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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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bestandenen Examens als Bedingung der Anstellung oder der Aus-
übung eines öffentlichen Berufes fremd ist, während erst mit unserm
Jahrhundert neben dieß ständische Berufsbildungswesen sich allmählig
ein zweites hinstellt, das staatsbürgerliche, das seinerseits sich auf die
Natur der Sache angewiesen fühlt, und nicht auf ständische Traditionen.
Dieß Berufsbildungswesen entwickelt daher die zwei großen Momente,
welche dasselbe von der alten ständischen Form scheiden. Zuerst trennt
es das Vorbildungswesen von der Fachbildung, wenn gleich in höchst
unvollkommener Form; dann entwickelt es neben und in der Vorbil-
dung den Unterschied der wirthschaftlichen Bildung von der wissen-
schaftlichen, wenn auch ohne rechtes System. Das Auftreten der staats-
bürgerlichen Gesellschaft hat daher zur Folge, daß die großen Grundzüge
der deutschen Berufsbildung durch die Bedürfnisse und Kräfte der Ge-
sellschaft sich von selbst erzeugen. Allein der Mangel des staat-
lichen Einflusses zeigt sich hier in zwei Dingen. Zuerst fehlt dieser
Bildung das System, die Einheit und die Gleichmäßigkeit in allen
seinen Theilen, und die Bildungsanstalten selbst, jedem Einfluß und
jeder Unterstützung des Staats entzogen, erscheinen mit allen Zu-
fälligkeiten privater Unternehmungen. Dann sind die Fachbildungs-
anstalten so gut als gar nicht vorhanden, und hier zeigt sich die
wichtige Thatsache, daß dieselben entweder gar nicht, oder nur sehr
schwer auf der freien Thätigkeit der Gesellschaft basirt werden können.
Endlich aber ergibt sich, daß so lange die rein ständischen Fachbildungs-
anstalten neben den staatsbürgerlichen bestehen, beide nicht zum
rechten Gedeihen gelangen können, da natürlich die ersteren ihre un-
organische Methode und ihre Prüfungslosigkeit auf die letzteren über-
tragen. Hier liegt der eigentliche organische Mangel des englischen
Berufsbildungswesens, der jede unmittelbare Vergleichung mit dem
deutschen so schwer thunlich macht. England hat zwar Universitäten,
aber keine Universitätsbildung, wie Frankreich zwar Facultäten aber
keine Universität hat. Und die große und eigentliche Frage, welche
man an das englische Berufsbildungswesen zu stellen hat ist die, ob
dasselbe überhaupt ohne die eigentliche Universitätsbildung auf die
Dauer wird bestehen können. Wir müssen diese Frage verneinen. Wir
sind vielmehr der vollkommenen Ueberzeugung, daß England, einmal auf
der Bahn der staatsbürgerlichen Entwicklung seines Bildungswesens
begriffen, die Aufgabe hat, das systematische deutsche Element bei sich
zu verarbeiten, wie andererseits Deutschland das England eigenthüm-
liche der Charakterentwicklung mit seinem zu strengen System zu ver-
schmelzen haben wird.

Nach diesen Voraussetzungen wird es nun wohl klar sein, weß-

beſtandenen Examens als Bedingung der Anſtellung oder der Aus-
übung eines öffentlichen Berufes fremd iſt, während erſt mit unſerm
Jahrhundert neben dieß ſtändiſche Berufsbildungsweſen ſich allmählig
ein zweites hinſtellt, das ſtaatsbürgerliche, das ſeinerſeits ſich auf die
Natur der Sache angewieſen fühlt, und nicht auf ſtändiſche Traditionen.
Dieß Berufsbildungsweſen entwickelt daher die zwei großen Momente,
welche daſſelbe von der alten ſtändiſchen Form ſcheiden. Zuerſt trennt
es das Vorbildungsweſen von der Fachbildung, wenn gleich in höchſt
unvollkommener Form; dann entwickelt es neben und in der Vorbil-
dung den Unterſchied der wirthſchaftlichen Bildung von der wiſſen-
ſchaftlichen, wenn auch ohne rechtes Syſtem. Das Auftreten der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft hat daher zur Folge, daß die großen Grundzüge
der deutſchen Berufsbildung durch die Bedürfniſſe und Kräfte der Ge-
ſellſchaft ſich von ſelbſt erzeugen. Allein der Mangel des ſtaat-
lichen Einfluſſes zeigt ſich hier in zwei Dingen. Zuerſt fehlt dieſer
Bildung das Syſtem, die Einheit und die Gleichmäßigkeit in allen
ſeinen Theilen, und die Bildungsanſtalten ſelbſt, jedem Einfluß und
jeder Unterſtützung des Staats entzogen, erſcheinen mit allen Zu-
fälligkeiten privater Unternehmungen. Dann ſind die Fachbildungs-
anſtalten ſo gut als gar nicht vorhanden, und hier zeigt ſich die
wichtige Thatſache, daß dieſelben entweder gar nicht, oder nur ſehr
ſchwer auf der freien Thätigkeit der Geſellſchaft baſirt werden können.
Endlich aber ergibt ſich, daß ſo lange die rein ſtändiſchen Fachbildungs-
anſtalten neben den ſtaatsbürgerlichen beſtehen, beide nicht zum
rechten Gedeihen gelangen können, da natürlich die erſteren ihre un-
organiſche Methode und ihre Prüfungsloſigkeit auf die letzteren über-
tragen. Hier liegt der eigentliche organiſche Mangel des engliſchen
Berufsbildungsweſens, der jede unmittelbare Vergleichung mit dem
deutſchen ſo ſchwer thunlich macht. England hat zwar Univerſitäten,
aber keine Univerſitätsbildung, wie Frankreich zwar Facultäten aber
keine Univerſität hat. Und die große und eigentliche Frage, welche
man an das engliſche Berufsbildungsweſen zu ſtellen hat iſt die, ob
daſſelbe überhaupt ohne die eigentliche Univerſitätsbildung auf die
Dauer wird beſtehen können. Wir müſſen dieſe Frage verneinen. Wir
ſind vielmehr der vollkommenen Ueberzeugung, daß England, einmal auf
der Bahn der ſtaatsbürgerlichen Entwicklung ſeines Bildungsweſens
begriffen, die Aufgabe hat, das ſyſtematiſche deutſche Element bei ſich
zu verarbeiten, wie andererſeits Deutſchland das England eigenthüm-
liche der Charakterentwicklung mit ſeinem zu ſtrengen Syſtem zu ver-
ſchmelzen haben wird.

