs auf die Kinder übergingen.
Bei unsern Indianern besorgt der Vater das Kind, die Frau geht eher wieder an die Arbeit. Dass der Vater dabei viel in der Hängematte liegt, ver- steht sich bei dem Mangel an Nahrung und schon, weil er zu Hause bleibt, von
stube eingerichtet, indem man von einem der Hauptpfosten aus zwei mannshohe Wände aus hängenden Buritíblättern nach der Aussenwand gespannt hatte. So war ein Kreisdreieck abgesperrt. Man erlaubte mir gern den Eintritt, damit ich dem Kinde Perlen schenke. Drinnen waren vier Hängematten ausgespannt, zwei Frauen mit Säuglingen und zwei Männer beherbergend. Starker Pikígeruch, von Einreibungen herrührend, erfüllte den Raum. Die Säuglinge waren kurápa, krank, schwach, wie die Eltern klagten. Die Mütter und Väter waren unausgesetzt thätig, sie anzublasen, und zwar in hohlklingenden Geräuschen mit fast ge- schlossenem Mund, die auch während der ganzen folgenden Nacht kaum einen Augenblick unterbrochen wurden. Die Ehemänner verliessen das Haus nur für die Befriedigung der Notdurft, sie lebten ausschliesslich von dünnem Pogu, in Wasser verkrümelten Mandiokafladen. Alles Andere würde dem Kind schaden; es wäre gerade so, als ob das Kind selbst Fleisch, Fisch oder Frucht esse.
Nun ist nichts naheliegender als die merkwürdige Sitte, die den Frauen zu Gute kommt, mit dem Jägerleben in Zusammenhang zu bringen; der Mann sollte Frau und Kind während der schweren Stunde und der ersten Tage nahe sein, und nicht draussen umherstreifen; dafür gab es kein besseres Mittel, als wenn man ihn auf Diät setzte. Und, wie auch die Sitte entstanden sein möge, dass sie diesen Vorteil darbot, ist klar, und es ist mindestens wohl verständlich, dass die Frauen ihr zugethan waren und sie sich fest einbürgerte. Allein am modernen Paranatinga, wo sie vernachlässigt wird, sind die Frauen unzufrieden, nicht weil sie, sondern weil die Kinder darunter litten. Wenn sie den Frauen nützte, so ist das auch kein Grund dafür, dass sich die Männer ihr unterworfen hätten. Und die Männer unterwerfen sich ihr doch so allgemein und mit solcher Ueberzeugung, dass man sieht, es handelt sich um ein tief eingewurzeltes, uraltes Element des Volksglaubens. Es ist sehr zweifelhaft, ob es überhaupt irgend einen brasilischen Indianerstamm giebt, der sie nicht geübt hätte. Man muss die Einrichtung mög- lichst an Stämmen untersuchen, die noch unter ungestörten Verhältnissen ange- troffen worden sind und nicht nur Reste der alten Einrichtungen bewahrt haben. Die Inselkaraiben assen und tranken gewöhnlich nichts in den ersten fünf Tagen, beschränkten sich die folgenden vier auf ein Getränk aus gekochter Mandioka, wurden dann üppiger, enthielten sich aber noch mehrere Monate einiger Fleisch- arten. »Es ist nicht wahrscheinlich«, sagt der vortreffliche Pater Breton, »dass der Ehemann auch schreit wie die Frau in Kindsnöten, ich habe sie im Gegenteil heimlich und versteckter Weise von draussen kommen sehen, einen Monat nach der Geburt, um in der Zurückgezogenheit ihre Fasten zu begehen.« Sie ver- achten diejenigen, die die Sitte nicht üben, erklären, sich selbst dabei besser zu befinden und älter zu werden, und glauben, dass ihre durch überflüssige Säfte erzeugten Krankheiten bei Unterlassung des Gebrauchs auf die Kinder übergingen.
