nunmehr der Bauer nach der Regel persönlich frei ist, der größere Theil ehedem leibeigen gewesen sei." Es ist klar, daß diese historische Auffassung über das 12. Jahrhundert nicht zurückgeht; die alte Bauern- schaft und das freie Dorf liegen noch unter dem Horizont derselben, und erst das 19. Jahrhundert hat hier volles Verständniß gebracht.
Aus diesem doppelten Standpunkt ergab sich nun auch das allge- meine Princip für die Beantwortung der Hauptfrage, nach den Frohn- den und ihrem Recht. Und hier ist vielleicht die Stelle, auf welcher die Bedeutung des römischen Rechts für die bäuerliche Unfreiheit be- zeichnet werden kann, die in so sehr entgegengesetzter Weise beurtheilt wird. Jene erste, unfreiere Richtung kam nämlich von ihrem Stand- punkt aus zu der natürlichen Consequenz, die Fischer kurz ausdrückt (a. a. O. §. 1155). "Ob zwar schon in vielen Gegenden die Dienste der Leibeigenen gemessen sind, so sind sie doch im Zweifelsfalle für unge- messen zu halten, können aber bloß auf die herkömmliche Weise begehrt werden." (Vgl. 1159 und 1279 ff.) Allerdings war dieser Grundsatz die Folge des Begriffes der Leibeigenschaft; allein die römi- schen Juristen nahmen dabei einen eigenthümlichen Standpunkt ein. Damals wie jetzt beschränkt auf die Begriffe und das Verständniß des römischen Rechts, war ihnen das Wesen der Frohnden und Dienste überhaupt nicht formulirbar; sie wollten durchaus eine Servitus quae in faciendo consistit daraus machen (Runde, deutsches Privatrecht, §. 274) und brachten dadurch allerdings in der Theorie einige Ver- wirrung hervor, weßhalb man oft, und auch noch in neuester Zeit (Sugenheim a. a. O. S. 360) die Einführung des römischen Rechts als ein großes Unheil betrachtet hat. Nun ist es wahr, daß die Estor'sche Richtung schon im Anfange des 18. Jahrhunderts bedeutende An- hänger fand, die wie Ludolf (P. II. 232), Leyser (Specimen 416. Medit. 1), Pertsch (de oper. determinatis et indeterminatis §. 54), Westphal (deutsches Privatrecht I. Abth. 32. C. 1. 2) die Ungemessen- heit der Frohnden als Princip aussprechen. Allein andererseits hielten doch auch wieder dieselben römischen Juristen daran fest, daß die einmal gemessenen Frohnden nicht mehr überschritten werden dürfen, ein Grundsatz, der im Wesentlichen denselben Erfolg hatte, wie die Anerkennung des Court roll für den tenant in villeinage im common law (s. oben). Daher fängt jetzt auch die Lehre von der Verjährung an, eine nicht unbedeutende Stelle im Rechte der Leibeigenschaft einzu- nehmen; namentlich aber werden die Begriffe der Emphyteusis und des Colonats vielfach auf die bloß wirthschaftlich Unfreien angewendet, und damit der Begriff des freien Vertrages dem der Unterthanschaft unter- stellt. Das römische Recht, das die Anerkennung des gleichen persönlichen
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 11
nunmehr der Bauer nach der Regel perſönlich frei iſt, der größere Theil ehedem leibeigen geweſen ſei.“ Es iſt klar, daß dieſe hiſtoriſche Auffaſſung über das 12. Jahrhundert nicht zurückgeht; die alte Bauern- ſchaft und das freie Dorf liegen noch unter dem Horizont derſelben, und erſt das 19. Jahrhundert hat hier volles Verſtändniß gebracht.
