Grenze für jedes Einzeleigenthum ist jetzt jener unbestimmte und unbe- stimmbare allgemeine Nutzen; der vagen Vorstellung desselben beugt sich jeder Staatsbürger; aber wenn jenes "allgemeine Wohl" das Staats- bürgerthum in seiner materiellen Grundlage selbst, dem Besitze, eigent- lich ohne alle Grenzen bedroht, so ist in Wahrheit die Rechtsbildung der staatsbürgerlichen Gesellschaft bei dem Punkte angelangt, wo sie ihre eigene Grundlage angreift, die Freiheit des Einzelnen. So organisch und nothwendig daher an sich das Rechtsprincip der Enteignung ist, so fordert es dennoch, einmal anerkannt, auch seine Grenze. Damit tritt denn die Epoche ein, welche aus dem rein verordnungsmäßigen ein System des gesetzmäßigen Enteignungsrechts bilden will, indem sie das Verfahren der Verwaltung bei der Enteignung gesetzlich formulirt und somit die große Frage zu lösen sucht, wo auf jedem einzelnen Punkte jene Grenze zwischen den Forderungen des "allgemeinen Wohles" und der individuellen Selbständigkeit zu setzen sei. Und die Lösung dieser Aufgabe bildet den Inhalt der dritten Epoche des Enteignungsrechts.
Wir nennen diese dritte Epoche wohl am besten die des ver- fassungsmäßigen Enteignungsrechts. Denn die erste Forde- rung dieser Zeit ist es, die Aufhebung des Einzeleigenthums nicht mehr von dem rein subjektiven Ermessen der Behörde abhängig zu machen, sondern das ganze Enteignungswesen zu einem gesetzlichen Ver- waltungsrecht zu erheben. Erst nachdem die abstrakte Forderung feststeht, daß jede Enteignung auf Grundlage eines Gesetzes geschehen müsse, tritt die zweite Frage ein, welchen Inhalt dieses Gesetz haben solle. Der Proceß nun, vermöge dessen sich aus jenem Princip eine systematische, das ganze Enteignungswesen umfassende Gesetzgebung ge- bildet hat, bezieht sich demgemäß zuerst auf das Princip der Gesetz- mäßigkeit der Enteignung, dann auf die Entwicklung dieses Princips zu einer systematischen Enteignungsgesetzgebung. Demgemäß hat derselbe zwei Hauptabschnitte, die zwar verschiedene Gestalt, aber doch im Wesentlichen denselben Inhalt haben. Auch hier daher muß das vollständige Bild erst durch die Darstellung der einzelnen Rechtsbildungen in den einzelnen Staaten gegeben werden, was wir unten versuchen werden. Dennoch ist es keine Frage, daß in wenig andern Gebieten des Verwaltungsrechts eine solche Gleichartigkeit der ganzen Rechts- bildung stattgefunden hat, als hier. Und es ist daher zur richtigen Beurtheilung dieses wichtigen Gebietes der europäischen Rechtsgeschichte von entscheidender Wichtigkeit, die allgemeinen Elemente und Stadien seiner Entwicklung festzustellen, als den großen Hintergrund, auf welchem sich die Individualität der einzelnen Staaten dann mit voller Klarheit abzeichnet.
Grenze für jedes Einzeleigenthum iſt jetzt jener unbeſtimmte und unbe- ſtimmbare allgemeine Nutzen; der vagen Vorſtellung deſſelben beugt ſich jeder Staatsbürger; aber wenn jenes „allgemeine Wohl“ das Staats- bürgerthum in ſeiner materiellen Grundlage ſelbſt, dem Beſitze, eigent- lich ohne alle Grenzen bedroht, ſo iſt in Wahrheit die Rechtsbildung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft bei dem Punkte angelangt, wo ſie ihre eigene Grundlage angreift, die Freiheit des Einzelnen. So organiſch und nothwendig daher an ſich das Rechtsprincip der Enteignung iſt, ſo fordert es dennoch, einmal anerkannt, auch ſeine Grenze. Damit tritt denn die Epoche ein, welche aus dem rein verordnungsmäßigen ein Syſtem des geſetzmäßigen Enteignungsrechts bilden will, indem ſie das Verfahren der Verwaltung bei der Enteignung geſetzlich formulirt und ſomit die große Frage zu löſen ſucht, wo auf jedem einzelnen Punkte jene Grenze zwiſchen den Forderungen des „allgemeinen Wohles“ und der individuellen Selbſtändigkeit zu ſetzen ſei. Und die Löſung dieſer Aufgabe bildet den Inhalt der dritten Epoche des Enteignungsrechts.
