Verordnung des Staats geregelt, und der eigene Wille des Volkes in den Angelegenheiten der Verwaltung auf das äußerste Maß und unter beständiger Oberaufsicht des Staats beschränkt. Einen größern Gegensatz als diese beiden Länder hat die Geschichte niemals so nahe zusammen- gerückt, und das Betrachten dieser Völker wird so zur Grundlage des Verständnisses für das übrige Europa. Das gilt für die Verwaltung im Ganzen, und das gilt auch für das Bildungsrecht, sowohl für den Geist als selbst für die einzelnen Rechtssätze desselben.
Denn viel schwieriger ist das dritte große Kulturvolk Europas, das gleichsam zum Verständniß und zum Bewußtsein der andern bestimmt ist, das deutsche Volk. Deutschland unterscheidet sich von England und Frankreich dadurch, daß die ständische Gesellschaft nicht bloß besteht wie in England, sondern auch noch besondere öffentliche Rechte hat, während die staatsbürgerliche Gesellschaft wie in Frankreich allerdings besteht und herrscht, aber auf allen Punkten von dem Rechte der stän- dischen Gesellschaft beschränkt ist. Es hat sich daraus die eigenthümliche Folge ergeben, daß die Selbstverwaltung in Deutschland den Charakter der ständischen Welt annimmt, das ist, in lauter selbstständigen Körper- schaften auftritt, während die Staatsverwaltung sich dieselben in der Form der Oberaufsicht unterordnet, ohne sie doch wie in Frankreich ganz in sich aufzunehmen. Aber gerade dieser ständische Charakter der deutschen Selbstverwaltung ist von hohem Werthe, weil er es ist, der der letzteren gegenüber der mächtigen Staatsgewalt ihre Selb- ständigkeit erhielt, eine Selbständigkeit, welche sie in Frankreich ver- loren hat, die in England dagegen zur beinahe völligen Zersplitterung der Verwaltung führt. Denselben doppelten Charakter hat auch die Gesetzgebung; sie zeigt auf allen Punkten eine innige Verschmelzung des staatlichen Willens und der örtlichen Selbstbestimmung; und in dem Kampfe dieser beiden Faktoren entwickelt sich dasjenige Element, das Deutschland so hoch stellt, und ihm ganz eigenthümlich ist. Das ist die deutsche Wissenschaft, welche in der ihr entsprechenden Weise, durch beständiges ehrliches und gründliches Streben nach dem Wahren, zuletzt die Entscheidung in dem Streite jener beiden Elemente abgibt, und so in stiller aber mächtiger Wirksamkeit zu einer rechts- bildenden Potenz wird, wie sie in keinem andern Staate der Welt vorkommt. Daher hat Deutschland mehr einheitliche Wissenschaft als Gesetzgebung; jene ist es, welche diese ersetzt wo sie fehlt, und sie leitet, wo sie sich formuliren will; sie ist die höhere Instanz, an welche diese am letzten Orte appellirt, und nirgends ist daher Achtung und Macht der Wissenschaft höher als hier. Dieß gilt von der Verwaltung und ihrem Recht im Allgemeinen, vor allen Dingen aber von der Verwaltung
Verordnung des Staats geregelt, und der eigene Wille des Volkes in den Angelegenheiten der Verwaltung auf das äußerſte Maß und unter beſtändiger Oberaufſicht des Staats beſchränkt. Einen größern Gegenſatz als dieſe beiden Länder hat die Geſchichte niemals ſo nahe zuſammen- gerückt, und das Betrachten dieſer Völker wird ſo zur Grundlage des Verſtändniſſes für das übrige Europa. Das gilt für die Verwaltung im Ganzen, und das gilt auch für das Bildungsrecht, ſowohl für den Geiſt als ſelbſt für die einzelnen Rechtsſätze deſſelben.
