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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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Dieß erste der beiden obigen Stadien des öffentlichen Berufsbildungs-
wesens ist nun das der Bildungslosigkeit. Die Zünfte und In-
nungen sind aufgehoben, die Universitäten sind verschwunden. Es gibt
weder Meister noch Gesellen, weder Doktoren noch Baccalauren. Jeder
hilft sich so gut er kann. Der Staat selbst macht durchaus keine An-
sprüche mehr auf eine Fachbildung für seine Beamteten. Die Republik
wählt nach der Gesinnungstüchtigkeit und nicht nach der Fähigkeit.
Nicht einmal für das Richteramt wird in dieser Zeit nach einer Be-
fähigung gefragt; wozu auch, wenn man in dem Geschwornengericht
den Bürger zum Richter über Leben und Tod setzt, für das Civilrecht
gelehrte Richter? Und hätte man sie gewollt, was denn hätten diese
Männer eigentlich lernen sollen? Das alte Recht ward gründlich ver-
nichtet, das neue war noch nicht da. Das Princip der Verwaltung
war unbedingter amtlicher Gehorsam gegen die oberen Organe; dem
zur Seite ging, wie es die Lehre von der vollziehenden Gewalt zeigt,
der Grundsatz, daß die Handlungen dieser Beamteten vor keinen Richter-
stuhl gezogen, sondern nur von der höheren Behörde im droit admini-
stratif
untersucht und abgeurtheilt werden. Das Objekt der Fachbildung
fehlte; wie konnte es eine Organisation derselben geben? Und dasselbe
galt für die wirthschaftliche Welt vermöge der völligen Gewerbefreiheit.
Eine Beschränkung der letztern war undenkbar -- woher hätte eine
Fachbildung für sie kommen sollen? So war die Bildungslosigkeit
dieser Zeit nicht bloß eine Thatsache, sondern sie war die natürliche,
unabweisbare Consequenz der socialen Zustände, welche auf allen
Punkten das Alte vernichtet hatten und das Neue erst gestalten sollten.

Der große Proceß nun, welcher auf der neuen Basis die neue
öffentlich rechtliche Ordnung in allen Gebieten herstellt, geht von
Napoleon aus. Die Macht dieses Mannes beruhte nicht zum geringsten
Theile darauf, daß er zuerst unter allen Männern der Revolution
einen Sinn für die Verwaltung hatte. Er ist der Schöpfer des
gegenwärtigen Systems der Administration in Frankreich; er ist auch
der Schöpfer des Bildungswesens. Aber auch in dieser seiner mächtigen
Schöpfung stand er unter den Gesetzen, welche für die Rechtsbildung
die ewig geltenden bleiben.

So wie man nämlich in einem Volke die gesellschaftlichen Unter-
schiede wegnimmt, so verschwindet auch die einzige Begründung für
Unterschiede des geltenden Rechts. Die absolute Gleichheit erscheint im
Staat als absolute Einheit seiner Verwaltung. Das nun gelangte
sofort unter Napoleon zur Geltung und von diesem Standpunkt muß
die Geschichte des französischen Bildungswesens seit 1808 beobachtet
werden.

Dieß erſte der beiden obigen Stadien des öffentlichen Berufsbildungs-
weſens iſt nun das der Bildungsloſigkeit. Die Zünfte und In-
nungen ſind aufgehoben, die Univerſitäten ſind verſchwunden. Es gibt
weder Meiſter noch Geſellen, weder Doktoren noch Baccalauren. Jeder
hilft ſich ſo gut er kann. Der Staat ſelbſt macht durchaus keine An-
ſprüche mehr auf eine Fachbildung für ſeine Beamteten. Die Republik
wählt nach der Geſinnungstüchtigkeit und nicht nach der Fähigkeit.
Nicht einmal für das Richteramt wird in dieſer Zeit nach einer Be-
fähigung gefragt; wozu auch, wenn man in dem Geſchwornengericht
den Bürger zum Richter über Leben und Tod ſetzt, für das Civilrecht
gelehrte Richter? Und hätte man ſie gewollt, was denn hätten dieſe
Männer eigentlich lernen ſollen? Das alte Recht ward gründlich ver-
nichtet, das neue war noch nicht da. Das Princip der Verwaltung
war unbedingter amtlicher Gehorſam gegen die oberen Organe; dem
zur Seite ging, wie es die Lehre von der vollziehenden Gewalt zeigt,
der Grundſatz, daß die Handlungen dieſer Beamteten vor keinen Richter-
ſtuhl gezogen, ſondern nur von der höheren Behörde im droit admini-
stratif
unterſucht und abgeurtheilt werden. Das Objekt der Fachbildung
fehlte; wie konnte es eine Organiſation derſelben geben? Und daſſelbe
galt für die wirthſchaftliche Welt vermöge der völligen Gewerbefreiheit.
Eine Beſchränkung der letztern war undenkbar — woher hätte eine
Fachbildung für ſie kommen ſollen? So war die Bildungsloſigkeit
dieſer Zeit nicht bloß eine Thatſache, ſondern ſie war die natürliche,
unabweisbare Conſequenz der ſocialen Zuſtände, welche auf allen
Punkten das Alte vernichtet hatten und das Neue erſt geſtalten ſollten.

