I. Eigentum. Verwandtschaft. Ehe. Moral. Tauschverkehr. Namen. Geburt. Couvade und deren Erklärung. Begräbnis. II. Hexerei in verschiedenen Stadien und auf verschiedenen Kulturstufen. Traumerlebnisse. Pars pro toto. Gute und böse Medizinmänner. Ihre Methoden. Sterben in der Narkose. Der Medizin- mann im Himmel. Tabak. Wetterbeschwörung.
I.
Die Grenzen zwischen den Gebieten der Stämme sind natürliche. "Dieser Bach gehört schon dem Nachbarstamm" wurden wir unterwegs regelmässig belehrt. Das eine Ufer des Kulisehu gehörte auch z. B. den Nahuqua, das andere den Mehinaku. Der Fischfang mit Pfeil und Bogen auf dem Fluss stand Jedermann frei.
Die Pflanzung war gemeinsames Eigentum, im Haus hatte Jeder persönliches Eigentum, auch die Frauen, die wir oft Einspruch erheben sahen, dass man uns davon gebe; man vererbte es auf seine Kinder, Söhne und Töchter. Häufig aber beobachteten wir, dass Personen, denen wir Perlen und dgl. gegeben hatten, sie an den Häuptling abliefern mussten.
Die Gewalt des Häuptlings war nicht gross. Es gab in allen grösseren Dörfern mehrere Häuptlinge, die in verschiedenen Häusern wohnten; uns gegen- über repräsentierte immer nur Einer. "Repräsentation" war die wichtigste Ver- pflichtung in Friedenszeit. Der Häuptling hatte die Leitung der Pflanzgeschäfte, er sorgte dafür, dass der nötige Mehlvorrat angelegt wurde, er liess die Beijus backen und die Getränke zubereiten bei allen festlichen Gelegenheiten und bei Fremdenbesuch. Er war offenbar ein Hausvater in grösserm Stil, durfte aber nicht sehr sparsam sein, wenn ihm um die Wertschätzung seiner Mitbürger, ge- schweige seiner Stammesnachbarn, zu thun war. So war der Häuptling des ersten Batovydorfes "kurapa", schlecht = geizig. Er liess nur wenige Beijus für die Gäste backen. Geiz gilt als hässlichste Eigenschaft. Aber diese Art Regieren muss schwer sein. Antonio erzählte mir von einem gewissen Joao Cadete im Paranatingadorf, der an der Reihe war, Häuptling zu werden, lieber aber aus- wanderte "com medo de tratar gente", in der Angst, Leute bewirten zu müssen,
XII. KAPITEL. I. Recht und Sitte. II. Zauberei.
I. Eigentum. Verwandtschaft. Ehe. Moral. Tauschverkehr. Namen. Geburt. Couvade und deren Erklärung. Begräbnis. II. Hexerei in verschiedenen Stadien und auf verschiedenen Kulturstufen. Traumerlebnisse. Pars pro toto. Gute und böse Medizinmänner. Ihre Methoden. Sterben in der Narkose. Der Medizin- mann im Himmel. Tabak. Wetterbeschwörung.
I.
Die Grenzen zwischen den Gebieten der Stämme sind natürliche. »Dieser Bach gehört schon dem Nachbarstamm« wurden wir unterwegs regelmässig belehrt. Das eine Ufer des Kulisehu gehörte auch z. B. den Nahuquá, das andere den Mehinakú. Der Fischfang mit Pfeil und Bogen auf dem Fluss stand Jedermann frei.
Die Pflanzung war gemeinsames Eigentum, im Haus hatte Jeder persönliches Eigentum, auch die Frauen, die wir oft Einspruch erheben sahen, dass man uns davon gebe; man vererbte es auf seine Kinder, Söhne und Töchter. Häufig aber beobachteten wir, dass Personen, denen wir Perlen und dgl. gegeben hatten, sie an den Häuptling abliefern mussten.
