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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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Zeit ganz unbekannter Grundsatz aufgestellt, dessen Bedeutung und Um-
fang die spätere Zeit halb mit Unwillen, halb mit Verwunderung bei
Seite geschoben und zu würdigen vergessen hat. Nachdem das 17. Jahr-
hundert faktisch die Kluft zwischen Bauernstand und Adel definitiv ge-
zogen, trat mit Estor zuerst der Satz in der Theorie auf, daß alle
Bauern ursprünglich leibeigen gewesen
. Estors Abhandlung
"de praesumtione contra rusticos in causis operarum harumque
redemtione"
erschien zuerst als Vorrede zu M. D. Grollmanns
Dissertatio triga de operarum debitarum mutatione 1734. Diese Ab-
handlung, weder groß an Umfang, noch von großem wissenschaftlichen
Werth, hat nun in der Geschichte der Befreiung des Grundbesitzes
eine sehr bedeutende Stellung. Sie erscheint nämlich in der Zeit, wo
in Deutschland bereits die ersten Versuche der Ablösung auftreten und
das territoriale Königthum sich der Bauern anzunehmen beginnt. Sie
ist daher als der erste Versuch anzusehen, sich über das wahre Ver-
hältniß jener Unfreiheit und ihrer persönlichen und wirthschaftlichen
Lasten klar zu werden. Dabei mußte nun vor allem die Frage ent-
stehen, ob und wie weit die faktisch bestehenden Lasten auf einem ob-
jektiv gültigen Rechtstitel beruhten, oder ob sie durch Unrecht einge-
führt seien. Die Untersuchung dieser Frage begegnete nun zuerst jener,
noch immer geltenden Verschiedenheit im System der bäuerlichen Lasten,
die wir oben angegeben haben und die noch immer durch den Unterschied
der "Bauern" und der "Leibeigenen" bezeichnet wurden. Man wußte,
daß von jeher ein Theil -- eben jene Leibeigenen -- der Grundholden
unfrei gewesen; man fand, daß sie jetzt alle unfrei seien; wollte man
das erklären, so mußte man entweder den Grund dieser Unfreiheit in
der Gewalt des Herrn suchen, oder man mußte die gegenwärtigen Zu-
stände im Wesentlichen als die ursprünglichen annehmen und darauf
eine juristische Theorie über das gesammte Bauernrecht bilden, welche
dann allerdings die Unfreiheit aus einer historischen Thatsache zu einem
geltenden Recht machte. Und in dieser letzteren Richtung sehen wir in
der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Bewegung entstehen, an
deren Spitze sich Estor stellte.

Estor nämlich mit seiner oben angeführten Abhandlung bezeichnet
den Zeitpunkt, in welchem jene juristische Frage eine bestimmte Ge-
stalt annimmt. Er kehrte nämlich einfach das wahre historische Ver-
hältniß um. Sein Satz, daß alle Bauern ursprünglich leibeigen ge-
wesen, sollte eigentlich nicht bedeuten, daß die Herren das Recht hätten,
die mittelfreien oder eigentlichen Bauern in die Leibeigenschaft wieder
zurückzuführen, sondern vielmehr das, daß jede Behauptung einer Be-
schränkung der Rechte des Gutsherrn von dem Bauer nachgewiesen

Zeit ganz unbekannter Grundſatz aufgeſtellt, deſſen Bedeutung und Um-
fang die ſpätere Zeit halb mit Unwillen, halb mit Verwunderung bei
Seite geſchoben und zu würdigen vergeſſen hat. Nachdem das 17. Jahr-
hundert faktiſch die Kluft zwiſchen Bauernſtand und Adel definitiv ge-
zogen, trat mit Eſtor zuerſt der Satz in der Theorie auf, daß alle
Bauern urſprünglich leibeigen geweſen
. Eſtors Abhandlung
„de praesumtione contra rusticos in causis operarum harumque
redemtione“
erſchien zuerſt als Vorrede zu M. D. Grollmanns
Dissertatio triga de operarum debitarum mutatione 1734. Dieſe Ab-
handlung, weder groß an Umfang, noch von großem wiſſenſchaftlichen
Werth, hat nun in der Geſchichte der Befreiung des Grundbeſitzes
eine ſehr bedeutende Stellung. Sie erſcheint nämlich in der Zeit, wo
in Deutſchland bereits die erſten Verſuche der Ablöſung auftreten und
das territoriale Königthum ſich der Bauern anzunehmen beginnt. Sie
iſt daher als der erſte Verſuch anzuſehen, ſich über das wahre Ver-
hältniß jener Unfreiheit und ihrer perſönlichen und wirthſchaftlichen
Laſten klar zu werden. Dabei mußte nun vor allem die Frage ent-
ſtehen, ob und wie weit die faktiſch beſtehenden Laſten auf einem ob-
jektiv gültigen Rechtstitel beruhten, oder ob ſie durch Unrecht einge-
führt ſeien. Die Unterſuchung dieſer Frage begegnete nun zuerſt jener,
noch immer geltenden Verſchiedenheit im Syſtem der bäuerlichen Laſten,
die wir oben angegeben haben und die noch immer durch den Unterſchied
der „Bauern“ und der „Leibeigenen“ bezeichnet wurden. Man wußte,
daß von jeher ein Theil — eben jene Leibeigenen — der Grundholden
unfrei geweſen; man fand, daß ſie jetzt alle unfrei ſeien; wollte man
das erklären, ſo mußte man entweder den Grund dieſer Unfreiheit in
der Gewalt des Herrn ſuchen, oder man mußte die gegenwärtigen Zu-
ſtände im Weſentlichen als die urſprünglichen annehmen und darauf
eine juriſtiſche Theorie über das geſammte Bauernrecht bilden, welche
dann allerdings die Unfreiheit aus einer hiſtoriſchen Thatſache zu einem
geltenden Recht machte. Und in dieſer letzteren Richtung ſehen wir in
der erſten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Bewegung entſtehen, an
deren Spitze ſich Eſtor ſtellte.