Bei unsern Indianern besorgt der Vater das Kind, die Frau geht eher wieder an die Arbeit. Dass der Vater dabei viel in der Hängematte liegt, ver- steht sich bei dem Mangel an Nahrung und schon, weil er zu Hause bleibt, von
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[335/0399]
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Wände aus hängenden Buritíblättern nach der Aussenwand gespannt hatte. So
war ein Kreisdreieck abgesperrt. Man erlaubte mir gern den Eintritt, damit ich
dem Kinde Perlen schenke. Drinnen waren vier Hängematten ausgespannt, zwei
Frauen mit Säuglingen und zwei Männer beherbergend. Starker Pikígeruch, von
Einreibungen herrührend, erfüllte den Raum. Die Säuglinge waren kurápa, krank,
schwach, wie die Eltern klagten. Die Mütter und Väter waren unausgesetzt
thätig, sie anzublasen, und zwar in hohlklingenden Geräuschen mit fast ge-
schlossenem Mund, die auch während der ganzen folgenden Nacht kaum einen
Augenblick unterbrochen wurden. Die Ehemänner verliessen das Haus nur für die
Befriedigung der Notdurft, sie lebten ausschliesslich von dünnem Pogu, in Wasser
verkrümelten Mandiokafladen. Alles Andere würde dem Kind schaden; es wäre
gerade so, als ob das Kind selbst Fleisch, Fisch oder Frucht esse.
Nun ist nichts naheliegender als die merkwürdige Sitte, die den Frauen zu
Gute kommt, mit dem Jägerleben in Zusammenhang zu bringen; der Mann sollte
Frau und Kind während der schweren Stunde und der ersten Tage nahe sein, und
nicht draussen umherstreifen; dafür gab es kein besseres Mittel, als wenn man
ihn auf Diät setzte. Und, wie auch die Sitte entstanden sein möge, dass sie
diesen Vorteil darbot, ist klar, und es ist mindestens wohl verständlich, dass die
Frauen ihr zugethan waren und sie sich fest einbürgerte. Allein am modernen
Paranatinga, wo sie vernachlässigt wird, sind die Frauen unzufrieden, nicht weil
sie, sondern weil die Kinder darunter litten. Wenn sie den Frauen nützte, so ist
das auch kein Grund dafür, dass sich die Männer ihr unterworfen hätten. Und
die Männer unterwerfen sich ihr doch so allgemein und mit solcher Ueberzeugung,
dass man sieht, es handelt sich um ein tief eingewurzeltes, uraltes Element des
Volksglaubens. Es ist sehr zweifelhaft, ob es überhaupt irgend einen brasilischen
Indianerstamm giebt, der sie nicht geübt hätte. Man muss die Einrichtung mög-
lichst an Stämmen untersuchen, die noch unter ungestörten Verhältnissen ange-
troffen worden sind und nicht nur Reste der alten Einrichtungen bewahrt haben.
Die Inselkaraiben assen und tranken gewöhnlich nichts in den ersten fünf Tagen,
beschränkten sich die folgenden vier auf ein Getränk aus gekochter Mandioka,
wurden dann üppiger, enthielten sich aber noch mehrere Monate einiger Fleisch-
arten. »Es ist nicht wahrscheinlich«, sagt der vortreffliche Pater Breton, »dass
der Ehemann auch schreit wie die Frau in Kindsnöten, ich habe sie im Gegenteil
heimlich und versteckter Weise von draussen kommen sehen, einen Monat nach
der Geburt, um in der Zurückgezogenheit ihre Fasten zu begehen.« Sie ver-
achten diejenigen, die die Sitte nicht üben, erklären, sich selbst dabei besser
zu befinden und älter zu werden, und glauben, dass ihre durch überflüssige Säfte
erzeugten Krankheiten bei Unterlassung des Gebrauchs auf die Kinder übergingen.
Bei unsern Indianern besorgt der Vater das Kind, die Frau geht eher
wieder an die Arbeit. Dass der Vater dabei viel in der Hängematte liegt, ver-
steht sich bei dem Mangel an Nahrung und schon, weil er zu Hause bleibt, von
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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/399>, abgerufen am 22.11.2024.
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