Die Gewalt des Häuptlings war nicht gross. Es gab in allen grösseren Dörfern mehrere Häuptlinge, die in verschiedenen Häusern wohnten; uns gegen- über repräsentierte immer nur Einer. »Repräsentation« war die wichtigste Ver- pflichtung in Friedenszeit. Der Häuptling hatte die Leitung der Pflanzgeschäfte, er sorgte dafür, dass der nötige Mehlvorrat angelegt wurde, er liess die Beijús backen und die Getränke zubereiten bei allen festlichen Gelegenheiten und bei Fremdenbesuch. Er war offenbar ein Hausvater in grösserm Stil, durfte aber nicht sehr sparsam sein, wenn ihm um die Wertschätzung seiner Mitbürger, ge- schweige seiner Stammesnachbarn, zu thun war. So war der Häuptling des ersten Batovydorfes „kurápa“, schlecht = geizig. Er liess nur wenige Beijús für die Gäste backen. Geiz gilt als hässlichste Eigenschaft. Aber diese Art Regieren muss schwer sein. Antonio erzählte mir von einem gewissen João Cadete im Paranatingadorf, der an der Reihe war, Häuptling zu werden, lieber aber aus- wanderte »com medo de tratar gente«, in der Angst, Leute bewirten zu müssen,
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I. Recht und Sitte. II. Zauberei.
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Erklärung. Begräbnis.
II. Hexerei in verschiedenen Stadien und auf verschiedenen Kulturstufen. Traumerlebnisse. Pars
pro toto. Gute und böse Medizinmänner. Ihre Methoden. Sterben in der Narkose. Der Medizin-
mann im Himmel. Tabak. Wetterbeschwörung.
I.
Die Grenzen zwischen den Gebieten der Stämme sind natürliche. »Dieser
Bach gehört schon dem Nachbarstamm« wurden wir unterwegs regelmässig belehrt.
Das eine Ufer des Kulisehu gehörte auch z. B. den Nahuquá, das andere den
Mehinakú. Der Fischfang mit Pfeil und Bogen auf dem Fluss stand Jedermann frei.
Die Pflanzung war gemeinsames Eigentum, im Haus hatte Jeder persönliches
Eigentum, auch die Frauen, die wir oft Einspruch erheben sahen, dass man uns
davon gebe; man vererbte es auf seine Kinder, Söhne und Töchter. Häufig aber
beobachteten wir, dass Personen, denen wir Perlen und dgl. gegeben hatten, sie
an den Häuptling abliefern mussten.
Die Gewalt des Häuptlings war nicht gross. Es gab in allen grösseren
Dörfern mehrere Häuptlinge, die in verschiedenen Häusern wohnten; uns gegen-
über repräsentierte immer nur Einer. »Repräsentation« war die wichtigste Ver-
pflichtung in Friedenszeit. Der Häuptling hatte die Leitung der Pflanzgeschäfte,
er sorgte dafür, dass der nötige Mehlvorrat angelegt wurde, er liess die Beijús
backen und die Getränke zubereiten bei allen festlichen Gelegenheiten und bei
Fremdenbesuch. Er war offenbar ein Hausvater in grösserm Stil, durfte aber
nicht sehr sparsam sein, wenn ihm um die Wertschätzung seiner Mitbürger, ge-
schweige seiner Stammesnachbarn, zu thun war. So war der Häuptling des
ersten Batovydorfes „kurápa“, schlecht = geizig. Er liess nur wenige Beijús für
die Gäste backen. Geiz gilt als hässlichste Eigenschaft. Aber diese Art Regieren
muss schwer sein. Antonio erzählte mir von einem gewissen João Cadete im
Paranatingadorf, der an der Reihe war, Häuptling zu werden, lieber aber aus-
wanderte »com medo de tratar gente«, in der Angst, Leute bewirten zu müssen,
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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. [330]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/394>, abgerufen am 22.11.2024.
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