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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 6. Stuttgart, 1868.

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jeder Ausschließlichkeit, die nicht zugleich geistig berechtigt ist, feindlich
entgegentritt. Sie ist damit das eigentliche Element der beständigen
socialen und politischen Entwicklung, die sie in allen Formen, wenn
auch in verschiedenem Maße, fördert. Ihr Geist ist und wird ewig
bleiben das Streben und Ringen nach einer neuen, rein auf der gei-
stigen Welt ruhenden Ordnung des gesammten öffentlichen Lebens.

Allein eben in diesem selben Moment, durch welches sie im Namen
der höhern Bestimmung der Menschheit den Unterschied theils aus-
gleicht, theils offen bekämpft, wird sie zugleich eine gewaltige sociale
Macht und eine nicht minder gewaltige sociale Gefahr. Denn wenn
es neben dem historischen auch einen ethischen Werth der Geschichte der
Gesellschaft und ihrer Bewegungen gibt, so besteht derselbe zweifellos
darin, daß dieselbe Einen großen Satz beweist, ja als Gesetz dieser
Bewegung hinstellt. Es ist wahr, daß zu allen Zeiten und bei allen
Völkern der Gegensatz der niederen Ordnungen gegen die höheren le-
bendig ist, und daß ewig die ersteren bereit sind, durch das rein phy-
sische Element ihrer Masse und ihrer Gewalt in die höheren Ordnungen
hineinzudringen, oder sich von der natürlichen Herrschaft, welche die
letzteren über die ersteren stets ausüben, durch materielle Bewältigung
derselben zu befreien. Es ist ferner wahr, daß diese Neigung durch
nichts so sehr zur offenen That angereizt werden kann, als durch das
Wort. Und ein solches Wort besitzt seine wahre Macht nicht dadurch,
daß es zu augenblicklicher Gewaltthat aufregt, und die vorher schon
Willigen um einen Führer sammelt; denn diese Gewaltthaten sind
vorübergehend, und enden selbst bei den furchtbarsten Revolutionen stets
wieder mit der physischen Unterwerfung durch die zuletzt siegende Macht
der höhern Elemente des menschlichen Lebens; sondern der wahre Kern
und die eigentliche Bedeutung jener Macht des an die niederen Klassen
gerichteten Wortes besteht darin, daß es an die höhere Idee der Per-
sönlichkeit selbst anknüpft und vermöge derselben aus dem Wunsche ein
Recht macht auf alles, wodurch sich die höhere Ordnung der Gesellschaft
von der niederen scheidet. Dann entsteht das, was wir nicht bloß die
äußere, sondern die innere Gefahr der Gesellschaft nennen. Es beklei-
det sich das Sonderinteresse der niederen Klasse mit der Idee der sitt-
lichen Berechtigung; der lebendige Wunsch, an den Gütern der höhern
Theil zu haben, wird zur Vorstellung von einem Anrecht, das einfach
in den thatsächlichen Besitze des größeren Maßes der geistigen und
wirthschaftlchen Güter bestehen soll; die Begierde nach den letztern wird
zum Hasse gegen ihre Besitzer, und der Zustand der Gesellschaft wird
ein beständiges Erwägen der Möglichkeit, mit physischer Gewalt die
höhere Klasse durch die niedere zu bewältigen. Der organische Unter-

jeder Ausſchließlichkeit, die nicht zugleich geiſtig berechtigt iſt, feindlich
entgegentritt. Sie iſt damit das eigentliche Element der beſtändigen
ſocialen und politiſchen Entwicklung, die ſie in allen Formen, wenn
auch in verſchiedenem Maße, fördert. Ihr Geiſt iſt und wird ewig
bleiben das Streben und Ringen nach einer neuen, rein auf der gei-
ſtigen Welt ruhenden Ordnung des geſammten öffentlichen Lebens.

