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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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theilung tritt zurück vor dem der bedingten; und diese Bedingung
wird der Wille der Betheiligten, der Beschluß der Gemeindemajorität.
Das preußische Gemeinheitstheilungsgesetz von 1820 ist das erste auf
dem Continente, das diesen Grundsatz ausspricht; England hat denselben
schon im vorigen Jahrhundert anerkannt (s. unten.) Allein auch dieser
Standpunkt hat nicht minder große Bedenken. Soll und kann die rein
quantitative Majorität eines Augenblicks über die ganze Zukunft der
Gemeinde entscheiden? Ist es richtig, die auf einem ganz andern Stand-
punkt stehenden römischen Begriffe und Rechtssätze der actio communi
dividundo
hier gelten zu lassen? Ist es wahr, daß die Interessen Aller
am besten gewahrt werden, wenn die Interessen der Majorität zur
Geltung kommen? Ohne Zweifel ist es ein großer Fortschritt, daß die
Stimme der Gemeinde überhaupt gehört wird; aber ist denn diese Ge-
meinde in der That nichts anderes, als die Summe der Besitzenden
in der Gemeinde? Und enthält jenes preußische Princip nicht die Ent-
scheidung über die ernsteste aller Vorfragen, ob denn wirklich nur die
Grundbesitzenden eine Berechtigung an dem Eigenthum haben, das fast
immer das einzige Eigenthum der Gemeinde selbst ist?

Es ist, wenn man diese Gesichtspunkte vorurtheilsfrei erwägt, kaum
zweifelhaft, daß hier ein neuer Faktor in den Vordergrund tritt, der
mit der ganzen Entwicklung des inneren Lebens der Staaten Europas
und ihrer Befreiung von der Geschlechterherrschaft im inneren, tiefen
Zusammenhang steht. Das ist eben das Wesen der Gemeinde selbst.
Die Dorfgemeinde der Geschlechterordnung ist eigentlich mit wenig Aus-
nahmen eine andere Form der Herrschaft; sie hat als öffentlich recht-
liches Organ so gut als gar keine Stellung und Stimme; sie hat so
gut als gar keine Funktionen, so gut als gar keine Rechte. Zwischen
ihr und dem Staate steht der Grundherr, er ist der Träger, der Be-
sitzer der örtlichen Regierung und all ihrer Thätigkeit. Die Land-
gemeinde ist zwar ein Objekt, aber sie ist als solche kein Organ der
Verwaltung.

Das nun ist es, was sich mit dem 19. Jahrhundert ändert. Auch
die Landgemeinde löst sich allmählig in Deutschland von der Grund-
herrschaft los; wir haben gesehen, wie die Entlastung, wenn auch stück-
weise und unvollkommen, zu wirken beginnt; sie selbst aber ist nicht
bloß negativ die Befreiung von den Grundlasten, sie ist eben so sehr
positiv die Schöpfung eines selbständigen Verwaltungskörpers in den
neuen Gemeinden mit freien, aber eben dadurch auch für die Aufgaben
der inneren Verwaltung verantwortlichen Gemeindegliedern. Der Guts-
herr ist beseitigt, aber mit ihm ist nun auch derjenige beseitigt, auf
dem mit dem Rechte zugleich die Last der Verpflichtungen lag, welche

theilung tritt zurück vor dem der bedingten; und dieſe Bedingung
wird der Wille der Betheiligten, der Beſchluß der Gemeindemajorität.
Das preußiſche Gemeinheitstheilungsgeſetz von 1820 iſt das erſte auf
dem Continente, das dieſen Grundſatz ausſpricht; England hat denſelben
ſchon im vorigen Jahrhundert anerkannt (ſ. unten.) Allein auch dieſer
Standpunkt hat nicht minder große Bedenken. Soll und kann die rein
quantitative Majorität eines Augenblicks über die ganze Zukunft der
Gemeinde entſcheiden? Iſt es richtig, die auf einem ganz andern Stand-
punkt ſtehenden römiſchen Begriffe und Rechtsſätze der actio communi
dividundo
hier gelten zu laſſen? Iſt es wahr, daß die Intereſſen Aller
am beſten gewahrt werden, wenn die Intereſſen der Majorität zur
Geltung kommen? Ohne Zweifel iſt es ein großer Fortſchritt, daß die
Stimme der Gemeinde überhaupt gehört wird; aber iſt denn dieſe Ge-
meinde in der That nichts anderes, als die Summe der Beſitzenden
in der Gemeinde? Und enthält jenes preußiſche Princip nicht die Ent-
ſcheidung über die ernſteſte aller Vorfragen, ob denn wirklich nur die
Grundbeſitzenden eine Berechtigung an dem Eigenthum haben, das faſt
immer das einzige Eigenthum der Gemeinde ſelbſt iſt?