Eſtor nämlich mit ſeiner oben angeführten Abhandlung bezeichnet
den Zeitpunkt, in welchem jene juriſtiſche Frage eine beſtimmte Ge-
ſtalt annimmt. Er kehrte nämlich einfach das wahre hiſtoriſche Ver-
hältniß um. Sein Satz, daß alle Bauern urſprünglich leibeigen ge-
weſen, ſollte eigentlich nicht bedeuten, daß die Herren das Recht hätten,
die mittelfreien oder eigentlichen Bauern in die Leibeigenſchaft wieder
zurückzuführen, ſondern vielmehr das, daß jede Behauptung einer Be-
ſchränkung der Rechte des Gutsherrn von dem Bauer nachgewieſen

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[158/0176] Zeit ganz unbekannter Grundſatz aufgeſtellt, deſſen Bedeutung und Um- fang die ſpätere Zeit halb mit Unwillen, halb mit Verwunderung bei Seite geſchoben und zu würdigen vergeſſen hat. Nachdem das 17. Jahr- hundert faktiſch die Kluft zwiſchen Bauernſtand und Adel definitiv ge- zogen, trat mit Eſtor zuerſt der Satz in der Theorie auf, daß alle Bauern urſprünglich leibeigen geweſen. Eſtors Abhandlung „de praesumtione contra rusticos in causis operarum harumque redemtione“ erſchien zuerſt als Vorrede zu M. D. Grollmanns Dissertatio triga de operarum debitarum mutatione 1734. Dieſe Ab- handlung, weder groß an Umfang, noch von großem wiſſenſchaftlichen Werth, hat nun in der Geſchichte der Befreiung des Grundbeſitzes eine ſehr bedeutende Stellung. Sie erſcheint nämlich in der Zeit, wo in Deutſchland bereits die erſten Verſuche der Ablöſung auftreten und das territoriale Königthum ſich der Bauern anzunehmen beginnt. Sie iſt daher als der erſte Verſuch anzuſehen, ſich über das wahre Ver- hältniß jener Unfreiheit und ihrer perſönlichen und wirthſchaftlichen Laſten klar zu werden. Dabei mußte nun vor allem die Frage ent- ſtehen, ob und wie weit die faktiſch beſtehenden Laſten auf einem ob- jektiv gültigen Rechtstitel beruhten, oder ob ſie durch Unrecht einge- führt ſeien. Die Unterſuchung dieſer Frage begegnete nun zuerſt jener, noch immer geltenden Verſchiedenheit im Syſtem der bäuerlichen Laſten, die wir oben angegeben haben und die noch immer durch den Unterſchied der „Bauern“ und der „Leibeigenen“ bezeichnet wurden. Man wußte, daß von jeher ein Theil — eben jene Leibeigenen — der Grundholden unfrei geweſen; man fand, daß ſie jetzt alle unfrei ſeien; wollte man das erklären, ſo mußte man entweder den Grund dieſer Unfreiheit in der Gewalt des Herrn ſuchen, oder man mußte die gegenwärtigen Zu- ſtände im Weſentlichen als die urſprünglichen annehmen und darauf eine juriſtiſche Theorie über das geſammte Bauernrecht bilden, welche dann allerdings die Unfreiheit aus einer hiſtoriſchen Thatſache zu einem geltenden Recht machte. Und in dieſer letzteren Richtung ſehen wir in der erſten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Bewegung entſtehen, an deren Spitze ſich Eſtor ſtellte. Eſtor nämlich mit ſeiner oben angeführten Abhandlung bezeichnet den Zeitpunkt, in welchem jene juriſtiſche Frage eine beſtimmte Ge- ſtalt annimmt. Er kehrte nämlich einfach das wahre hiſtoriſche Ver- hältniß um. Sein Satz, daß alle Bauern urſprünglich leibeigen ge- weſen, ſollte eigentlich nicht bedeuten, daß die Herren das Recht hätten, die mittelfreien oder eigentlichen Bauern in die Leibeigenſchaft wieder zurückzuführen, ſondern vielmehr das, daß jede Behauptung einer Be- ſchränkung der Rechte des Gutsherrn von dem Bauer nachgewieſen

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/176>, abgerufen am 28.11.2024.