Allein eben in dieſem ſelben Moment, durch welches ſie im Namen
der höhern Beſtimmung der Menſchheit den Unterſchied theils aus-
gleicht, theils offen bekämpft, wird ſie zugleich eine gewaltige ſociale
Macht und eine nicht minder gewaltige ſociale Gefahr. Denn wenn
es neben dem hiſtoriſchen auch einen ethiſchen Werth der Geſchichte der
Geſellſchaft und ihrer Bewegungen gibt, ſo beſteht derſelbe zweifellos
darin, daß dieſelbe Einen großen Satz beweist, ja als Geſetz dieſer
Bewegung hinſtellt. Es iſt wahr, daß zu allen Zeiten und bei allen
Völkern der Gegenſatz der niederen Ordnungen gegen die höheren le-
bendig iſt, und daß ewig die erſteren bereit ſind, durch das rein phy-
ſiſche Element ihrer Maſſe und ihrer Gewalt in die höheren Ordnungen
hineinzudringen, oder ſich von der natürlichen Herrſchaft, welche die
letzteren über die erſteren ſtets ausüben, durch materielle Bewältigung
derſelben zu befreien. Es iſt ferner wahr, daß dieſe Neigung durch
nichts ſo ſehr zur offenen That angereizt werden kann, als durch das
Wort. Und ein ſolches Wort beſitzt ſeine wahre Macht nicht dadurch,
daß es zu augenblicklicher Gewaltthat aufregt, und die vorher ſchon
Willigen um einen Führer ſammelt; denn dieſe Gewaltthaten ſind
vorübergehend, und enden ſelbſt bei den furchtbarſten Revolutionen ſtets
wieder mit der phyſiſchen Unterwerfung durch die zuletzt ſiegende Macht
der höhern Elemente des menſchlichen Lebens; ſondern der wahre Kern
und die eigentliche Bedeutung jener Macht des an die niederen Klaſſen
gerichteten Wortes beſteht darin, daß es an die höhere Idee der Per-
ſönlichkeit ſelbſt anknüpft und vermöge derſelben aus dem Wunſche ein
Recht macht auf alles, wodurch ſich die höhere Ordnung der Geſellſchaft
von der niederen ſcheidet. Dann entſteht das, was wir nicht bloß die
äußere, ſondern die innere Gefahr der Geſellſchaft nennen. Es beklei-
det ſich das Sonderintereſſe der niederen Klaſſe mit der Idee der ſitt-
lichen Berechtigung; der lebendige Wunſch, an den Gütern der höhern
Theil zu haben, wird zur Vorſtellung von einem Anrecht, das einfach
in den thatſächlichen Beſitze des größeren Maßes der geiſtigen und
wirthſchaftlchen Güter beſtehen ſoll; die Begierde nach den letztern wird
zum Haſſe gegen ihre Beſitzer, und der Zuſtand der Geſellſchaft wird
ein beſtändiges Erwägen der Möglichkeit, mit phyſiſcher Gewalt die
höhere Klaſſe durch die niedere zu bewältigen. Der organiſche Unter-

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[51/0067] jeder Ausſchließlichkeit, die nicht zugleich geiſtig berechtigt iſt, feindlich entgegentritt. Sie iſt damit das eigentliche Element der beſtändigen ſocialen und politiſchen Entwicklung, die ſie in allen Formen, wenn auch in verſchiedenem Maße, fördert. Ihr Geiſt iſt und wird ewig bleiben das Streben und Ringen nach einer neuen, rein auf der gei- ſtigen Welt ruhenden Ordnung des geſammten öffentlichen Lebens. Allein eben in dieſem ſelben Moment, durch welches ſie im Namen der höhern Beſtimmung der Menſchheit den Unterſchied theils aus- gleicht, theils offen bekämpft, wird ſie zugleich eine gewaltige ſociale Macht und eine nicht minder gewaltige ſociale Gefahr. Denn wenn es neben dem hiſtoriſchen auch einen ethiſchen Werth der Geſchichte der Geſellſchaft und ihrer Bewegungen gibt, ſo beſteht derſelbe zweifellos darin, daß dieſelbe Einen großen Satz beweist, ja als Geſetz dieſer Bewegung hinſtellt. Es iſt wahr, daß zu allen Zeiten und bei allen Völkern der Gegenſatz der niederen Ordnungen gegen die höheren le- bendig iſt, und daß ewig die erſteren bereit ſind, durch das rein phy- ſiſche Element ihrer Maſſe und ihrer Gewalt in die höheren Ordnungen hineinzudringen, oder ſich von der natürlichen Herrſchaft, welche die letzteren über die erſteren ſtets ausüben, durch materielle Bewältigung derſelben zu befreien. Es iſt ferner wahr, daß dieſe Neigung durch nichts ſo ſehr zur offenen That angereizt werden kann, als durch das Wort. Und ein ſolches Wort beſitzt ſeine wahre Macht nicht dadurch, daß es zu augenblicklicher Gewaltthat aufregt, und die vorher ſchon Willigen um einen Führer ſammelt; denn dieſe Gewaltthaten ſind vorübergehend, und enden ſelbſt bei den furchtbarſten Revolutionen ſtets wieder mit der phyſiſchen Unterwerfung durch die zuletzt ſiegende Macht der höhern Elemente des menſchlichen Lebens; ſondern der wahre Kern und die eigentliche Bedeutung jener Macht des an die niederen Klaſſen gerichteten Wortes beſteht darin, daß es an die höhere Idee der Per- ſönlichkeit ſelbſt anknüpft und vermöge derſelben aus dem Wunſche ein Recht macht auf alles, wodurch ſich die höhere Ordnung der Geſellſchaft von der niederen ſcheidet. Dann entſteht das, was wir nicht bloß die äußere, ſondern die innere Gefahr der Geſellſchaft nennen. Es beklei- det ſich das Sonderintereſſe der niederen Klaſſe mit der Idee der ſitt- lichen Berechtigung; der lebendige Wunſch, an den Gütern der höhern Theil zu haben, wird zur Vorſtellung von einem Anrecht, das einfach in den thatſächlichen Beſitze des größeren Maßes der geiſtigen und wirthſchaftlchen Güter beſtehen ſoll; die Begierde nach den letztern wird zum Haſſe gegen ihre Beſitzer, und der Zuſtand der Geſellſchaft wird ein beſtändiges Erwägen der Möglichkeit, mit phyſiſcher Gewalt die höhere Klaſſe durch die niedere zu bewältigen. Der organiſche Unter-

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 6. Stuttgart, 1868, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre06_1868/67>, abgerufen am 24.11.2024.