Es iſt, wenn man dieſe Geſichtspunkte vorurtheilsfrei erwägt, kaum
zweifelhaft, daß hier ein neuer Faktor in den Vordergrund tritt, der
mit der ganzen Entwicklung des inneren Lebens der Staaten Europas
und ihrer Befreiung von der Geſchlechterherrſchaft im inneren, tiefen
Zuſammenhang ſteht. Das iſt eben das Weſen der Gemeinde ſelbſt.
Die Dorfgemeinde der Geſchlechterordnung iſt eigentlich mit wenig Aus-
nahmen eine andere Form der Herrſchaft; ſie hat als öffentlich recht-
liches Organ ſo gut als gar keine Stellung und Stimme; ſie hat ſo
gut als gar keine Funktionen, ſo gut als gar keine Rechte. Zwiſchen
ihr und dem Staate ſteht der Grundherr, er iſt der Träger, der Be-
ſitzer der örtlichen Regierung und all ihrer Thätigkeit. Die Land-
gemeinde iſt zwar ein Objekt, aber ſie iſt als ſolche kein Organ der
Verwaltung.

Das nun iſt es, was ſich mit dem 19. Jahrhundert ändert. Auch
die Landgemeinde löst ſich allmählig in Deutſchland von der Grund-
herrſchaft los; wir haben geſehen, wie die Entlaſtung, wenn auch ſtück-
weiſe und unvollkommen, zu wirken beginnt; ſie ſelbſt aber iſt nicht
bloß negativ die Befreiung von den Grundlaſten, ſie iſt eben ſo ſehr
poſitiv die Schöpfung eines ſelbſtändigen Verwaltungskörpers in den
neuen Gemeinden mit freien, aber eben dadurch auch für die Aufgaben
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[261/0279] theilung tritt zurück vor dem der bedingten; und dieſe Bedingung wird der Wille der Betheiligten, der Beſchluß der Gemeindemajorität. Das preußiſche Gemeinheitstheilungsgeſetz von 1820 iſt das erſte auf dem Continente, das dieſen Grundſatz ausſpricht; England hat denſelben ſchon im vorigen Jahrhundert anerkannt (ſ. unten.) Allein auch dieſer Standpunkt hat nicht minder große Bedenken. Soll und kann die rein quantitative Majorität eines Augenblicks über die ganze Zukunft der Gemeinde entſcheiden? Iſt es richtig, die auf einem ganz andern Stand- punkt ſtehenden römiſchen Begriffe und Rechtsſätze der actio communi dividundo hier gelten zu laſſen? Iſt es wahr, daß die Intereſſen Aller am beſten gewahrt werden, wenn die Intereſſen der Majorität zur Geltung kommen? Ohne Zweifel iſt es ein großer Fortſchritt, daß die Stimme der Gemeinde überhaupt gehört wird; aber iſt denn dieſe Ge- meinde in der That nichts anderes, als die Summe der Beſitzenden in der Gemeinde? Und enthält jenes preußiſche Princip nicht die Ent- ſcheidung über die ernſteſte aller Vorfragen, ob denn wirklich nur die Grundbeſitzenden eine Berechtigung an dem Eigenthum haben, das faſt immer das einzige Eigenthum der Gemeinde ſelbſt iſt? Es iſt, wenn man dieſe Geſichtspunkte vorurtheilsfrei erwägt, kaum zweifelhaft, daß hier ein neuer Faktor in den Vordergrund tritt, der mit der ganzen Entwicklung des inneren Lebens der Staaten Europas und ihrer Befreiung von der Geſchlechterherrſchaft im inneren, tiefen Zuſammenhang ſteht. Das iſt eben das Weſen der Gemeinde ſelbſt. Die Dorfgemeinde der Geſchlechterordnung iſt eigentlich mit wenig Aus- nahmen eine andere Form der Herrſchaft; ſie hat als öffentlich recht- liches Organ ſo gut als gar keine Stellung und Stimme; ſie hat ſo gut als gar keine Funktionen, ſo gut als gar keine Rechte. Zwiſchen ihr und dem Staate ſteht der Grundherr, er iſt der Träger, der Be- ſitzer der örtlichen Regierung und all ihrer Thätigkeit. Die Land- gemeinde iſt zwar ein Objekt, aber ſie iſt als ſolche kein Organ der Verwaltung. Das nun iſt es, was ſich mit dem 19. Jahrhundert ändert. Auch die Landgemeinde löst ſich allmählig in Deutſchland von der Grund- herrſchaft los; wir haben geſehen, wie die Entlaſtung, wenn auch ſtück- weiſe und unvollkommen, zu wirken beginnt; ſie ſelbſt aber iſt nicht bloß negativ die Befreiung von den Grundlaſten, ſie iſt eben ſo ſehr poſitiv die Schöpfung eines ſelbſtändigen Verwaltungskörpers in den neuen Gemeinden mit freien, aber eben dadurch auch für die Aufgaben der inneren Verwaltung verantwortlichen Gemeindegliedern. Der Guts- herr iſt beſeitigt, aber mit ihm iſt nun auch derjenige beſeitigt, auf dem mit dem Rechte zugleich die Laſt der Verpflichtungen lag, welche

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/279>, abgerufen am 22.11.2024.