Wir nennen dieſe dritte Epoche wohl am beſten die des ver- faſſungsmäßigen Enteignungsrechts. Denn die erſte Forde- rung dieſer Zeit iſt es, die Aufhebung des Einzeleigenthums nicht mehr von dem rein ſubjektiven Ermeſſen der Behörde abhängig zu machen, ſondern das ganze Enteignungsweſen zu einem geſetzlichen Ver- waltungsrecht zu erheben. Erſt nachdem die abſtrakte Forderung feſtſteht, daß jede Enteignung auf Grundlage eines Geſetzes geſchehen müſſe, tritt die zweite Frage ein, welchen Inhalt dieſes Geſetz haben ſolle. Der Proceß nun, vermöge deſſen ſich aus jenem Princip eine ſyſtematiſche, das ganze Enteignungsweſen umfaſſende Geſetzgebung ge- bildet hat, bezieht ſich demgemäß zuerſt auf das Princip der Geſetz- mäßigkeit der Enteignung, dann auf die Entwicklung dieſes Princips zu einer ſyſtematiſchen Enteignungsgeſetzgebung. Demgemäß hat derſelbe zwei Hauptabſchnitte, die zwar verſchiedene Geſtalt, aber doch im Weſentlichen denſelben Inhalt haben. Auch hier daher muß das vollſtändige Bild erſt durch die Darſtellung der einzelnen Rechtsbildungen in den einzelnen Staaten gegeben werden, was wir unten verſuchen werden. Dennoch iſt es keine Frage, daß in wenig andern Gebieten des Verwaltungsrechts eine ſolche Gleichartigkeit der ganzen Rechts- bildung ſtattgefunden hat, als hier. Und es iſt daher zur richtigen Beurtheilung dieſes wichtigen Gebietes der europäiſchen Rechtsgeſchichte von entſcheidender Wichtigkeit, die allgemeinen Elemente und Stadien ſeiner Entwicklung feſtzuſtellen, als den großen Hintergrund, auf welchem ſich die Individualität der einzelnen Staaten dann mit voller Klarheit abzeichnet.
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Grenze für jedes Einzeleigenthum iſt jetzt jener unbeſtimmte und unbe-
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jeder Staatsbürger; aber wenn jenes „allgemeine Wohl“ das Staats-
bürgerthum in ſeiner materiellen Grundlage ſelbſt, dem Beſitze, eigent-
lich ohne alle Grenzen bedroht, ſo iſt in Wahrheit die Rechtsbildung
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft bei dem Punkte angelangt, wo ſie
ihre eigene Grundlage angreift, die Freiheit des Einzelnen. So organiſch
und nothwendig daher an ſich das Rechtsprincip der Enteignung iſt,
ſo fordert es dennoch, einmal anerkannt, auch ſeine Grenze. Damit
tritt denn die Epoche ein, welche aus dem rein verordnungsmäßigen ein
Syſtem des geſetzmäßigen Enteignungsrechts bilden will, indem
ſie das Verfahren der Verwaltung bei der Enteignung geſetzlich formulirt
und ſomit die große Frage zu löſen ſucht, wo auf jedem einzelnen
Punkte jene Grenze zwiſchen den Forderungen des „allgemeinen Wohles“
und der individuellen Selbſtändigkeit zu ſetzen ſei. Und die Löſung dieſer
Aufgabe bildet den Inhalt der dritten Epoche des Enteignungsrechts.
Wir nennen dieſe dritte Epoche wohl am beſten die des ver-
faſſungsmäßigen Enteignungsrechts. Denn die erſte Forde-
rung dieſer Zeit iſt es, die Aufhebung des Einzeleigenthums nicht mehr
von dem rein ſubjektiven Ermeſſen der Behörde abhängig zu machen,
ſondern das ganze Enteignungsweſen zu einem geſetzlichen Ver-
waltungsrecht zu erheben. Erſt nachdem die abſtrakte Forderung
feſtſteht, daß jede Enteignung auf Grundlage eines Geſetzes geſchehen
müſſe, tritt die zweite Frage ein, welchen Inhalt dieſes Geſetz haben
ſolle. Der Proceß nun, vermöge deſſen ſich aus jenem Princip eine
ſyſtematiſche, das ganze Enteignungsweſen umfaſſende Geſetzgebung ge-
bildet hat, bezieht ſich demgemäß zuerſt auf das Princip der Geſetz-
mäßigkeit der Enteignung, dann auf die Entwicklung dieſes Princips
zu einer ſyſtematiſchen Enteignungsgeſetzgebung. Demgemäß hat
derſelbe zwei Hauptabſchnitte, die zwar verſchiedene Geſtalt, aber doch
im Weſentlichen denſelben Inhalt haben. Auch hier daher muß das
vollſtändige Bild erſt durch die Darſtellung der einzelnen Rechtsbildungen
in den einzelnen Staaten gegeben werden, was wir unten verſuchen
werden. Dennoch iſt es keine Frage, daß in wenig andern Gebieten
des Verwaltungsrechts eine ſolche Gleichartigkeit der ganzen Rechts-
bildung ſtattgefunden hat, als hier. Und es iſt daher zur richtigen
Beurtheilung dieſes wichtigen Gebietes der europäiſchen Rechtsgeſchichte
von entſcheidender Wichtigkeit, die allgemeinen Elemente und Stadien
ſeiner Entwicklung feſtzuſtellen, als den großen Hintergrund, auf welchem
ſich die Individualität der einzelnen Staaten dann mit voller Klarheit
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/324>, abgerufen am 22.11.2024.
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