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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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begraben werden. Der Püserego des Schingu hat keine berauschende Wirkung, er
stellt nur das schmackhafteste Breigetränk dar, er ist eine Suppe, kein Alkoholikum.
Man bereitete auch keinen Palmwein; man berauschte sich nur am Tanz, wenn
man will, am Tabak, und leistete das Menschenmögliche in quantitativer Ver-
tilgung der Breigetränke. Dagegen ist das Wort der Kamayura kaui für den
einfachen Erfrischungstrank aus Wasser und eingebrocktem Beiju dasselbe Kauim,
das ihre mit Europäern oder mit fortgeschritteneren Amerikanern verkehrenden
Tupi-Stammesgenossen für die gährenden Getränke gebrauchen und also aus den
Tagen der Unschuld beim Uebergang zu weniger harmlosen Genüssen noch bei-
behalten haben. Das Fehlen von berauschenden Getränken, für die der Stoff
vorhanden ist, wird nicht der immer bereiten Deutung entgehen, dass die Indianer
auch diese schönen Kulturerzeugnisse früher besessen und jetzt nur vergessen
hätten, und sollte dann nur den, der die primitiven Zustände ausnahmslos auf
Rückschritt und Niedergang zurückführen will, in diesem besondern Fall vielleicht
einmal veranlassen, eine Verrohung zur Tugend, eine Verwilderung zur Sitten-
reinheit anzusetzen. Wer indessen in Brasilien den Indianer Kauim- oder Kaschiri-
gelage hat feiern sehen, wer seine Bootsfahrt um dieses edlen Zweckes willen hat
unterbrechen müssen und weder durch Geld noch durch gute Worte erreichen
konnte, dass die Leute eher aufbrachen, als bis der letzte Tropfen aus dem
hochgefüllten Trinkkanu verschwunden war, wird nicht anders glauben, als dass
ein freier Stamm, der bei seinen Festen wirklich nur ungegohrene Getränke ver-
tilgt, von den gegohrenen entschieden noch keine Ahnung haben und auch bis
auf die sagenhaftesten Urväter und Kulturheroen zurück niemals eine Ahnung
gehabt haben kann. Die Praxis, Gähren durch Kauen hervorzurufen, ist so ein-
fach, dass man nicht versteht, wie sie zu vergessen wäre, und obendrein von
Vertretern verschiedener Stammesgruppen gleichmässig vergessen werden sollte.

Ich finde umgekehrt in dem Fehlen der berauschenden Getränke die sicherste
Bürgschaft für die Unberührtheit der Verhältnisse am Schingu, und halte es für
eine unabweisliche Annahme, dass in gleicher Weise vor dem Einbrechen der
Europäer ähnliche Kulturbildchen der "Steinzeit" in den zahlreichen, verhältnis-
mässig abgeschlossenen Flussthälern des Amazonas- und Orinokosystems seit
Jahrhunderten und Jahrtausenden häufig gewesen sein müssen. Nicht immer hat
man sich mit der Nachbarschaft (Frauen! Steinbeile!) vertragen, gelegentlich sind
auch Störenfriede eingefallen, haben vielleicht eines der kleinen Zentren für die
Dauer vernichtet, dafür sind andere neu gegründet worden, und so hat sich im
Kleinen und Bescheidenen immer und alle Zeit das abgespielt, was wir Geschichte
nennen. Hier und da ist ein Stamm durch Angreifer vertrieben oder durch innere
Fehden gespalten worden, eine längere Wanderung fand statt, ehe wieder An-
siedelung erfolgte, aber im Allgemeinen hat man sich von Flussthal zu Flussthal
verschoben und durchsetzt.

Nur ein ewiger Wechsel von Isolierung und Vereinigung, in dem bald diese,
bald jene schärfer ausgeprägt war, kann die Menge gleichzeitiger linguistischer

begraben werden. Der Püserego des Schingú hat keine berauschende Wirkung, er
stellt nur das schmackhafteste Breigetränk dar, er ist eine Suppe, kein Alkoholikum.
Man bereitete auch keinen Palmwein; man berauschte sich nur am Tanz, wenn
man will, am Tabak, und leistete das Menschenmögliche in quantitativer Ver-
tilgung der Breigetränke. Dagegen ist das Wort der Kamayurá kaui für den
einfachen Erfrischungstrank aus Wasser und eingebrocktem Beijú dasselbe Kauim,
das ihre mit Europäern oder mit fortgeschritteneren Amerikanern verkehrenden
Tupí-Stammesgenossen für die gährenden Getränke gebrauchen und also aus den
Tagen der Unschuld beim Uebergang zu weniger harmlosen Genüssen noch bei-
behalten haben. Das Fehlen von berauschenden Getränken, für die der Stoff
vorhanden ist, wird nicht der immer bereiten Deutung entgehen, dass die Indianer
auch diese schönen Kulturerzeugnisse früher besessen und jetzt nur vergessen
hätten, und sollte dann nur den, der die primitiven Zustände ausnahmslos auf
Rückschritt und Niedergang zurückführen will, in diesem besondern Fall vielleicht
einmal veranlassen, eine Verrohung zur Tugend, eine Verwilderung zur Sitten-
reinheit anzusetzen. Wer indessen in Brasilien den Indianer Kauim- oder Kaschirí-
gelage hat feiern sehen, wer seine Bootsfahrt um dieses edlen Zweckes willen hat
unterbrechen müssen und weder durch Geld noch durch gute Worte erreichen
konnte, dass die Leute eher aufbrachen, als bis der letzte Tropfen aus dem
hochgefüllten Trinkkanu verschwunden war, wird nicht anders glauben, als dass
ein freier Stamm, der bei seinen Festen wirklich nur ungegohrene Getränke ver-
tilgt, von den gegohrenen entschieden noch keine Ahnung haben und auch bis
auf die sagenhaftesten Urväter und Kulturheroen zurück niemals eine Ahnung
gehabt haben kann. Die Praxis, Gähren durch Kauen hervorzurufen, ist so ein-
fach, dass man nicht versteht, wie sie zu vergessen wäre, und obendrein von
Vertretern verschiedener Stammesgruppen gleichmässig vergessen werden sollte.

