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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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Bei solchen Ansichten, von denen sich weder der in allen diesen Fragen
reichsgräfliche Soden freihalten (National-Oekonomie II. S. 107), noch
deren sich der weiche Pölitz später erwehren konnte (Staats-Wissen-
schaft II. S. 145--148) und die erst Lotz zurecht wies (Handbuch der
Staatswirthschaftslehre Bd. II. §. 94 und S. 104. 1838. 2. Aufl.)
darf es uns kaum wundern, wenn der Gedanke, aus dem der Leibeigen-
schaft noch nicht einmal entwachsenen Bauern einen Staatsbürger zu
machen, indem man ihn vor allen Dingen von Frohnden und Zehnten
befreite, keinen rechten Raum in der Theorie gewann, und wenn die
tüchtigere Verwaltung des ersten und die Verfassungsgesetzgebung des
zweiten Jahrzehnts hier schwere Kämpfe durchzumachen hatten.

Die Literatur des 19. Jahrhunderts, die sich daran anschließt,
macht nun in der That mit verhältnißmäßig wenigen und meist sehr
schüchteren Ausnahmen nicht einmal einen recht erfreulichen, geschweige
denn einen erhebenden Eindruck. Es ist kaum der Mühe werth, diese
Partie der Staatswissenschaft, die Deutschland nicht gerade zur besondern
Ehre gereicht, genauer durchzugehen. Mohl hat hier mit großem Unrecht
die Schuld auf die Gesetzgebung und die bevorzugten Stände allein
geschoben (Literatur der Staatswissenschaft II. S. 39); wenn man seiner
Sache so ungewiß war, wie er selbst als Hauptautorität der Polizei-
wissenschaft, so durfte man wahrlich von den Verwaltungen nicht ver-
langen, daß sie um eines Hauptes höher sein sollten, als die "freie"
Theorie. Baumstark hat dagegen in seiner nüchternen, aller idealen
Färbung haaren Weise den wahren Kern der Sache und die Schwie-
rigkeit, wie sie theils wirklich vorhanden war, theils mit großem Geschick
benutzt ward, einfach genug bezeichnet. Er sagt (Kameralistische En-
cyclopädie S. 658, 659): "Freies erbliches Grundeigenthum ist das erste
Beförderungsmittel des landwirthschaftlichen Gewerbes. Allein mit ihr
collidirt die Pflicht zur Sicherung geheiligter (!) Privatrechte, denn
jeder Art von gutsbäuerlicher Belastung (soll heißen Befreiung) steht
ein wohlerworbenes oder wenigstens verjährtes gutsherrliches Recht
entgegen." An diesem Dilemma scheiterte dieser ganze Theil der
Publicistik, und erst die großen Bewegungen des Volkslebens selbst
sind über diese "geheiligten" Rechte und ihre Gelehrten hinwegge-
gangen. Die allgemeine Gestalt dieses Ganges der Literatur ist aber
folgende.

Allerdings nämlich erhielt sich die Grundauffassung Justis auch
seit der Herstellung des deutschen Bundes, wie andererseits die deutsche
Rechtsgeschichte die Hauschild'schen Behauptungen über die ursprüng-
liche Freiheit des Bauernstandes besser begründete und weiter verfolgte;
seit Kindlingers Geschichte der Hörigkeit, insbesondere der sogenannten

Bei ſolchen Anſichten, von denen ſich weder der in allen dieſen Fragen
reichsgräfliche Soden freihalten (National-Oekonomie II. S. 107), noch
deren ſich der weiche Pölitz ſpäter erwehren konnte (Staats-Wiſſen-
ſchaft II. S. 145—148) und die erſt Lotz zurecht wies (Handbuch der
Staatswirthſchaftslehre Bd. II. §. 94 und S. 104. 1838. 2. Aufl.)
darf es uns kaum wundern, wenn der Gedanke, aus dem der Leibeigen-
ſchaft noch nicht einmal entwachſenen Bauern einen Staatsbürger zu
machen, indem man ihn vor allen Dingen von Frohnden und Zehnten
befreite, keinen rechten Raum in der Theorie gewann, und wenn die
tüchtigere Verwaltung des erſten und die Verfaſſungsgeſetzgebung des
zweiten Jahrzehnts hier ſchwere Kämpfe durchzumachen hatten.