Aus dieſem doppelten Standpunkt ergab ſich nun auch das allge- meine Princip für die Beantwortung der Hauptfrage, nach den Frohn- den und ihrem Recht. Und hier iſt vielleicht die Stelle, auf welcher die Bedeutung des römiſchen Rechts für die bäuerliche Unfreiheit be- zeichnet werden kann, die in ſo ſehr entgegengeſetzter Weiſe beurtheilt wird. Jene erſte, unfreiere Richtung kam nämlich von ihrem Stand- punkt aus zu der natürlichen Conſequenz, die Fiſcher kurz ausdrückt (a. a. O. §. 1155). „Ob zwar ſchon in vielen Gegenden die Dienſte der Leibeigenen gemeſſen ſind, ſo ſind ſie doch im Zweifelsfalle für unge- meſſen zu halten, können aber bloß auf die herkömmliche Weiſe begehrt werden.“ (Vgl. 1159 und 1279 ff.) Allerdings war dieſer Grundſatz die Folge des Begriffes der Leibeigenſchaft; allein die römi- ſchen Juriſten nahmen dabei einen eigenthümlichen Standpunkt ein. Damals wie jetzt beſchränkt auf die Begriffe und das Verſtändniß des römiſchen Rechts, war ihnen das Weſen der Frohnden und Dienſte überhaupt nicht formulirbar; ſie wollten durchaus eine Servitus quae in faciendo consistit daraus machen (Runde, deutſches Privatrecht, §. 274) und brachten dadurch allerdings in der Theorie einige Ver- wirrung hervor, weßhalb man oft, und auch noch in neueſter Zeit (Sugenheim a. a. O. S. 360) die Einführung des römiſchen Rechts als ein großes Unheil betrachtet hat. Nun iſt es wahr, daß die Eſtor’ſche Richtung ſchon im Anfange des 18. Jahrhunderts bedeutende An- hänger fand, die wie Ludolf (P. II. 232), Leyſer (Specimen 416. Medit. 1), Pertſch (de oper. determinatis et indeterminatis §. 54), Weſtphal (deutſches Privatrecht I. Abth. 32. C. 1. 2) die Ungemeſſen- heit der Frohnden als Princip ausſprechen. Allein andererſeits hielten doch auch wieder dieſelben römiſchen Juriſten daran feſt, daß die einmal gemeſſenen Frohnden nicht mehr überſchritten werden dürfen, ein Grundſatz, der im Weſentlichen denſelben Erfolg hatte, wie die Anerkennung des Court roll für den tenant in villeinage im common law (ſ. oben). Daher fängt jetzt auch die Lehre von der Verjährung an, eine nicht unbedeutende Stelle im Rechte der Leibeigenſchaft einzu- nehmen; namentlich aber werden die Begriffe der Emphyteusis und des Colonats vielfach auf die bloß wirthſchaftlich Unfreien angewendet, und damit der Begriff des freien Vertrages dem der Unterthanſchaft unter- ſtellt. Das römiſche Recht, das die Anerkennung des gleichen perſönlichen
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 11
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Auffaſſung über das 12. Jahrhundert nicht zurückgeht; die alte Bauern-
ſchaft und das freie Dorf liegen noch unter dem Horizont derſelben,
und erſt das 19. Jahrhundert hat hier volles Verſtändniß gebracht.
Aus dieſem doppelten Standpunkt ergab ſich nun auch das allge-
meine Princip für die Beantwortung der Hauptfrage, nach den Frohn-
den und ihrem Recht. Und hier iſt vielleicht die Stelle, auf welcher
die Bedeutung des römiſchen Rechts für die bäuerliche Unfreiheit be-
zeichnet werden kann, die in ſo ſehr entgegengeſetzter Weiſe beurtheilt
wird. Jene erſte, unfreiere Richtung kam nämlich von ihrem Stand-
punkt aus zu der natürlichen Conſequenz, die Fiſcher kurz ausdrückt
(a. a. O. §. 1155). „Ob zwar ſchon in vielen Gegenden die Dienſte der
Leibeigenen gemeſſen ſind, ſo ſind ſie doch im Zweifelsfalle für unge-
meſſen zu halten, können aber bloß auf die herkömmliche Weiſe
begehrt werden.“ (Vgl. 1159 und 1279 ff.) Allerdings war dieſer
Grundſatz die Folge des Begriffes der Leibeigenſchaft; allein die römi-
ſchen Juriſten nahmen dabei einen eigenthümlichen Standpunkt ein.
Damals wie jetzt beſchränkt auf die Begriffe und das Verſtändniß des
römiſchen Rechts, war ihnen das Weſen der Frohnden und Dienſte
überhaupt nicht formulirbar; ſie wollten durchaus eine Servitus quae
in faciendo consistit daraus machen (Runde, deutſches Privatrecht,
§. 274) und brachten dadurch allerdings in der Theorie einige Ver-
wirrung hervor, weßhalb man oft, und auch noch in neueſter Zeit
(Sugenheim a. a. O. S. 360) die Einführung des römiſchen Rechts
als ein großes Unheil betrachtet hat. Nun iſt es wahr, daß die Eſtor’ſche
Richtung ſchon im Anfange des 18. Jahrhunderts bedeutende An-
hänger fand, die wie Ludolf (P. II. 232), Leyſer (Specimen 416.
Medit. 1), Pertſch (de oper. determinatis et indeterminatis §. 54),
Weſtphal (deutſches Privatrecht I. Abth. 32. C. 1. 2) die Ungemeſſen-
heit der Frohnden als Princip ausſprechen. Allein andererſeits hielten
doch auch wieder dieſelben römiſchen Juriſten daran feſt, daß die einmal
gemeſſenen Frohnden nicht mehr überſchritten werden dürfen,
ein Grundſatz, der im Weſentlichen denſelben Erfolg hatte, wie die
Anerkennung des Court roll für den tenant in villeinage im common
law (ſ. oben). Daher fängt jetzt auch die Lehre von der Verjährung
an, eine nicht unbedeutende Stelle im Rechte der Leibeigenſchaft einzu-
nehmen; namentlich aber werden die Begriffe der Emphyteusis und
des Colonats vielfach auf die bloß wirthſchaftlich Unfreien angewendet,
und damit der Begriff des freien Vertrages dem der Unterthanſchaft unter-
ſtellt. Das römiſche Recht, das die Anerkennung des gleichen perſönlichen
Stein, die Verwaltungslehre. VII. 11
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/179>, abgerufen am 27.07.2024.
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