Ich finde umgekehrt in dem Fehlen der berauschenden Getränke die sicherste
Bürgschaft für die Unberührtheit der Verhältnisse am Schingú, und halte es für
eine unabweisliche Annahme, dass in gleicher Weise vor dem Einbrechen der
Europäer ähnliche Kulturbildchen der »Steinzeit« in den zahlreichen, verhältnis-
mässig abgeschlossenen Flussthälern des Amazonas- und Orinokosystems seit
Jahrhunderten und Jahrtausenden häufig gewesen sein müssen. Nicht immer hat
man sich mit der Nachbarschaft (Frauen! Steinbeile!) vertragen, gelegentlich sind
auch Störenfriede eingefallen, haben vielleicht eines der kleinen Zentren für die
Dauer vernichtet, dafür sind andere neu gegründet worden, und so hat sich im
Kleinen und Bescheidenen immer und alle Zeit das abgespielt, was wir Geschichte
nennen. Hier und da ist ein Stamm durch Angreifer vertrieben oder durch innere
Fehden gespalten worden, eine längere Wanderung fand statt, ehe wieder An-
siedelung erfolgte, aber im Allgemeinen hat man sich von Flussthal zu Flussthal
verschoben und durchsetzt.

Nur ein ewiger Wechsel von Isolierung und Vereinigung, in dem bald diese,
bald jene schärfer ausgeprägt war, kann die Menge gleichzeitiger linguistischer

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[213/0257] begraben werden. Der Püserego des Schingú hat keine berauschende Wirkung, er stellt nur das schmackhafteste Breigetränk dar, er ist eine Suppe, kein Alkoholikum. Man bereitete auch keinen Palmwein; man berauschte sich nur am Tanz, wenn man will, am Tabak, und leistete das Menschenmögliche in quantitativer Ver- tilgung der Breigetränke. Dagegen ist das Wort der Kamayurá kaui für den einfachen Erfrischungstrank aus Wasser und eingebrocktem Beijú dasselbe Kauim, das ihre mit Europäern oder mit fortgeschritteneren Amerikanern verkehrenden Tupí-Stammesgenossen für die gährenden Getränke gebrauchen und also aus den Tagen der Unschuld beim Uebergang zu weniger harmlosen Genüssen noch bei- behalten haben. Das Fehlen von berauschenden Getränken, für die der Stoff vorhanden ist, wird nicht der immer bereiten Deutung entgehen, dass die Indianer auch diese schönen Kulturerzeugnisse früher besessen und jetzt nur vergessen hätten, und sollte dann nur den, der die primitiven Zustände ausnahmslos auf Rückschritt und Niedergang zurückführen will, in diesem besondern Fall vielleicht einmal veranlassen, eine Verrohung zur Tugend, eine Verwilderung zur Sitten- reinheit anzusetzen. Wer indessen in Brasilien den Indianer Kauim- oder Kaschirí- gelage hat feiern sehen, wer seine Bootsfahrt um dieses edlen Zweckes willen hat unterbrechen müssen und weder durch Geld noch durch gute Worte erreichen konnte, dass die Leute eher aufbrachen, als bis der letzte Tropfen aus dem hochgefüllten Trinkkanu verschwunden war, wird nicht anders glauben, als dass ein freier Stamm, der bei seinen Festen wirklich nur ungegohrene Getränke ver- tilgt, von den gegohrenen entschieden noch keine Ahnung haben und auch bis auf die sagenhaftesten Urväter und Kulturheroen zurück niemals eine Ahnung gehabt haben kann. Die Praxis, Gähren durch Kauen hervorzurufen, ist so ein- fach, dass man nicht versteht, wie sie zu vergessen wäre, und obendrein von Vertretern verschiedener Stammesgruppen gleichmässig vergessen werden sollte. Ich finde umgekehrt in dem Fehlen der berauschenden Getränke die sicherste Bürgschaft für die Unberührtheit der Verhältnisse am Schingú, und halte es für eine unabweisliche Annahme, dass in gleicher Weise vor dem Einbrechen der Europäer ähnliche Kulturbildchen der »Steinzeit« in den zahlreichen, verhältnis- mässig abgeschlossenen Flussthälern des Amazonas- und Orinokosystems seit Jahrhunderten und Jahrtausenden häufig gewesen sein müssen. Nicht immer hat man sich mit der Nachbarschaft (Frauen! Steinbeile!) vertragen, gelegentlich sind auch Störenfriede eingefallen, haben vielleicht eines der kleinen Zentren für die Dauer vernichtet, dafür sind andere neu gegründet worden, und so hat sich im Kleinen und Bescheidenen immer und alle Zeit das abgespielt, was wir Geschichte nennen. Hier und da ist ein Stamm durch Angreifer vertrieben oder durch innere Fehden gespalten worden, eine längere Wanderung fand statt, ehe wieder An- siedelung erfolgte, aber im Allgemeinen hat man sich von Flussthal zu Flussthal verschoben und durchsetzt. Nur ein ewiger Wechsel von Isolierung und Vereinigung, in dem bald diese, bald jene schärfer ausgeprägt war, kann die Menge gleichzeitiger linguistischer

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/257>, abgerufen am 22.11.2024.