Die Literatur des 19. Jahrhunderts, die ſich daran anſchließt,
macht nun in der That mit verhältnißmäßig wenigen und meiſt ſehr
ſchüchteren Ausnahmen nicht einmal einen recht erfreulichen, geſchweige
denn einen erhebenden Eindruck. Es iſt kaum der Mühe werth, dieſe
Partie der Staatswiſſenſchaft, die Deutſchland nicht gerade zur beſondern
Ehre gereicht, genauer durchzugehen. Mohl hat hier mit großem Unrecht
die Schuld auf die Geſetzgebung und die bevorzugten Stände allein
geſchoben (Literatur der Staatswiſſenſchaft II. S. 39); wenn man ſeiner
Sache ſo ungewiß war, wie er ſelbſt als Hauptautorität der Polizei-
wiſſenſchaft, ſo durfte man wahrlich von den Verwaltungen nicht ver-
langen, daß ſie um eines Hauptes höher ſein ſollten, als die „freie“
Theorie. Baumſtark hat dagegen in ſeiner nüchternen, aller idealen
Färbung haaren Weiſe den wahren Kern der Sache und die Schwie-
rigkeit, wie ſie theils wirklich vorhanden war, theils mit großem Geſchick
benutzt ward, einfach genug bezeichnet. Er ſagt (Kameraliſtiſche En-
cyclopädie S. 658, 659): „Freies erbliches Grundeigenthum iſt das erſte
Beförderungsmittel des landwirthſchaftlichen Gewerbes. Allein mit ihr
collidirt die Pflicht zur Sicherung geheiligter (!) Privatrechte, denn
jeder Art von gutsbäuerlicher Belaſtung (ſoll heißen Befreiung) ſteht
ein wohlerworbenes oder wenigſtens verjährtes gutsherrliches Recht
entgegen.“ An dieſem Dilemma ſcheiterte dieſer ganze Theil der
Publiciſtik, und erſt die großen Bewegungen des Volkslebens ſelbſt
ſind über dieſe „geheiligten“ Rechte und ihre Gelehrten hinwegge-
gangen. Die allgemeine Geſtalt dieſes Ganges der Literatur iſt aber
folgende.

Allerdings nämlich erhielt ſich die Grundauffaſſung Juſtis auch
ſeit der Herſtellung des deutſchen Bundes, wie andererſeits die deutſche
Rechtsgeſchichte die Hauſchild’ſchen Behauptungen über die urſprüng-
liche Freiheit des Bauernſtandes beſſer begründete und weiter verfolgte;
ſeit Kindlingers Geſchichte der Hörigkeit, insbeſondere der ſogenannten

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[184/0202] Bei ſolchen Anſichten, von denen ſich weder der in allen dieſen Fragen reichsgräfliche Soden freihalten (National-Oekonomie II. S. 107), noch deren ſich der weiche Pölitz ſpäter erwehren konnte (Staats-Wiſſen- ſchaft II. S. 145—148) und die erſt Lotz zurecht wies (Handbuch der Staatswirthſchaftslehre Bd. II. §. 94 und S. 104. 1838. 2. Aufl.) darf es uns kaum wundern, wenn der Gedanke, aus dem der Leibeigen- ſchaft noch nicht einmal entwachſenen Bauern einen Staatsbürger zu machen, indem man ihn vor allen Dingen von Frohnden und Zehnten befreite, keinen rechten Raum in der Theorie gewann, und wenn die tüchtigere Verwaltung des erſten und die Verfaſſungsgeſetzgebung des zweiten Jahrzehnts hier ſchwere Kämpfe durchzumachen hatten. Die Literatur des 19. Jahrhunderts, die ſich daran anſchließt, macht nun in der That mit verhältnißmäßig wenigen und meiſt ſehr ſchüchteren Ausnahmen nicht einmal einen recht erfreulichen, geſchweige denn einen erhebenden Eindruck. Es iſt kaum der Mühe werth, dieſe Partie der Staatswiſſenſchaft, die Deutſchland nicht gerade zur beſondern Ehre gereicht, genauer durchzugehen. Mohl hat hier mit großem Unrecht die Schuld auf die Geſetzgebung und die bevorzugten Stände allein geſchoben (Literatur der Staatswiſſenſchaft II. S. 39); wenn man ſeiner Sache ſo ungewiß war, wie er ſelbſt als Hauptautorität der Polizei- wiſſenſchaft, ſo durfte man wahrlich von den Verwaltungen nicht ver- langen, daß ſie um eines Hauptes höher ſein ſollten, als die „freie“ Theorie. Baumſtark hat dagegen in ſeiner nüchternen, aller idealen Färbung haaren Weiſe den wahren Kern der Sache und die Schwie- rigkeit, wie ſie theils wirklich vorhanden war, theils mit großem Geſchick benutzt ward, einfach genug bezeichnet. Er ſagt (Kameraliſtiſche En- cyclopädie S. 658, 659): „Freies erbliches Grundeigenthum iſt das erſte Beförderungsmittel des landwirthſchaftlichen Gewerbes. Allein mit ihr collidirt die Pflicht zur Sicherung geheiligter (!) Privatrechte, denn jeder Art von gutsbäuerlicher Belaſtung (ſoll heißen Befreiung) ſteht ein wohlerworbenes oder wenigſtens verjährtes gutsherrliches Recht entgegen.“ An dieſem Dilemma ſcheiterte dieſer ganze Theil der Publiciſtik, und erſt die großen Bewegungen des Volkslebens ſelbſt ſind über dieſe „geheiligten“ Rechte und ihre Gelehrten hinwegge- gangen. Die allgemeine Geſtalt dieſes Ganges der Literatur iſt aber folgende. Allerdings nämlich erhielt ſich die Grundauffaſſung Juſtis auch ſeit der Herſtellung des deutſchen Bundes, wie andererſeits die deutſche Rechtsgeſchichte die Hauſchild’ſchen Behauptungen über die urſprüng- liche Freiheit des Bauernſtandes beſſer begründete und weiter verfolgte; ſeit Kindlingers Geſchichte der Hörigkeit, insbeſondere der ſogenannten

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/202>, abgerufen am 24.11.2024.