Denn viel ſchwieriger iſt das dritte große Kulturvolk Europas, das gleichſam zum Verſtändniß und zum Bewußtſein der andern beſtimmt iſt, das deutſche Volk. Deutſchland unterſcheidet ſich von England und Frankreich dadurch, daß die ſtändiſche Geſellſchaft nicht bloß beſteht wie in England, ſondern auch noch beſondere öffentliche Rechte hat, während die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft wie in Frankreich allerdings beſteht und herrſcht, aber auf allen Punkten von dem Rechte der ſtän- diſchen Geſellſchaft beſchränkt iſt. Es hat ſich daraus die eigenthümliche Folge ergeben, daß die Selbſtverwaltung in Deutſchland den Charakter der ſtändiſchen Welt annimmt, das iſt, in lauter ſelbſtſtändigen Körper- ſchaften auftritt, während die Staatsverwaltung ſich dieſelben in der Form der Oberaufſicht unterordnet, ohne ſie doch wie in Frankreich ganz in ſich aufzunehmen. Aber gerade dieſer ſtändiſche Charakter der deutſchen Selbſtverwaltung iſt von hohem Werthe, weil er es iſt, der der letzteren gegenüber der mächtigen Staatsgewalt ihre Selb- ſtändigkeit erhielt, eine Selbſtändigkeit, welche ſie in Frankreich ver- loren hat, die in England dagegen zur beinahe völligen Zerſplitterung der Verwaltung führt. Denſelben doppelten Charakter hat auch die Geſetzgebung; ſie zeigt auf allen Punkten eine innige Verſchmelzung des ſtaatlichen Willens und der örtlichen Selbſtbeſtimmung; und in dem Kampfe dieſer beiden Faktoren entwickelt ſich dasjenige Element, das Deutſchland ſo hoch ſtellt, und ihm ganz eigenthümlich iſt. Das iſt die deutſche Wiſſenſchaft, welche in der ihr entſprechenden Weiſe, durch beſtändiges ehrliches und gründliches Streben nach dem Wahren, zuletzt die Entſcheidung in dem Streite jener beiden Elemente abgibt, und ſo in ſtiller aber mächtiger Wirkſamkeit zu einer rechts- bildenden Potenz wird, wie ſie in keinem andern Staate der Welt vorkommt. Daher hat Deutſchland mehr einheitliche Wiſſenſchaft als Geſetzgebung; jene iſt es, welche dieſe erſetzt wo ſie fehlt, und ſie leitet, wo ſie ſich formuliren will; ſie iſt die höhere Inſtanz, an welche dieſe am letzten Orte appellirt, und nirgends iſt daher Achtung und Macht der Wiſſenſchaft höher als hier. Dieß gilt von der Verwaltung und ihrem Recht im Allgemeinen, vor allen Dingen aber von der Verwaltung
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0070"n="42"/>
Verordnung des Staats geregelt, und der eigene Wille des Volkes in<lb/>
den Angelegenheiten der Verwaltung auf das äußerſte Maß und unter<lb/>
beſtändiger Oberaufſicht des Staats beſchränkt. Einen größern Gegenſatz<lb/>
als dieſe beiden Länder hat die Geſchichte niemals ſo nahe zuſammen-<lb/>
gerückt, und das Betrachten dieſer Völker wird ſo zur Grundlage des<lb/>
Verſtändniſſes für das übrige Europa. Das gilt für die Verwaltung<lb/>
im Ganzen, und das gilt auch für das Bildungsrecht, ſowohl für den<lb/>
Geiſt als ſelbſt für die einzelnen Rechtsſätze deſſelben.</p><lb/><p>Denn viel ſchwieriger iſt das dritte große Kulturvolk Europas,<lb/>
das gleichſam zum Verſtändniß und zum Bewußtſein der andern beſtimmt<lb/>
iſt, das <hirendition="#g">deutſche</hi> Volk. Deutſchland unterſcheidet ſich von England<lb/>
und Frankreich dadurch, daß die ſtändiſche Geſellſchaft nicht bloß beſteht<lb/>
wie in England, ſondern auch noch beſondere öffentliche Rechte hat,<lb/>
während die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft wie in Frankreich allerdings<lb/>
beſteht und herrſcht, aber auf allen Punkten von dem Rechte der ſtän-<lb/>
diſchen Geſellſchaft beſchränkt iſt. Es hat ſich daraus die eigenthümliche<lb/>
Folge ergeben, daß die Selbſtverwaltung in Deutſchland den Charakter<lb/>
der ſtändiſchen Welt annimmt, das iſt, in lauter ſelbſtſtändigen Körper-<lb/>ſchaften auftritt, während die Staatsverwaltung ſich dieſelben in der<lb/>
Form der Oberaufſicht unterordnet, ohne ſie doch wie in Frankreich<lb/>
ganz in ſich aufzunehmen. Aber gerade dieſer ſtändiſche Charakter<lb/>
der deutſchen Selbſtverwaltung iſt von hohem Werthe, weil er es iſt,<lb/>
der der letzteren gegenüber der mächtigen Staatsgewalt ihre Selb-<lb/>ſtändigkeit erhielt, eine Selbſtändigkeit, welche ſie in Frankreich ver-<lb/>
loren hat, die in England dagegen zur beinahe völligen Zerſplitterung<lb/>
