Gewalt sich langsam wieder erzeugt, tritt auch jener Proceß wieder ein und sein entscheidendes Symptom ist die Aufnahme des Kampfes mit der herrschenden Klasse, die hier als langsames, aber sicheres Vor- schreiten zur Befreiung des Bauernstandes erscheint, und mit dem Siege der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung oder die Geschlechterordnung für Deutschland erst mit dem letzten Jahrzehnt endet. Diesen Proceß nennen wir die Geschichte der Entlastung.
Bei dieser Geschichte muß man nun davon ausgehen, daß die eigent- liche Grundentlastung nur ein Stadium in derselben bildet, und daher ihre allgemeinere Bedeutung nicht in den einzelnen für dieselbe zur Gel- tung gebrachten positiven Bestimmungen, sondern in dem Verhältniß der- selben zum gesammten Entwicklungsgange des Volkslebens findet. Die folgende Arbeit ist von diesem Gesichtspunkte ausgegangen. Die eigentliche juristisch-nationalökonomische Lehre von Grundentlastung und Ablösung gehört bereits der Geschichte an, und ihren Inhalt findet man, wie bereits erwähnt, mit jetzt ziemlich werthloser Breite in Rau und Roscher; wir werden von derselben nur so viel aufnehmen, als für den Charakter des Entwicklungsganges dieser Frage unabweislich ist. Das viel Wich- tigere ist der letztere selbst. Derselbe zerfällt in drei große Epochen. Die erste dieser Epochen reicht bis zum Anfange dieses Jahrhunderts; die zweite bis zum Jahre 1848; die dritte umfaßt die jüngste Zeit. Wir bezeichnen die erste als die Zeit des Kampfes der Staatsgewalt mit der Leibeigenschaft und der Patrimonialgerichtsbarkeit, die zweite als die Zeit der volkswirthschaftlichen, die dritte als die der staats- bürgerlichen Entlastung.
1) Der Kampf der Staatsgewalt gegen Leibeigenschaft und Patrimonialgerichtsbarkeit.
Das 16. Jahrhundert der deutschen Geschichte ist von dem 17. wesentlich verschieden. Es ist die letzte Epoche, in welcher das deutsche Reich als Ganzes den großen Versuch einer Verwaltungsthätigkeit macht. Die Reichstags- und Deputationsbeschlüsse und Abschiede versuchen ein Verwaltungsrecht zu schaffen; die Einsetzung des Reichskammergerichts ist der Versuch, demselben eine selbständige Organisation zu geben; der Deputations-Abschied von 1600 stellt sogar den Grundsatz einer durch- greifenden Organisation und Controle "der Unter-, Ober- und Hofgerichte" auf, "damit den Unterthanen, daß sie rechtlos gestellt worden seien, Ursachen zu klagen abgeschnitten sei" (vgl. Eichhorn, Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte IV. §. 550). Allein der dreißigjährige Krieg, dessen furchtbare sociale Wirkung niemand besser als Sugenheim aufgefaßt
Gewalt ſich langſam wieder erzeugt, tritt auch jener Proceß wieder ein und ſein entſcheidendes Symptom iſt die Aufnahme des Kampfes mit der herrſchenden Klaſſe, die hier als langſames, aber ſicheres Vor- ſchreiten zur Befreiung des Bauernſtandes erſcheint, und mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung oder die Geſchlechterordnung für Deutſchland erſt mit dem letzten Jahrzehnt endet. Dieſen Proceß nennen wir die Geſchichte der Entlaſtung.
Bei dieſer Geſchichte muß man nun davon ausgehen, daß die eigent- liche Grundentlaſtung nur ein Stadium in derſelben bildet, und daher ihre allgemeinere Bedeutung nicht in den einzelnen für dieſelbe zur Gel- tung gebrachten poſitiven Beſtimmungen, ſondern in dem Verhältniß der- ſelben zum geſammten Entwicklungsgange des Volkslebens findet. Die folgende Arbeit iſt von dieſem Geſichtspunkte ausgegangen. Die eigentliche juriſtiſch-nationalökonomiſche Lehre von Grundentlaſtung und Ablöſung gehört bereits der Geſchichte an, und ihren Inhalt findet man, wie bereits erwähnt, mit jetzt ziemlich werthloſer Breite in Rau und Roſcher; wir werden von derſelben nur ſo viel aufnehmen, als für den Charakter des Entwicklungsganges dieſer Frage unabweislich iſt. Das viel Wich- tigere iſt der letztere ſelbſt. Derſelbe zerfällt in drei große Epochen. Die erſte dieſer Epochen reicht bis zum Anfange dieſes Jahrhunderts; die zweite bis zum Jahre 1848; die dritte umfaßt die jüngſte Zeit. Wir bezeichnen die erſte als die Zeit des Kampfes der Staatsgewalt mit der Leibeigenſchaft und der Patrimonialgerichtsbarkeit, die zweite als die Zeit der volkswirthſchaftlichen, die dritte als die der ſtaats- bürgerlichen Entlaſtung.