Nach dieſen Vorausſetzungen wird es nun wohl klar ſein, weß-

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[325/0353] beſtandenen Examens als Bedingung der Anſtellung oder der Aus- übung eines öffentlichen Berufes fremd iſt, während erſt mit unſerm Jahrhundert neben dieß ſtändiſche Berufsbildungsweſen ſich allmählig ein zweites hinſtellt, das ſtaatsbürgerliche, das ſeinerſeits ſich auf die Natur der Sache angewieſen fühlt, und nicht auf ſtändiſche Traditionen. Dieß Berufsbildungsweſen entwickelt daher die zwei großen Momente, welche daſſelbe von der alten ſtändiſchen Form ſcheiden. Zuerſt trennt es das Vorbildungsweſen von der Fachbildung, wenn gleich in höchſt unvollkommener Form; dann entwickelt es neben und in der Vorbil- dung den Unterſchied der wirthſchaftlichen Bildung von der wiſſen- ſchaftlichen, wenn auch ohne rechtes Syſtem. Das Auftreten der ſtaats- bürgerlichen Geſellſchaft hat daher zur Folge, daß die großen Grundzüge der deutſchen Berufsbildung durch die Bedürfniſſe und Kräfte der Ge- ſellſchaft ſich von ſelbſt erzeugen. Allein der Mangel des ſtaat- lichen Einfluſſes zeigt ſich hier in zwei Dingen. Zuerſt fehlt dieſer Bildung das Syſtem, die Einheit und die Gleichmäßigkeit in allen ſeinen Theilen, und die Bildungsanſtalten ſelbſt, jedem Einfluß und jeder Unterſtützung des Staats entzogen, erſcheinen mit allen Zu- fälligkeiten privater Unternehmungen. Dann ſind die Fachbildungs- anſtalten ſo gut als gar nicht vorhanden, und hier zeigt ſich die wichtige Thatſache, daß dieſelben entweder gar nicht, oder nur ſehr ſchwer auf der freien Thätigkeit der Geſellſchaft baſirt werden können. Endlich aber ergibt ſich, daß ſo lange die rein ſtändiſchen Fachbildungs- anſtalten neben den ſtaatsbürgerlichen beſtehen, beide nicht zum rechten Gedeihen gelangen können, da natürlich die erſteren ihre un- organiſche Methode und ihre Prüfungsloſigkeit auf die letzteren über- tragen. Hier liegt der eigentliche organiſche Mangel des engliſchen Berufsbildungsweſens, der jede unmittelbare Vergleichung mit dem deutſchen ſo ſchwer thunlich macht. England hat zwar Univerſitäten, aber keine Univerſitätsbildung, wie Frankreich zwar Facultäten aber keine Univerſität hat. Und die große und eigentliche Frage, welche man an das engliſche Berufsbildungsweſen zu ſtellen hat iſt die, ob daſſelbe überhaupt ohne die eigentliche Univerſitätsbildung auf die Dauer wird beſtehen können. Wir müſſen dieſe Frage verneinen. Wir ſind vielmehr der vollkommenen Ueberzeugung, daß England, einmal auf der Bahn der ſtaatsbürgerlichen Entwicklung ſeines Bildungsweſens begriffen, die Aufgabe hat, das ſyſtematiſche deutſche Element bei ſich zu verarbeiten, wie andererſeits Deutſchland das England eigenthüm- liche der Charakterentwicklung mit ſeinem zu ſtrengen Syſtem zu ver- ſchmelzen haben wird. Nach dieſen Vorausſetzungen wird es nun wohl klar ſein, weß-

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/353>, abgerufen am 24.11.2024.