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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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Ministerium Duruy, das dem Gründer des strengen Bifurcationssystems,
Fortoul, folgte, fühlte das sehr wohl, und hat sich daher durch einen
großen und energischen Versuch ausgezeichnet, jenes System zu besei-
tigen. Schon das Decret vom 29. September 1863 änderte die Stel-
lung der modernen Sprachen, indem das Englische und Deutsche (event.
das Italienische und Spanische) in die wissenschaftliche Abtheilung ver-
legt, und für diese als obligatorisch erklärt wurde. Das Circulär vom
2. October 1863 erklärte dann, daß man an die Stelle des "künst-
lichen Bifurcationssystemes eine natürliche Zweitheilung der construc-
tion secondaire
setzen" wolle, und das Decret vom 4. Februar 1864 sprach
endlich formell aus, daß die Theilung in die section des lettres und
die section des sciences, die das Decret 10. April 1852 eingeführt
hatte, definitiv aufgehoben sei. Allein gleichzeitig ward daneben ein
Curs der sogenannten "Elementarmathematik" für die Lyceen eingeführt,
in dem die Zöglinge nach Vollendung der troisieme übergehen können
und welcher zu den mathematiques speciales hinüberführen soll. Da-
mit war dem Wesen der Sache nach das alte Bifurcationssystem
vollständig erhalten, denn an die beiden wahren Wurzeln desselben hat
Duruy durchaus nicht gerührt. Die erste dieser auch jetzt unerschütterten
Grundlagen des alten Systems besteht nach wie vor darin, daß das
Lyceum ein Ganzes bleibt, in welchem das ganze Gebiet der wirth-
schaftlichen wie der wissenschaftlichen Vorbildung geboten wird, so daß
durch die neuen Verordnungen nur die äußere Anordnung der Stoffe
und der Uebergänge etwas anders geworden ist. Von einer Selbstän-
digkeit eines Realschulsystems neben dem Gymnasialsystem in
eignen Anstalten mit eignen Lehrern, womit das Princip der Bifur-
cation erst beseitigt werden würde, ist nach wie vor keine Rede; die
realistischen Fächer bleiben nach wie vor Fächer des Lyceums, wenn
sie auch nicht mehr wie früher gerade section des sciences heißen; und
daher bleibt für deutsche Logik die Bestimmung des Circulärs vom
21. März 1863 unverständlich, nach welchem zwar das Bifurcations-
system beseitigt sein, aber dennoch in demselben Lyceum ein Examen
für die lettres im früher angegebnen Sinne des baccalaureat es lettres,
ein andres für die sciences des baccalaureat es sciences geben soll,
neben denen noch das Examen für die mathematiques speciales die
Bedingung des Eintrittes in die Ecole polytechnique und von dieser
in die Ecole des ponts et chaussees möglich macht. An der zweiten
Basis des alten Systems, dem gemeinsamen Pensionat für die Zög-
linge des ganzen Lyceums, das eine äußerliche Scheidung und Auf-
stellung der Realschulen gar nicht aufkommen läßt, hat diese neueste
Gesetzgebung nicht entfernt gerüttelt. Trotz aller Emphase, mit der

Miniſterium Duruy, das dem Gründer des ſtrengen Bifurcationsſyſtems,
Fortoul, folgte, fühlte das ſehr wohl, und hat ſich daher durch einen
großen und energiſchen Verſuch ausgezeichnet, jenes Syſtem zu beſei-
tigen. Schon das Decret vom 29. September 1863 änderte die Stel-
lung der modernen Sprachen, indem das Engliſche und Deutſche (event.
das Italieniſche und Spaniſche) in die wiſſenſchaftliche Abtheilung ver-
legt, und für dieſe als obligatoriſch erklärt wurde. Das Circulär vom
2. October 1863 erklärte dann, daß man an die Stelle des „künſt-
lichen Bifurcationsſyſtemes eine natürliche Zweitheilung der construc-
tion secondaire
ſetzen“ wolle, und das Decret vom 4. Februar 1864 ſprach
endlich formell aus, daß die Theilung in die section des lettres und
die section des sciences, die das Decret 10. April 1852 eingeführt
hatte, definitiv aufgehoben ſei. Allein gleichzeitig ward daneben ein
Curs der ſogenannten „Elementarmathematik“ für die Lyceen eingeführt,
in dem die Zöglinge nach Vollendung der troisième übergehen können
und welcher zu den mathématiques spéciales hinüberführen ſoll. Da-
mit war dem Weſen der Sache nach das alte Bifurcationsſyſtem
vollſtändig erhalten, denn an die beiden wahren Wurzeln deſſelben hat
Duruy durchaus nicht gerührt. Die erſte dieſer auch jetzt unerſchütterten
Grundlagen des alten Syſtems beſteht nach wie vor darin, daß das
Lyceum ein Ganzes bleibt, in welchem das ganze Gebiet der wirth-
ſchaftlichen wie der wiſſenſchaftlichen Vorbildung geboten wird, ſo daß
durch die neuen Verordnungen nur die äußere Anordnung der Stoffe
und der Uebergänge etwas anders geworden iſt. Von einer Selbſtän-
digkeit eines Realſchulſyſtems neben dem Gymnaſialſyſtem in
eignen Anſtalten mit eignen Lehrern, womit das Princip der Bifur-
cation erſt beſeitigt werden würde, iſt nach wie vor keine Rede; die
realiſtiſchen Fächer bleiben nach wie vor Fächer des Lyceums, wenn
ſie auch nicht mehr wie früher gerade section des sciences heißen; und
daher bleibt für deutſche Logik die Beſtimmung des Circulärs vom
21. März 1863 unverſtändlich, nach welchem zwar das Bifurcations-
ſyſtem beſeitigt ſein, aber dennoch in demſelben Lyceum ein Examen
für die lettres im früher angegebnen Sinne des baccalauréat ès lettres,
ein andres für die sciences des baccalauréat ès sciences geben ſoll,
neben denen noch das Examen für die mathématiques spéciales die
Bedingung des Eintrittes in die École polytechnique und von dieſer
in die École des ponts et chaussées möglich macht. An der zweiten
Baſis des alten Syſtems, dem gemeinſamen Penſionat für die Zög-
linge des ganzen Lyceums, das eine äußerliche Scheidung und Auf-
ſtellung der Realſchulen gar nicht aufkommen läßt, hat dieſe neueſte
Geſetzgebung nicht entfernt gerüttelt. Trotz aller Emphaſe, mit der