der Verwaltung führt. Denſelben doppelten Charakter hat auch die<lb/>
Geſetzgebung; ſie zeigt auf allen Punkten eine innige Verſchmelzung<lb/>
des ſtaatlichen Willens und der örtlichen Selbſtbeſtimmung; und in<lb/>
dem Kampfe dieſer beiden Faktoren entwickelt ſich dasjenige Element,<lb/>
das Deutſchland ſo hoch ſtellt, und ihm ganz eigenthümlich iſt. Das<lb/>
iſt die deutſche <hirendition="#g">Wiſſenſchaft</hi>, welche in der ihr entſprechenden<lb/>
Weiſe, durch beſtändiges ehrliches und gründliches Streben nach dem<lb/>
Wahren, zuletzt die Entſcheidung in dem Streite jener beiden Elemente<lb/>
abgibt, und ſo in ſtiller aber mächtiger Wirkſamkeit zu einer rechts-<lb/>
bildenden Potenz wird, wie ſie in keinem andern Staate der Welt<lb/>
vorkommt. Daher hat Deutſchland mehr einheitliche Wiſſenſchaft als<lb/>
Geſetzgebung; jene iſt es, welche dieſe erſetzt wo ſie fehlt, und ſie leitet,<lb/>
wo ſie ſich formuliren will; ſie iſt die höhere Inſtanz, an welche dieſe<lb/>
am letzten Orte appellirt, und nirgends iſt daher Achtung und Macht<lb/>
der Wiſſenſchaft höher als hier. Dieß gilt von der Verwaltung und<lb/>
ihrem Recht im Allgemeinen, vor allen Dingen aber von der Verwaltung<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[42/0070]
Verordnung des Staats geregelt, und der eigene Wille des Volkes in
den Angelegenheiten der Verwaltung auf das äußerſte Maß und unter
beſtändiger Oberaufſicht des Staats beſchränkt. Einen größern Gegenſatz
als dieſe beiden Länder hat die Geſchichte niemals ſo nahe zuſammen-
gerückt, und das Betrachten dieſer Völker wird ſo zur Grundlage des
Verſtändniſſes für das übrige Europa. Das gilt für die Verwaltung
im Ganzen, und das gilt auch für das Bildungsrecht, ſowohl für den
Geiſt als ſelbſt für die einzelnen Rechtsſätze deſſelben.
Denn viel ſchwieriger iſt das dritte große Kulturvolk Europas,
das gleichſam zum Verſtändniß und zum Bewußtſein der andern beſtimmt
iſt, das deutſche Volk. Deutſchland unterſcheidet ſich von England
und Frankreich dadurch, daß die ſtändiſche Geſellſchaft nicht bloß beſteht
wie in England, ſondern auch noch beſondere öffentliche Rechte hat,
während die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft wie in Frankreich allerdings
beſteht und herrſcht, aber auf allen Punkten von dem Rechte der ſtän-
diſchen Geſellſchaft beſchränkt iſt. Es hat ſich daraus die eigenthümliche
Folge ergeben, daß die Selbſtverwaltung in Deutſchland den Charakter
der ſtändiſchen Welt annimmt, das iſt, in lauter ſelbſtſtändigen Körper-
ſchaften auftritt, während die Staatsverwaltung ſich dieſelben in der
Form der Oberaufſicht unterordnet, ohne ſie doch wie in Frankreich
ganz in ſich aufzunehmen. Aber gerade dieſer ſtändiſche Charakter
der deutſchen Selbſtverwaltung iſt von hohem Werthe, weil er es iſt,
der der letzteren gegenüber der mächtigen Staatsgewalt ihre Selb-
ſtändigkeit erhielt, eine Selbſtändigkeit, welche ſie in Frankreich ver-
loren hat, die in England dagegen zur beinahe völligen Zerſplitterung
der Verwaltung führt. Denſelben doppelten Charakter hat auch die
Geſetzgebung; ſie zeigt auf allen Punkten eine innige Verſchmelzung
des ſtaatlichen Willens und der örtlichen Selbſtbeſtimmung; und in
dem Kampfe dieſer beiden Faktoren entwickelt ſich dasjenige Element,
das Deutſchland ſo hoch ſtellt, und ihm ganz eigenthümlich iſt. Das
iſt die deutſche Wiſſenſchaft, welche in der ihr entſprechenden
Weiſe, durch beſtändiges ehrliches und gründliches Streben nach dem
Wahren, zuletzt die Entſcheidung in dem Streite jener beiden Elemente
abgibt, und ſo in ſtiller aber mächtiger Wirkſamkeit zu einer rechts-
bildenden Potenz wird, wie ſie in keinem andern Staate der Welt
vorkommt. Daher hat Deutſchland mehr einheitliche Wiſſenſchaft als
Geſetzgebung; jene iſt es, welche dieſe erſetzt wo ſie fehlt, und ſie leitet,
wo ſie ſich formuliren will; ſie iſt die höhere Inſtanz, an welche dieſe
am letzten Orte appellirt, und nirgends iſt daher Achtung und Macht
der Wiſſenſchaft höher als hier. Dieß gilt von der Verwaltung und
ihrem Recht im Allgemeinen, vor allen Dingen aber von der Verwaltung
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/70>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.