während Preußen und Oesterreich es in ihren bürgerlichen Gesetzgebungen als geltendes, aber ziemlich unausgeführtes Recht hinstellen, wird es in den neuen Verfassungen seit 1818 allmählig zu einem Grundrecht. Aber trotzdem gibt es Jahrzehnte hindurch noch weder ein Grundent- lastungs- noch ein Enteignungsgesetz, und deßhalb auch so gut als gar keine Jurisprudenz derselben. Die Ausbildung jenes Entwährungs- princips zu einer vollständigen Gesetzgebung erfolgt daher stoßweise, und höchst ungleichmäßig in den verschiedenen Staaten. Es bedarf wohl keiner weiteren Erklärung mehr, weßhalb die großen Revolutionen Frank- reichs stets den Anstoß zur Weiterbildung gaben, und zwar wesentlich auf dem Gebiete des Entlastungswesens, während das Enteignungswesen vielfach zurückbleibt. Das ganze Entlastungswesen schließt sich demgemäß an die Epoche von 1830 und 1848 und zwar wesentlich als specielle Entlastungsgesetzgebung, während die Ablösungen immer erst später kommen, und die Gemeinheitstheilungen durch das neugestaltete Gemeinde- wesen, namentlich seit 1848, eine ganz andere Richtung einschlagen. Ueber diesen hochwichtigen, ja entscheidenden Erscheinungen wird nun die Enteignungsgesetzgebung fast ganz vernachlässigt; nur einige Staaten gelangen zu einer solchen; die meisten aber führen das Princip der Ent- eignung zu einer wirklichen Gesetzgebungnur in specieller Beziehung zu den Eisenbahnen aus, so daß die größten Staaten, Oesterreich und Preu- ßen, überhaupt noch einer eigentlichen Enteignungsgesetzgebung entbehren. Dadurch sind nun auch zwei Gebiete der Literatur entstanden, die sich trotz ihrer inneren Verwandtschaft gegenseitig gar nicht kennen und berück- sichtigen, die Literatur der Entlastungen und Gemeinheitstheilungen, die sehr umfangreich und gründlich, und die des Enteignungsrechts, die naturgemäß verhältnißmäßig unbedeutend geblieben ist. Zu einer einheit- lichen Rechtsbildung ist man nicht gelangt, eine einheitliche Literatur muß erst den Gedanken der Gemeinsamkeit dieser Erscheinungen erobern.
Auf dieser Grundlage werden wir nun im besondern Theil jede einzelne Entwährung in ihrer Geschichte und Literatur untersuchen. Das Gesammtergebniß der obigen Bemerkungen aber ist, daß die Ge- schichte des Entwährungsrechtes und seiner Bildung daher ein Theil der gesellschaftlichen Geschichte Europas ist -- ein Standpunkt, der allein eine Verbindung der verschiedenen Formen und Epochen derselben zuläßt. Und die Verwaltungslehre, indem sie dieselbe in diesem Sinne auffaßt, wird daher auch den gegenwärtigen Zustand des Entlastungs- und Ablösungswesens nur als einen histori- schen Moment, das Recht der Expropriation und der Zwangsenteignung dagegen als einen dauernden Theil des Verwaltungsrechts aufzufassen haben.
während Preußen und Oeſterreich es in ihren bürgerlichen Geſetzgebungen als geltendes, aber ziemlich unausgeführtes Recht hinſtellen, wird es in den neuen Verfaſſungen ſeit 1818 allmählig zu einem Grundrecht. Aber trotzdem gibt es Jahrzehnte hindurch noch weder ein Grundent- laſtungs- noch ein Enteignungsgeſetz, und deßhalb auch ſo gut als gar keine Jurisprudenz derſelben. Die Ausbildung jenes Entwährungs- princips zu einer vollſtändigen Geſetzgebung erfolgt daher ſtoßweiſe, und höchſt ungleichmäßig in den verſchiedenen Staaten. Es bedarf wohl keiner weiteren Erklärung mehr, weßhalb die großen Revolutionen Frank- reichs ſtets den Anſtoß zur Weiterbildung gaben, und zwar weſentlich auf dem Gebiete des Entlaſtungsweſens, während das Enteignungsweſen vielfach zurückbleibt. Das ganze Entlaſtungsweſen ſchließt ſich demgemäß an die Epoche von 1830 und 1848 und zwar weſentlich als ſpecielle Entlaſtungsgeſetzgebung, während die Ablöſungen immer erſt ſpäter kommen, und die Gemeinheitstheilungen durch das neugeſtaltete Gemeinde- weſen, namentlich ſeit 1848, eine ganz andere Richtung einſchlagen. Ueber dieſen hochwichtigen, ja entſcheidenden Erſcheinungen wird nun die Enteignungsgeſetzgebung faſt ganz vernachläſſigt; nur einige Staaten gelangen zu einer ſolchen; die meiſten aber führen das Princip der Ent- eignung zu einer wirklichen Geſetzgebungnur in ſpecieller Beziehung zu den Eiſenbahnen aus, ſo daß die größten Staaten, Oeſterreich und Preu- ßen, überhaupt noch einer eigentlichen Enteignungsgeſetzgebung entbehren. Dadurch ſind nun auch zwei Gebiete der Literatur entſtanden, die ſich trotz ihrer inneren Verwandtſchaft gegenſeitig gar nicht kennen und berück- ſichtigen, die Literatur der Entlaſtungen und Gemeinheitstheilungen, die ſehr umfangreich und gründlich, und die des Enteignungsrechts, die naturgemäß verhältnißmäßig unbedeutend geblieben iſt. Zu einer einheit- lichen Rechtsbildung iſt man nicht gelangt, eine einheitliche Literatur muß erſt den Gedanken der Gemeinſamkeit dieſer Erſcheinungen erobern.
