der Berufsbildung in jedem Falle zu garantiren. Da nun dieß nicht der Fall ist, so folgt, daß eine gewisse gesetzliche Studienordnung als ein nicht füglich zu entbehrendes Element des Fachbildungsrechts angesehen werden muß. Allein diese Bestimmung des individuellen Lehrganges muß auf dem Grundsatze beruhen, daß sie nur dasjenige gesetzlich vorschreibt, was die Natur des Bildungsganges als selbstver- ständlich fordert, so daß die Nichtbeachtung desselben an und für sich schon als eine Gefährdung einer tüchtigen Bildung angesehen werden muß. Innerhalb dieser Gränzen darf sie nicht die freie Wahl ersetzen. Sie soll daher das geringste Maaß der Pflichtcollegien fordern, die Ord- nung und Reihenfolge derselben aber dem individuellen Ermessen über- lassen. Ihr Werth kann vernünftiger Weise nicht dadurch bestritten werden, daß man sagt, die Uebung oder der gesunde Verstand werde jenes Maß von Collegienbesuch auch ohne Gesetz herstellen, oder da- durch, daß die Ausführung der gesetzlichen Vorschrift im einzelnen Falle doch nicht erzwungen werden kann. Denn der erste Grund würde jede verwaltungsrechtliche Bestimmung überflüssig machen, da am Ende jede nur das fordern soll, was der Verständige auch ohne sie thut oder unterläßt, und das zweite hat sie mit gar vielen andern öffentlichen Vorschriften gemein. Gewiß ist nur das, daß zu ausgedehnte gesetz- liche Studienpläne, wie sie namentlich bei den technischen Anstalten in neuerer Zeit eingeführt sind, den geistigen Bildungsgang zu einem mechanischen zu machen drohen, während das völlige Aufheben jeder Verpflichtung zum Besuche von Vorlesungen gleichbedeutend mit der Aufhebung der Verpflichtung zum Besuche der Universität überhaupt ist, und zu einem Vorwande entweder für Trägheit oder für eine ganz unsystematische und willkürliche Berufsbildung wird. Die große Un- klarheit in der Vorstellung von der Lernfreiheit besteht nämlich darin, die Freiheit allgemeiner Bildung auf die Bildung für den Beruf anwenden zu wollen, und den zu Bildenden als einen fertigen Mann anzusehen, während der zu strenge Studienplan den angehenden Mann noch als einen reinen Schüler behandelt. So ist hier die Hauptsache das richtige Maß in den Bestimmungen über den Studienplan, und das muß für jeden Beruf besonders bestimmt werden. Eine gänzliche Beseitigung ist undenkbar; welches Vertrauen würde man zu einer ärzt- lichen Bildung haben, in der die Verwaltung gesetzlich den Besuch der Klinik, oder zu einer Lehrerbildung, in der dieselbe die Theilnahme an den Seminarien ganz in das Ermessen des Einzelnen stellt? Kommt doch selbst England in neuester Zeit zur Ueberzeugung, daß seine ab- solute Lernfreiheit ein nicht haltbarer Standpunkt ist. Wohl aber muß es vollkommen freistehen, die Universität auch ohne formell absolvirte
der Berufsbildung in jedem Falle zu garantiren. Da nun dieß nicht der Fall iſt, ſo folgt, daß eine gewiſſe geſetzliche Studienordnung als ein nicht füglich zu entbehrendes Element des Fachbildungsrechts angeſehen werden muß. Allein dieſe Beſtimmung des individuellen Lehrganges muß auf dem Grundſatze beruhen, daß ſie nur dasjenige geſetzlich vorſchreibt, was die Natur des Bildungsganges als ſelbſtver- ſtändlich fordert, ſo daß die Nichtbeachtung deſſelben an und für ſich ſchon als eine Gefährdung einer tüchtigen Bildung angeſehen werden muß. Innerhalb dieſer Gränzen darf ſie nicht die freie Wahl erſetzen. Sie ſoll daher das geringſte Maaß der Pflichtcollegien fordern, die Ord- nung und Reihenfolge derſelben aber dem individuellen Ermeſſen über- laſſen. Ihr Werth kann vernünftiger Weiſe nicht dadurch beſtritten werden, daß man ſagt, die Uebung oder der geſunde Verſtand werde jenes Maß von Collegienbeſuch auch ohne Geſetz herſtellen, oder da- durch, daß die Ausführung der geſetzlichen Vorſchrift im einzelnen Falle doch nicht erzwungen werden kann. Denn der erſte Grund würde jede verwaltungsrechtliche Beſtimmung überflüſſig machen, da am Ende jede nur das fordern ſoll, was der Verſtändige auch ohne ſie thut oder unterläßt, und das zweite hat ſie mit gar vielen andern öffentlichen Vorſchriften gemein. Gewiß iſt nur das, daß zu ausgedehnte geſetz- liche Studienpläne, wie ſie namentlich bei den techniſchen Anſtalten in neuerer Zeit eingeführt ſind, den geiſtigen Bildungsgang