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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 6. Stuttgart, 1868.

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nur ein Moment; sie selbst gehört im Großen und Ganzen der Bil-
dung der freien staatsbürgerlichen Gesellschaft und drückt das Werden
der letzteren auf dem Gebiete aus, auf welchem jene Platz gewinnen
muß, um sich zu verwirklichen, auf dem Gebiete der individuellen Lebens-
formen. Sie muß daher als ein Theil der gesammten Sittengeschichte
betrachtet werden; das polizeiliche Recht, unmächtig gegen sie, unfähig
die alte "Sitte" zu erhalten, zum Theil aber auch feindlich gegen ihre
Ausschreitungen, sieht sich allmählig auf einen immer engeren Raum
zurückgedrängt. Schon am Ende des vorigen Jahrhunderts ist sie in
der That nur noch Polizei der Unsitte, und schreitet nur da ein, wo
wirkliche Vergehen gegen die Sittlichkeit statt solcher gegen die Sitte
vorliegen. Allein damit entstand nun die Frage, nach welchem Rechts-
titel
dieses Auftreten und Eingreifen der Polizei gegen den Einzelnen
stattfinde. Das junge Staatsbürgerthum, der Polizei ohnehin nicht hold,
will sich ihr nicht unterwerfen, wo nicht bestimmte Gesetze vorliegen.
Die Willkür verschwindet aus dem Strafrecht überhaupt, und damit
auch aus dem Polizeirecht, und mit der Idee des Rechtsstaates entsteht
auch hier die Frage nach der Herstellung eines positiven Sittenpolizei-
rechts an der Stelle der polizeilichen Willkür. Mit dieser Frage beginnt
die dritte, gegenwärtige Gestalt der Sittenpolizei.

Diese nun schließt sich an die Geschichte des Polizeistrafrechts im
Allgemeinen, wie wir sie im Polizeirecht angegeben haben. Der leitende
Grundgedanke ist der, daß niemand ohne ein Gesetz zu irgend einer
Strafe verurtheilt werden kann. Die Ueberzeugung von der Noth-
wendigkeit der Sittenpolizei bleibt; aber jener Grundsatz zwingt nun
die Regierungen, die Bestimmungen der letzteren zum geltenden gesetz-
lichen Recht zu machen. Wir haben die beiden Grundformen, in denen
dieß geschehen ist und geschieht, bezeichnet. Die eine ist die französische,
welche das ganze Polizeistrafrecht, also auch das Sittenstrafrecht in die
eigentliche Strafgesetzgebung als Theil derselben aufnimmt. Die zweite
ist die deutsche, welche mit viel richtigerem Verständniß für dasselbe
ein eigenes Polizeistrafgesetzbuch erläßt. Wir haben das Ver-
hältniß beider an seinem Ort dargestellt. Die Sittenpolizei des vorigen
Jahrhunderts ist damit verschwunden, und es tritt an ihre Stelle das
Sittenstrafrecht. Dasselbe gehört jetzt der Strafrechtswissenschaft; das
ist sein Charakter in dieser dritten Epoche; und jetzt muß uns die Frage
entstehen, ob es dann noch überhaupt eine eigentliche Sittenpolizei neben
diesem Strafrecht der Unsittlichkeit gebe, und wenn, wo für dieselbe
in Beziehung auf das letztere die Gränze zu suchen sei. Die Antwort
auf diese Fragen enthält das Princip der eigentlichen Sittenpolizei
unserer Gegenwart.

nur ein Moment; ſie ſelbſt gehört im Großen und Ganzen der Bil-
dung der freien ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft und drückt das Werden
der letzteren auf dem Gebiete aus, auf welchem jene Platz gewinnen
muß, um ſich zu verwirklichen, auf dem Gebiete der individuellen Lebens-
formen. Sie muß daher als ein Theil der geſammten Sittengeſchichte
betrachtet werden; das polizeiliche Recht, unmächtig gegen ſie, unfähig
die alte „Sitte“ zu erhalten, zum Theil aber auch feindlich gegen ihre
Ausſchreitungen, ſieht ſich allmählig auf einen immer engeren Raum
zurückgedrängt. Schon am Ende des vorigen Jahrhunderts iſt ſie in
der That nur noch Polizei der Unſitte, und ſchreitet nur da ein, wo
wirkliche Vergehen gegen die Sittlichkeit ſtatt ſolcher gegen die Sitte
vorliegen. Allein damit entſtand nun die Frage, nach welchem Rechts-
titel
dieſes Auftreten und Eingreifen der Polizei gegen den Einzelnen
ſtattfinde. Das junge Staatsbürgerthum, der Polizei ohnehin nicht hold,
will ſich ihr nicht unterwerfen, wo nicht beſtimmte Geſetze vorliegen.
Die Willkür verſchwindet aus dem Strafrecht überhaupt, und damit
auch aus dem Polizeirecht, und mit der Idee des Rechtsſtaates entſteht
auch hier die Frage nach der Herſtellung eines poſitiven Sittenpolizei-
rechts an der Stelle der polizeilichen Willkür. Mit dieſer Frage beginnt
die dritte, gegenwärtige Geſtalt der Sittenpolizei.