Auf dieſer Grundlage werden wir nun im beſondern Theil jede einzelne Entwährung in ihrer Geſchichte und Literatur unterſuchen. Das Geſammtergebniß der obigen Bemerkungen aber iſt, daß die Ge- ſchichte des Entwährungsrechtes und ſeiner Bildung daher ein Theil der geſellſchaftlichen Geſchichte Europas iſt — ein Standpunkt, der allein eine Verbindung der verſchiedenen Formen und Epochen derſelben zuläßt. Und die Verwaltungslehre, indem ſie dieſelbe in dieſem Sinne auffaßt, wird daher auch den gegenwärtigen Zuſtand des Entlaſtungs- und Ablöſungsweſens nur als einen hiſtori- ſchen Moment, das Recht der Expropriation und der Zwangsenteignung dagegen als einen dauernden Theil des Verwaltungsrechts aufzufaſſen haben.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0110"n="92"/>
während Preußen und Oeſterreich es in ihren bürgerlichen Geſetzgebungen<lb/>
als geltendes, aber ziemlich unausgeführtes Recht hinſtellen, wird es<lb/>
in den neuen Verfaſſungen ſeit 1818 allmählig zu einem Grundrecht.<lb/>
Aber trotzdem gibt es Jahrzehnte hindurch noch weder ein Grundent-<lb/>
laſtungs- noch ein Enteignungsgeſetz, und deßhalb auch ſo gut als gar<lb/>
keine Jurisprudenz derſelben. Die Ausbildung jenes Entwährungs-<lb/>
princips zu einer vollſtändigen Geſetzgebung erfolgt daher ſtoßweiſe, und<lb/>
höchſt ungleichmäßig in den verſchiedenen Staaten. Es bedarf wohl<lb/>
keiner weiteren Erklärung mehr, weßhalb die großen Revolutionen Frank-<lb/>
reichs ſtets den Anſtoß zur Weiterbildung gaben, und zwar weſentlich auf<lb/>
dem Gebiete des Entlaſtungsweſens, während das Enteignungsweſen<lb/>
vielfach zurückbleibt. Das ganze Entlaſtungsweſen ſchließt ſich demgemäß<lb/>
an die Epoche von 1830 und 1848 und zwar weſentlich als ſpecielle<lb/>
Entlaſtungsgeſetzgebung, während die Ablöſungen immer erſt ſpäter<lb/>
kommen, und die Gemeinheitstheilungen durch das neugeſtaltete Gemeinde-<lb/>
weſen, namentlich ſeit 1848, eine ganz andere Richtung einſchlagen.<lb/>
Ueber dieſen hochwichtigen, ja entſcheidenden Erſcheinungen wird nun<lb/>
die Enteignungsgeſetzgebung faſt ganz vernachläſſigt; nur einige Staaten<lb/>
gelangen zu einer ſolchen; die meiſten aber führen das Princip der Ent-<lb/>
eignung zu einer wirklichen Geſetzgebungnur in ſpecieller Beziehung zu<lb/>
den Eiſenbahnen aus, ſo daß die größten Staaten, Oeſterreich und Preu-<lb/>
ßen, überhaupt noch einer eigentlichen Enteignungsgeſetzgebung entbehren.<lb/>
Dadurch ſind nun auch zwei Gebiete der Literatur entſtanden, die ſich<lb/>
trotz ihrer inneren Verwandtſchaft gegenſeitig gar nicht kennen und berück-<lb/>ſichtigen, die Literatur der Entlaſtungen und Gemeinheitstheilungen, die<lb/>ſehr umfangreich und gründlich, und die des Enteignungsrechts, die<lb/>
naturgemäß verhältnißmäßig unbedeutend geblieben iſt. Zu einer einheit-<lb/>
lichen Rechtsbildung iſt man nicht gelangt, eine einheitliche Literatur muß<lb/>
erſt den Gedanken der Gemeinſamkeit dieſer Erſcheinungen erobern.</p><lb/><p>Auf dieſer Grundlage werden wir nun im beſondern Theil jede<lb/>
einzelne Entwährung in ihrer Geſchichte und Literatur unterſuchen.<lb/>
Das Geſammtergebniß der obigen Bemerkungen aber iſt, daß die Ge-<lb/>ſchichte des Entwährungsrechtes und ſeiner Bildung daher <hirendition="#g">ein Theil<lb/>
der geſellſchaftlichen Geſchichte Europas</hi> iſt — ein Standpunkt,<lb/>
der <hirendition="#g">allein</hi> eine Verbindung der verſchiedenen Formen und Epochen<lb/>