zu einem mechaniſchen zu machen drohen, während das völlige Aufheben jeder Verpflichtung zum Beſuche von Vorleſungen gleichbedeutend mit der Aufhebung der Verpflichtung zum Beſuche der Univerſität überhaupt iſt, und zu einem Vorwande entweder für Trägheit oder für eine ganz unſyſtematiſche und willkürliche Berufsbildung wird. Die große Un- klarheit in der Vorſtellung von der Lernfreiheit beſteht nämlich darin, die Freiheit allgemeiner Bildung auf die Bildung für den Beruf anwenden zu wollen, und den zu Bildenden als einen fertigen Mann anzuſehen, während der zu ſtrenge Studienplan den angehenden Mann noch als einen reinen Schüler behandelt. So iſt hier die Hauptſache das richtige Maß in den Beſtimmungen über den Studienplan, und das muß für jeden Beruf beſonders beſtimmt werden. Eine gänzliche Beſeitigung iſt undenkbar; welches Vertrauen würde man zu einer ärzt- lichen Bildung haben, in der die Verwaltung geſetzlich den Beſuch der Klinik, oder zu einer Lehrerbildung, in der dieſelbe die Theilnahme an den Seminarien ganz in das Ermeſſen des Einzelnen ſtellt? Kommt doch ſelbſt England in neueſter Zeit zur Ueberzeugung, daß ſeine ab- ſolute Lernfreiheit ein nicht haltbarer Standpunkt iſt. Wohl aber muß es vollkommen freiſtehen, die Univerſität auch ohne formell abſolvirte
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der Berufsbildung in jedem Falle zu garantiren. Da nun dieß nicht
der Fall iſt, ſo folgt, daß eine gewiſſe geſetzliche Studienordnung
als ein nicht füglich zu entbehrendes Element des Fachbildungsrechts
angeſehen werden muß. Allein dieſe Beſtimmung des individuellen
Lehrganges muß auf dem Grundſatze beruhen, daß ſie nur dasjenige
geſetzlich vorſchreibt, was die Natur des Bildungsganges als ſelbſtver-
ſtändlich fordert, ſo daß die Nichtbeachtung deſſelben an und für ſich
ſchon als eine Gefährdung einer tüchtigen Bildung angeſehen werden
muß. Innerhalb dieſer Gränzen darf ſie nicht die freie Wahl erſetzen.
Sie ſoll daher das geringſte Maaß der Pflichtcollegien fordern, die Ord-
nung und Reihenfolge derſelben aber dem individuellen Ermeſſen über-
laſſen. Ihr Werth kann vernünftiger Weiſe nicht dadurch beſtritten
werden, daß man ſagt, die Uebung oder der geſunde Verſtand werde
jenes Maß von Collegienbeſuch auch ohne Geſetz herſtellen, oder da-
durch, daß die Ausführung der geſetzlichen Vorſchrift im einzelnen Falle
doch nicht erzwungen werden kann. Denn der erſte Grund würde jede
verwaltungsrechtliche Beſtimmung überflüſſig machen, da am Ende jede
nur das fordern ſoll, was der Verſtändige auch ohne ſie thut oder
unterläßt, und das zweite hat ſie mit gar vielen andern öffentlichen
Vorſchriften gemein. Gewiß iſt nur das, daß zu ausgedehnte geſetz-
liche Studienpläne, wie ſie namentlich bei den techniſchen Anſtalten
in neuerer Zeit eingeführt ſind, den geiſtigen Bildungsgang zu einem
mechaniſchen zu machen drohen, während das völlige Aufheben jeder
Verpflichtung zum Beſuche von Vorleſungen gleichbedeutend mit der
Aufhebung der Verpflichtung zum Beſuche der Univerſität überhaupt
iſt, und zu einem Vorwande entweder für Trägheit oder für eine ganz
unſyſtematiſche und willkürliche Berufsbildung wird. Die große Un-
klarheit in der Vorſtellung von der Lernfreiheit beſteht nämlich darin,
die Freiheit allgemeiner Bildung auf die Bildung für den Beruf
anwenden zu wollen, und den zu Bildenden als einen fertigen Mann
anzuſehen, während der zu ſtrenge Studienplan den angehenden Mann
noch als einen reinen Schüler behandelt. So iſt hier die Hauptſache
das richtige Maß in den Beſtimmungen über den Studienplan, und
das muß für jeden Beruf beſonders beſtimmt werden. Eine gänzliche
Beſeitigung iſt undenkbar; welches Vertrauen würde man zu einer ärzt-
lichen Bildung haben, in der die Verwaltung geſetzlich den Beſuch der
Klinik, oder zu einer Lehrerbildung, in der dieſelbe die Theilnahme an
den Seminarien ganz in das Ermeſſen des Einzelnen ſtellt? Kommt
doch ſelbſt England in neueſter Zeit zur Ueberzeugung, daß ſeine ab-
ſolute Lernfreiheit ein nicht haltbarer Standpunkt iſt. Wohl aber muß
es vollkommen freiſtehen, die Univerſität auch ohne formell abſolvirte
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/254>, abgerufen am 22.11.2024.
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