Dieſe nun ſchließt ſich an die Geſchichte des Polizeiſtrafrechts im
Allgemeinen, wie wir ſie im Polizeirecht angegeben haben. Der leitende
Grundgedanke iſt der, daß niemand ohne ein Geſetz zu irgend einer
Strafe verurtheilt werden kann. Die Ueberzeugung von der Noth-
wendigkeit der Sittenpolizei bleibt; aber jener Grundſatz zwingt nun
die Regierungen, die Beſtimmungen der letzteren zum geltenden geſetz-
lichen Recht zu machen. Wir haben die beiden Grundformen, in denen
dieß geſchehen iſt und geſchieht, bezeichnet. Die eine iſt die franzöſiſche,
welche das ganze Polizeiſtrafrecht, alſo auch das Sittenſtrafrecht in die
eigentliche Strafgeſetzgebung als Theil derſelben aufnimmt. Die zweite
iſt die deutſche, welche mit viel richtigerem Verſtändniß für daſſelbe
ein eigenes Polizeiſtrafgeſetzbuch erläßt. Wir haben das Ver-
hältniß beider an ſeinem Ort dargeſtellt. Die Sittenpolizei des vorigen
Jahrhunderts iſt damit verſchwunden, und es tritt an ihre Stelle das
Sittenſtrafrecht. Daſſelbe gehört jetzt der Strafrechtswiſſenſchaft; das
iſt ſein Charakter in dieſer dritten Epoche; und jetzt muß uns die Frage
entſtehen, ob es dann noch überhaupt eine eigentliche Sittenpolizei neben
dieſem Strafrecht der Unſittlichkeit gebe, und wenn, wo für dieſelbe
in Beziehung auf das letztere die Gränze zu ſuchen ſei. Die Antwort
auf dieſe Fragen enthält das Princip der eigentlichen Sittenpolizei
unſerer Gegenwart.

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[13/0029] nur ein Moment; ſie ſelbſt gehört im Großen und Ganzen der Bil- dung der freien ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft und drückt das Werden der letzteren auf dem Gebiete aus, auf welchem jene Platz gewinnen muß, um ſich zu verwirklichen, auf dem Gebiete der individuellen Lebens- formen. Sie muß daher als ein Theil der geſammten Sittengeſchichte betrachtet werden; das polizeiliche Recht, unmächtig gegen ſie, unfähig die alte „Sitte“ zu erhalten, zum Theil aber auch feindlich gegen ihre Ausſchreitungen, ſieht ſich allmählig auf einen immer engeren Raum zurückgedrängt. Schon am Ende des vorigen Jahrhunderts iſt ſie in der That nur noch Polizei der Unſitte, und ſchreitet nur da ein, wo wirkliche Vergehen gegen die Sittlichkeit ſtatt ſolcher gegen die Sitte vorliegen. Allein damit entſtand nun die Frage, nach welchem Rechts- titel dieſes Auftreten und Eingreifen der Polizei gegen den Einzelnen ſtattfinde. Das junge Staatsbürgerthum, der Polizei ohnehin nicht hold, will ſich ihr nicht unterwerfen, wo nicht beſtimmte Geſetze vorliegen. Die Willkür verſchwindet aus dem Strafrecht überhaupt, und damit auch aus dem Polizeirecht, und mit der Idee des Rechtsſtaates entſteht auch hier die Frage nach der Herſtellung eines poſitiven Sittenpolizei- rechts an der Stelle der polizeilichen Willkür. Mit dieſer Frage beginnt die dritte, gegenwärtige Geſtalt der Sittenpolizei. Dieſe nun ſchließt ſich an die Geſchichte des Polizeiſtrafrechts im Allgemeinen, wie wir ſie im Polizeirecht angegeben haben. Der leitende Grundgedanke iſt der, daß niemand ohne ein Geſetz zu irgend einer Strafe verurtheilt werden kann. Die Ueberzeugung von der Noth- wendigkeit der Sittenpolizei bleibt; aber jener Grundſatz zwingt nun die Regierungen, die Beſtimmungen der letzteren zum geltenden geſetz- lichen Recht zu machen. Wir haben die beiden Grundformen, in denen dieß geſchehen iſt und geſchieht, bezeichnet. Die eine iſt die franzöſiſche, welche das ganze Polizeiſtrafrecht, alſo auch das Sittenſtrafrecht in die eigentliche Strafgeſetzgebung als Theil derſelben aufnimmt. Die zweite iſt die deutſche, welche mit viel richtigerem Verſtändniß für daſſelbe ein eigenes Polizeiſtrafgeſetzbuch erläßt. Wir haben das Ver- hältniß beider an ſeinem Ort dargeſtellt. Die Sittenpolizei des vorigen Jahrhunderts iſt damit verſchwunden, und es tritt an ihre Stelle das Sittenſtrafrecht. Daſſelbe gehört jetzt der Strafrechtswiſſenſchaft; das iſt ſein Charakter in dieſer dritten Epoche; und jetzt muß uns die Frage entſtehen, ob es dann noch überhaupt eine eigentliche Sittenpolizei neben dieſem Strafrecht der Unſittlichkeit gebe, und wenn, wo für dieſelbe in Beziehung auf das letztere die Gränze zu ſuchen ſei. Die Antwort auf dieſe Fragen enthält das Princip der eigentlichen Sittenpolizei unſerer Gegenwart.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 6. Stuttgart, 1868, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre06_1868/29>, abgerufen am 21.11.2024.