derſelben zuläßt. Und die Verwaltungslehre, indem ſie dieſelbe in dieſem<lb/>
Sinne auffaßt, wird daher auch den <hirendition="#g">gegenwärtigen Zuſtand des<lb/>
Entlaſtungs- und Ablöſungsweſens nur als einen hiſtori-<lb/>ſchen Moment</hi>, das Recht der Expropriation und der Zwangsenteignung<lb/>
dagegen <hirendition="#g">als einen dauernden Theil des Verwaltungsrechts</hi><lb/>
aufzufaſſen haben.</p></div></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></div></div></body></text></TEI>
[92/0110]
während Preußen und Oeſterreich es in ihren bürgerlichen Geſetzgebungen
als geltendes, aber ziemlich unausgeführtes Recht hinſtellen, wird es
in den neuen Verfaſſungen ſeit 1818 allmählig zu einem Grundrecht.
Aber trotzdem gibt es Jahrzehnte hindurch noch weder ein Grundent-
laſtungs- noch ein Enteignungsgeſetz, und deßhalb auch ſo gut als gar
keine Jurisprudenz derſelben. Die Ausbildung jenes Entwährungs-
princips zu einer vollſtändigen Geſetzgebung erfolgt daher ſtoßweiſe, und
höchſt ungleichmäßig in den verſchiedenen Staaten. Es bedarf wohl
keiner weiteren Erklärung mehr, weßhalb die großen Revolutionen Frank-
reichs ſtets den Anſtoß zur Weiterbildung gaben, und zwar weſentlich auf
dem Gebiete des Entlaſtungsweſens, während das Enteignungsweſen
vielfach zurückbleibt. Das ganze Entlaſtungsweſen ſchließt ſich demgemäß
an die Epoche von 1830 und 1848 und zwar weſentlich als ſpecielle
Entlaſtungsgeſetzgebung, während die Ablöſungen immer erſt ſpäter
kommen, und die Gemeinheitstheilungen durch das neugeſtaltete Gemeinde-
weſen, namentlich ſeit 1848, eine ganz andere Richtung einſchlagen.
Ueber dieſen hochwichtigen, ja entſcheidenden Erſcheinungen wird nun
die Enteignungsgeſetzgebung faſt ganz vernachläſſigt; nur einige Staaten
gelangen zu einer ſolchen; die meiſten aber führen das Princip der Ent-
eignung zu einer wirklichen Geſetzgebungnur in ſpecieller Beziehung zu
den Eiſenbahnen aus, ſo daß die größten Staaten, Oeſterreich und Preu-
ßen, überhaupt noch einer eigentlichen Enteignungsgeſetzgebung entbehren.
Dadurch ſind nun auch zwei Gebiete der Literatur entſtanden, die ſich
trotz ihrer inneren Verwandtſchaft gegenſeitig gar nicht kennen und berück-
ſichtigen, die Literatur der Entlaſtungen und Gemeinheitstheilungen, die
ſehr umfangreich und gründlich, und die des Enteignungsrechts, die
naturgemäß verhältnißmäßig unbedeutend geblieben iſt. Zu einer einheit-
lichen Rechtsbildung iſt man nicht gelangt, eine einheitliche Literatur muß
erſt den Gedanken der Gemeinſamkeit dieſer Erſcheinungen erobern.
Auf dieſer Grundlage werden wir nun im beſondern Theil jede
einzelne Entwährung in ihrer Geſchichte und Literatur unterſuchen.
Das Geſammtergebniß der obigen Bemerkungen aber iſt, daß die Ge-
ſchichte des Entwährungsrechtes und ſeiner Bildung daher ein Theil
der geſellſchaftlichen Geſchichte Europas iſt — ein Standpunkt,
der allein eine Verbindung der verſchiedenen Formen und Epochen
derſelben zuläßt. Und die Verwaltungslehre, indem ſie dieſelbe in dieſem
Sinne auffaßt, wird daher auch den gegenwärtigen Zuſtand des
Entlaſtungs- und Ablöſungsweſens nur als einen hiſtori-
ſchen Moment, das Recht der Expropriation und der Zwangsenteignung
dagegen als einen dauernden Theil des Verwaltungsrechts
aufzufaſſen haben.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/110>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.