Der große Proceß nun, welcher auf der neuen Baſis die neue
öffentlich rechtliche Ordnung in allen Gebieten herſtellt, geht von
Napoleon aus. Die Macht dieſes Mannes beruhte nicht zum geringſten
Theile darauf, daß er zuerſt unter allen Männern der Revolution
einen Sinn für die Verwaltung hatte. Er iſt der Schöpfer des
gegenwärtigen Syſtems der Adminiſtration in Frankreich; er iſt auch
der Schöpfer des Bildungsweſens. Aber auch in dieſer ſeiner mächtigen
Schöpfung ſtand er unter den Geſetzen, welche für die Rechtsbildung
die ewig geltenden bleiben.

So wie man nämlich in einem Volke die geſellſchaftlichen Unter-
ſchiede wegnimmt, ſo verſchwindet auch die einzige Begründung für
Unterſchiede des geltenden Rechts. Die abſolute Gleichheit erſcheint im
Staat als abſolute Einheit ſeiner Verwaltung. Das nun gelangte
ſofort unter Napoleon zur Geltung und von dieſem Standpunkt muß
die Geſchichte des franzöſiſchen Bildungsweſens ſeit 1808 beobachtet
werden.

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[288/0316] Dieß erſte der beiden obigen Stadien des öffentlichen Berufsbildungs- weſens iſt nun das der Bildungsloſigkeit. Die Zünfte und In- nungen ſind aufgehoben, die Univerſitäten ſind verſchwunden. Es gibt weder Meiſter noch Geſellen, weder Doktoren noch Baccalauren. Jeder hilft ſich ſo gut er kann. Der Staat ſelbſt macht durchaus keine An- ſprüche mehr auf eine Fachbildung für ſeine Beamteten. Die Republik wählt nach der Geſinnungstüchtigkeit und nicht nach der Fähigkeit. Nicht einmal für das Richteramt wird in dieſer Zeit nach einer Be- fähigung gefragt; wozu auch, wenn man in dem Geſchwornengericht den Bürger zum Richter über Leben und Tod ſetzt, für das Civilrecht gelehrte Richter? Und hätte man ſie gewollt, was denn hätten dieſe Männer eigentlich lernen ſollen? Das alte Recht ward gründlich ver- nichtet, das neue war noch nicht da. Das Princip der Verwaltung war unbedingter amtlicher Gehorſam gegen die oberen Organe; dem zur Seite ging, wie es die Lehre von der vollziehenden Gewalt zeigt, der Grundſatz, daß die Handlungen dieſer Beamteten vor keinen Richter- ſtuhl gezogen, ſondern nur von der höheren Behörde im droit admini- stratif unterſucht und abgeurtheilt werden. Das Objekt der Fachbildung fehlte; wie konnte es eine Organiſation derſelben geben? Und daſſelbe galt für die wirthſchaftliche Welt vermöge der völligen Gewerbefreiheit. Eine Beſchränkung der letztern war undenkbar — woher hätte eine Fachbildung für ſie kommen ſollen? So war die Bildungsloſigkeit dieſer Zeit nicht bloß eine Thatſache, ſondern ſie war die natürliche, unabweisbare Conſequenz der ſocialen Zuſtände, welche auf allen Punkten das Alte vernichtet hatten und das Neue erſt geſtalten ſollten. Der große Proceß nun, welcher auf der neuen Baſis die neue öffentlich rechtliche Ordnung in allen Gebieten herſtellt, geht von Napoleon aus. Die Macht dieſes Mannes beruhte nicht zum geringſten Theile darauf, daß er zuerſt unter allen Männern der Revolution einen Sinn für die Verwaltung hatte. Er iſt der Schöpfer des gegenwärtigen Syſtems der Adminiſtration in Frankreich; er iſt auch der Schöpfer des Bildungsweſens. Aber auch in dieſer ſeiner mächtigen Schöpfung ſtand er unter den Geſetzen, welche für die Rechtsbildung die ewig geltenden bleiben. So wie man nämlich in einem Volke die geſellſchaftlichen Unter- ſchiede wegnimmt, ſo verſchwindet auch die einzige Begründung für Unterſchiede des geltenden Rechts. Die abſolute Gleichheit erſcheint im Staat als abſolute Einheit ſeiner Verwaltung. Das nun gelangte ſofort unter Napoleon zur Geltung und von dieſem Standpunkt muß die Geſchichte des franzöſiſchen Bildungsweſens ſeit 1808 beobachtet werden.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/316>, abgerufen am 24.11.2024.