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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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Verordnung des Staats geregelt, und der eigene Wille des Volkes in
den Angelegenheiten der Verwaltung auf das äußerste Maß und unter
beständiger Oberaufsicht des Staats beschränkt. Einen größern Gegensatz
als diese beiden Länder hat die Geschichte niemals so nahe zusammen-
gerückt, und das Betrachten dieser Völker wird so zur Grundlage des
Verständnisses für das übrige Europa. Das gilt für die Verwaltung
im Ganzen, und das gilt auch für das Bildungsrecht, sowohl für den
Geist als selbst für die einzelnen Rechtssätze desselben.

Denn viel schwieriger ist das dritte große Kulturvolk Europas,
das gleichsam zum Verständniß und zum Bewußtsein der andern bestimmt
ist, das deutsche Volk. Deutschland unterscheidet sich von England
und Frankreich dadurch, daß die ständische Gesellschaft nicht bloß besteht
wie in England, sondern auch noch besondere öffentliche Rechte hat,
während die staatsbürgerliche Gesellschaft wie in Frankreich allerdings
besteht und herrscht, aber auf allen Punkten von dem Rechte der stän-
dischen Gesellschaft beschränkt ist. Es hat sich daraus die eigenthümliche
Folge ergeben, daß die Selbstverwaltung in Deutschland den Charakter
der ständischen Welt annimmt, das ist, in lauter selbstständigen Körper-
schaften auftritt, während die Staatsverwaltung sich dieselben in der
Form der Oberaufsicht unterordnet, ohne sie doch wie in Frankreich
ganz in sich aufzunehmen. Aber gerade dieser ständische Charakter
der deutschen Selbstverwaltung ist von hohem Werthe, weil er es ist,
der der letzteren gegenüber der mächtigen Staatsgewalt ihre Selb-
ständigkeit erhielt, eine Selbständigkeit, welche sie in Frankreich ver-
loren hat, die in England dagegen zur beinahe völligen Zersplitterung
der Verwaltung führt. Denselben doppelten Charakter hat auch die
Gesetzgebung; sie zeigt auf allen Punkten eine innige Verschmelzung
des staatlichen Willens und der örtlichen Selbstbestimmung; und in
dem Kampfe dieser beiden Faktoren entwickelt sich dasjenige Element,
das Deutschland so hoch stellt, und ihm ganz eigenthümlich ist. Das
ist die deutsche Wissenschaft, welche in der ihr entsprechenden
Weise, durch beständiges ehrliches und gründliches Streben nach dem
Wahren, zuletzt die Entscheidung in dem Streite jener beiden Elemente
abgibt, und so in stiller aber mächtiger Wirksamkeit zu einer rechts-
bildenden Potenz wird, wie sie in keinem andern Staate der Welt
vorkommt. Daher hat Deutschland mehr einheitliche Wissenschaft als
Gesetzgebung; jene ist es, welche diese ersetzt wo sie fehlt, und sie leitet,
wo sie sich formuliren will; sie ist die höhere Instanz, an welche diese
am letzten Orte appellirt, und nirgends ist daher Achtung und Macht
der Wissenschaft höher als hier. Dieß gilt von der Verwaltung und
ihrem Recht im Allgemeinen, vor allen Dingen aber von der Verwaltung

Verordnung des Staats geregelt, und der eigene Wille des Volkes in
den Angelegenheiten der Verwaltung auf das äußerſte Maß und unter
beſtändiger Oberaufſicht des Staats beſchränkt. Einen größern Gegenſatz
als dieſe beiden Länder hat die Geſchichte niemals ſo nahe zuſammen-
gerückt, und das Betrachten dieſer Völker wird ſo zur Grundlage des
Verſtändniſſes für das übrige Europa. Das gilt für die Verwaltung
im Ganzen, und das gilt auch für das Bildungsrecht, ſowohl für den
Geiſt als ſelbſt für die einzelnen Rechtsſätze deſſelben.