1) Der Kampf der Staatsgewalt gegen Leibeigenſchaft und Patrimonialgerichtsbarkeit.
Das 16. Jahrhundert der deutſchen Geſchichte iſt von dem 17. weſentlich verſchieden. Es iſt die letzte Epoche, in welcher das deutſche Reich als Ganzes den großen Verſuch einer Verwaltungsthätigkeit macht. Die Reichstags- und Deputationsbeſchlüſſe und Abſchiede verſuchen ein Verwaltungsrecht zu ſchaffen; die Einſetzung des Reichskammergerichts iſt der Verſuch, demſelben eine ſelbſtändige Organiſation zu geben; der Deputations-Abſchied von 1600 ſtellt ſogar den Grundſatz einer durch- greifenden Organiſation und Controle „der Unter-, Ober- und Hofgerichte“ auf, „damit den Unterthanen, daß ſie rechtlos geſtellt worden ſeien, Urſachen zu klagen abgeſchnitten ſei“ (vgl. Eichhorn, Deutſche Reichs- und Rechtsgeſchichte IV. §. 550). Allein der dreißigjährige Krieg, deſſen furchtbare ſociale Wirkung niemand beſſer als Sugenheim aufgefaßt
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der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung oder die Geſchlechterordnung
für Deutſchland erſt mit dem letzten Jahrzehnt endet. Dieſen Proceß
nennen wir die Geſchichte der Entlaſtung.
Bei dieſer Geſchichte muß man nun davon ausgehen, daß die eigent-
liche Grundentlaſtung nur ein Stadium in derſelben bildet, und daher
ihre allgemeinere Bedeutung nicht in den einzelnen für dieſelbe zur Gel-
tung gebrachten poſitiven Beſtimmungen, ſondern in dem Verhältniß der-
ſelben zum geſammten Entwicklungsgange des Volkslebens findet. Die
folgende Arbeit iſt von dieſem Geſichtspunkte ausgegangen. Die eigentliche
juriſtiſch-nationalökonomiſche Lehre von Grundentlaſtung und Ablöſung
gehört bereits der Geſchichte an, und ihren Inhalt findet man, wie
bereits erwähnt, mit jetzt ziemlich werthloſer Breite in Rau und Roſcher;
wir werden von derſelben nur ſo viel aufnehmen, als für den Charakter
des Entwicklungsganges dieſer Frage unabweislich iſt. Das viel Wich-
tigere iſt der letztere ſelbſt. Derſelbe zerfällt in drei große Epochen.
Die erſte dieſer Epochen reicht bis zum Anfange dieſes Jahrhunderts;
die zweite bis zum Jahre 1848; die dritte umfaßt die jüngſte Zeit.
Wir bezeichnen die erſte als die Zeit des Kampfes der Staatsgewalt
mit der Leibeigenſchaft und der Patrimonialgerichtsbarkeit, die zweite
als die Zeit der volkswirthſchaftlichen, die dritte als die der ſtaats-
bürgerlichen Entlaſtung.
1) Der Kampf der Staatsgewalt gegen Leibeigenſchaft und
Patrimonialgerichtsbarkeit.
Das 16. Jahrhundert der deutſchen Geſchichte iſt von dem 17.
weſentlich verſchieden. Es iſt die letzte Epoche, in welcher das deutſche
Reich als Ganzes den großen Verſuch einer Verwaltungsthätigkeit macht.
Die Reichstags- und Deputationsbeſchlüſſe und Abſchiede verſuchen ein
Verwaltungsrecht zu ſchaffen; die Einſetzung des Reichskammergerichts
iſt der Verſuch, demſelben eine ſelbſtändige Organiſation zu geben; der
Deputations-Abſchied von 1600 ſtellt ſogar den Grundſatz einer durch-
greifenden Organiſation und Controle „der Unter-, Ober- und Hofgerichte“
auf, „damit den Unterthanen, daß ſie rechtlos geſtellt worden ſeien,
Urſachen zu klagen abgeſchnitten ſei“ (vgl. Eichhorn, Deutſche Reichs-
und Rechtsgeſchichte IV. §. 550). Allein der dreißigjährige Krieg, deſſen
furchtbare ſociale Wirkung niemand beſſer als Sugenheim aufgefaßt
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/210>, abgerufen am 16.02.2025.
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