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[306/0334] Miniſterium Duruy, das dem Gründer des ſtrengen Bifurcationsſyſtems, Fortoul, folgte, fühlte das ſehr wohl, und hat ſich daher durch einen großen und energiſchen Verſuch ausgezeichnet, jenes Syſtem zu beſei- tigen. Schon das Decret vom 29. September 1863 änderte die Stel- lung der modernen Sprachen, indem das Engliſche und Deutſche (event. das Italieniſche und Spaniſche) in die wiſſenſchaftliche Abtheilung ver- legt, und für dieſe als obligatoriſch erklärt wurde. Das Circulär vom 2. October 1863 erklärte dann, daß man an die Stelle des „künſt- lichen Bifurcationsſyſtemes eine natürliche Zweitheilung der construc- tion secondaire ſetzen“ wolle, und das Decret vom 4. Februar 1864 ſprach endlich formell aus, daß die Theilung in die section des lettres und die section des sciences, die das Decret 10. April 1852 eingeführt hatte, definitiv aufgehoben ſei. Allein gleichzeitig ward daneben ein Curs der ſogenannten „Elementarmathematik“ für die Lyceen eingeführt, in dem die Zöglinge nach Vollendung der troisième übergehen können und welcher zu den mathématiques spéciales hinüberführen ſoll. Da- mit war dem Weſen der Sache nach das alte Bifurcationsſyſtem vollſtändig erhalten, denn an die beiden wahren Wurzeln deſſelben hat Duruy durchaus nicht gerührt. Die erſte dieſer auch jetzt unerſchütterten Grundlagen des alten Syſtems beſteht nach wie vor darin, daß das Lyceum ein Ganzes bleibt, in welchem das ganze Gebiet der wirth- ſchaftlichen wie der wiſſenſchaftlichen Vorbildung geboten wird, ſo daß durch die neuen Verordnungen nur die äußere Anordnung der Stoffe und der Uebergänge etwas anders geworden iſt. Von einer Selbſtän- digkeit eines Realſchulſyſtems neben dem Gymnaſialſyſtem in eignen Anſtalten mit eignen Lehrern, womit das Princip der Bifur- cation erſt beſeitigt werden würde, iſt nach wie vor keine Rede; die realiſtiſchen Fächer bleiben nach wie vor Fächer des Lyceums, wenn ſie auch nicht mehr wie früher gerade section des sciences heißen; und daher bleibt für deutſche Logik die Beſtimmung des Circulärs vom 21. März 1863 unverſtändlich, nach welchem zwar das Bifurcations- ſyſtem beſeitigt ſein, aber dennoch in demſelben Lyceum ein Examen für die lettres im früher angegebnen Sinne des baccalauréat ès lettres, ein andres für die sciences des baccalauréat ès sciences geben ſoll, neben denen noch das Examen für die mathématiques spéciales die Bedingung des Eintrittes in die École polytechnique und von dieſer in die École des ponts et chaussées möglich macht. An der zweiten Baſis des alten Syſtems, dem gemeinſamen Penſionat für die Zög- linge des ganzen Lyceums, das eine äußerliche Scheidung und Auf- ſtellung der Realſchulen gar nicht aufkommen läßt, hat dieſe neueſte Geſetzgebung nicht entfernt gerüttelt. Trotz aller Emphaſe, mit der

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/334>, abgerufen am 26.11.2024.