Denn viel ſchwieriger iſt das dritte große Kulturvolk Europas,
das gleichſam zum Verſtändniß und zum Bewußtſein der andern beſtimmt
iſt, das deutſche Volk. Deutſchland unterſcheidet ſich von England
und Frankreich dadurch, daß die ſtändiſche Geſellſchaft nicht bloß beſteht
wie in England, ſondern auch noch beſondere öffentliche Rechte hat,
während die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft wie in Frankreich allerdings
beſteht und herrſcht, aber auf allen Punkten von dem Rechte der ſtän-
diſchen Geſellſchaft beſchränkt iſt. Es hat ſich daraus die eigenthümliche
Folge ergeben, daß die Selbſtverwaltung in Deutſchland den Charakter
der ſtändiſchen Welt annimmt, das iſt, in lauter ſelbſtſtändigen Körper-
ſchaften auftritt, während die Staatsverwaltung ſich dieſelben in der
Form der Oberaufſicht unterordnet, ohne ſie doch wie in Frankreich
ganz in ſich aufzunehmen. Aber gerade dieſer ſtändiſche Charakter
der deutſchen Selbſtverwaltung iſt von hohem Werthe, weil er es iſt,
der der letzteren gegenüber der mächtigen Staatsgewalt ihre Selb-
ſtändigkeit erhielt, eine Selbſtändigkeit, welche ſie in Frankreich ver-
loren hat, die in England dagegen zur beinahe völligen Zerſplitterung
der Verwaltung führt. Denſelben doppelten Charakter hat auch die
Geſetzgebung; ſie zeigt auf allen Punkten eine innige Verſchmelzung
des ſtaatlichen Willens und der örtlichen Selbſtbeſtimmung; und in
dem Kampfe dieſer beiden Faktoren entwickelt ſich dasjenige Element,
das Deutſchland ſo hoch ſtellt, und ihm ganz eigenthümlich iſt. Das
iſt die deutſche Wiſſenſchaft, welche in der ihr entſprechenden
Weiſe, durch beſtändiges ehrliches und gründliches Streben nach dem
Wahren, zuletzt die Entſcheidung in dem Streite jener beiden Elemente
abgibt, und ſo in ſtiller aber mächtiger Wirkſamkeit zu einer rechts-
bildenden Potenz wird, wie ſie in keinem andern Staate der Welt
vorkommt. Daher hat Deutſchland mehr einheitliche Wiſſenſchaft als
Geſetzgebung; jene iſt es, welche dieſe erſetzt wo ſie fehlt, und ſie leitet,
wo ſie ſich formuliren will; ſie iſt die höhere Inſtanz, an welche dieſe
am letzten Orte appellirt, und nirgends iſt daher Achtung und Macht
der Wiſſenſchaft höher als hier. Dieß gilt von der Verwaltung und
ihrem Recht im Allgemeinen, vor allen Dingen aber von der Verwaltung

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[42/0070] Verordnung des Staats geregelt, und der eigene Wille des Volkes in den Angelegenheiten der Verwaltung auf das äußerſte Maß und unter beſtändiger Oberaufſicht des Staats beſchränkt. Einen größern Gegenſatz als dieſe beiden Länder hat die Geſchichte niemals ſo nahe zuſammen- gerückt, und das Betrachten dieſer Völker wird ſo zur Grundlage des Verſtändniſſes für das übrige Europa. Das gilt für die Verwaltung im Ganzen, und das gilt auch für das Bildungsrecht, ſowohl für den Geiſt als ſelbſt für die einzelnen Rechtsſätze deſſelben. Denn viel ſchwieriger iſt das dritte große Kulturvolk Europas, das gleichſam zum Verſtändniß und zum Bewußtſein der andern beſtimmt iſt, das deutſche Volk. Deutſchland unterſcheidet ſich von England und Frankreich dadurch, daß die ſtändiſche Geſellſchaft nicht bloß beſteht wie in England, ſondern auch noch beſondere öffentliche Rechte hat, während die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft wie in Frankreich allerdings beſteht und herrſcht, aber auf allen Punkten von dem Rechte der ſtän- diſchen Geſellſchaft beſchränkt iſt. Es hat ſich daraus die eigenthümliche Folge ergeben, daß die Selbſtverwaltung in Deutſchland den Charakter der ſtändiſchen Welt annimmt, das iſt, in lauter ſelbſtſtändigen Körper- ſchaften auftritt, während die Staatsverwaltung ſich dieſelben in der Form der Oberaufſicht unterordnet, ohne ſie doch wie in Frankreich ganz in ſich aufzunehmen. Aber gerade dieſer ſtändiſche Charakter der deutſchen Selbſtverwaltung iſt von hohem Werthe, weil er es iſt, der der letzteren gegenüber der mächtigen Staatsgewalt ihre Selb- ſtändigkeit erhielt, eine Selbſtändigkeit, welche ſie in Frankreich ver- loren hat, die in England dagegen zur beinahe völligen Zerſplitterung der Verwaltung führt. Denſelben doppelten Charakter hat auch die Geſetzgebung; ſie zeigt auf allen Punkten eine innige Verſchmelzung des ſtaatlichen Willens und der örtlichen Selbſtbeſtimmung; und in dem Kampfe dieſer beiden Faktoren entwickelt ſich dasjenige Element, das Deutſchland ſo hoch ſtellt, und ihm ganz eigenthümlich iſt. Das iſt die deutſche Wiſſenſchaft, welche in der ihr entſprechenden Weiſe, durch beſtändiges ehrliches und gründliches Streben nach dem Wahren, zuletzt die Entſcheidung in dem Streite jener beiden Elemente abgibt, und ſo in ſtiller aber mächtiger Wirkſamkeit zu einer rechts- bildenden Potenz wird, wie ſie in keinem andern Staate der Welt vorkommt. Daher hat Deutſchland mehr einheitliche Wiſſenſchaft als Geſetzgebung; jene iſt es, welche dieſe erſetzt wo ſie fehlt, und ſie leitet, wo ſie ſich formuliren will; ſie iſt die höhere Inſtanz, an welche dieſe am letzten Orte appellirt, und nirgends iſt daher Achtung und Macht der Wiſſenſchaft höher als hier. Dieß gilt von der Verwaltung und ihrem Recht im Allgemeinen, vor allen Dingen aber von der Verwaltung

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/70>, abgerufen am 22.11.2024.