erstere bedroht die geistige und wirthschaftliche freie Bewegung des Ein- zelnen, das letztere die objektive Wahrheit des Urtheils der Prüfenden. Beides zusammenwirkend macht die Erhaltung des rein ständischen Prüfungswesens mit dem lebendigen Fortschritte der Entwicklung des geistigen und wirthschaftlichen Lebens unvereinbar. Aus einem ursprüng- lich trefflichen Elemente der Gesammtentwicklung wird das Prüfungs- wesen dieser Epoche daher zu einem verderblichen Feind des geistigen und materiellen Aufschwunges. Es wird klar, daß es die große und allein lebendige Quelle des letzteren, die freie geistige und wirthschaft- liche Arbeit des Einzelnen vernichtet. Es ist der formelle Ausdruck der Gefahr, welche das Alter der ständischen Epoche bezeichnet, des Er- starrens alles geistigen Lebens in der Ueberlieferung für den Beruf und seine organische Funktion im Gesammtleben. Und mit dem Eintreten der neueren Zeit muß daher nebst den alten Körperschaften auch das Prüfungswesen derselben verschwinden.
Wir haben nun diese neue Zeit bereits früher als die Epoche der staatsbürgerlichen Gesellschaft bezeichnet und das Recht ihres Bildungs- wesens charakterisirt. Das wesentliche Complement des letzteren ist nun auch hier das Prüfungswesen, und das Princip des letzteren, wie es aus dem Geiste der staatsbürgerlichen Gesellschaft überhaupt hervorgeht, ist nun nicht schwer zu bestimmen. Dasselbe besteht in der Aufhebung des ständischen Rechts der Körperschaftsprüfungen, und in der Aufstellung von öffentlichen, nach allgemein gültigen Vorschriften angeordneten Prüfungsorganen an der Stelle derselben. Wie der Beruf nicht mehr bloß Sache der souveränen Körperschaft, sondern der Gesammtheit ist, so soll es auch der gesammte Bildungsproceß für diesen Beruf, also auch die Prüfung werden. So entsteht das, was wir das staatsbürgerliche Prüfungswesen nennen und das jetzt wohl in ganz Europa auf allen Punkten an die Stelle des ständischen ge- treten ist.
Nur muß man sich den Proceß, der diese Umgestaltung enthält, weder als einen sehr raschen, noch als einen für alle Gebiete der Be- rufsbildung oder für alle Länder Europas gleichmäßigen denken. Bei der im Gegentheil noch viel zu großen Mannichfaltigkeit desselben kommt es gerade hier wesentlich darauf an, denselben auf seine gleichartigen Faktoren zurückzuführen und durch ihre Berücksichtigung das Verständniß der Verschiedenheit und damit die höhere Vergleichung zu begründen.
Diese Faktoren sind nämlich dieselben, welche über den Gang und die Organisation des Bildungswesens entschieden haben. Der erste der- selben ist der Grundsatz, daß der Beruf eine ethische Funktion und als solche eine der großen Bedingungen der Entwicklung der Gemeinschaft
erſtere bedroht die geiſtige und wirthſchaftliche freie Bewegung des Ein- zelnen, das letztere die objektive Wahrheit des Urtheils der Prüfenden. Beides zuſammenwirkend macht die Erhaltung des rein ſtändiſchen Prüfungsweſens mit dem lebendigen Fortſchritte der Entwicklung des geiſtigen und wirthſchaftlichen Lebens unvereinbar. Aus einem urſprüng- lich trefflichen Elemente der Geſammtentwicklung wird das Prüfungs- weſen dieſer Epoche daher zu einem verderblichen Feind des geiſtigen und materiellen Aufſchwunges. Es wird klar, daß es die große und allein lebendige Quelle des letzteren, die freie geiſtige und wirthſchaft- liche Arbeit des Einzelnen vernichtet. Es iſt der formelle Ausdruck der Gefahr, welche das Alter der ſtändiſchen Epoche bezeichnet, des Er- ſtarrens alles geiſtigen Lebens in der Ueberlieferung für den Beruf und ſeine organiſche Funktion im Geſammtleben. Und mit dem Eintreten der neueren Zeit muß daher nebſt den alten Körperſchaften auch das Prüfungsweſen derſelben verſchwinden.
Wir haben nun dieſe neue Zeit bereits früher als die Epoche der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft bezeichnet und das Recht ihres Bildungs- weſens charakteriſirt. Das weſentliche Complement des letzteren iſt nun auch hier das Prüfungsweſen, und das Princip des letzteren, wie es aus dem Geiſte der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft überhaupt hervorgeht, iſt nun nicht ſchwer zu beſtimmen. Daſſelbe beſteht in der Aufhebung des ſtändiſchen Rechts der Körperſchaftsprüfungen, und in der Aufſtellung von öffentlichen, nach allgemein gültigen Vorſchriften angeordneten Prüfungsorganen an der Stelle derſelben. Wie der Beruf nicht mehr bloß Sache der ſouveränen Körperſchaft, ſondern der Geſammtheit iſt, ſo ſoll es auch der geſammte Bildungsproceß für dieſen Beruf, alſo auch die Prüfung werden. So entſteht das, was wir das ſtaatsbürgerliche Prüfungsweſen nennen und das jetzt wohl in ganz Europa auf allen Punkten an die Stelle des ſtändiſchen ge- treten iſt.
Nur muß man ſich den Proceß, der dieſe Umgeſtaltung enthält, weder als einen ſehr raſchen, noch als einen für alle Gebiete der Be- rufsbildung oder für alle Länder Europas gleichmäßigen denken. Bei der im Gegentheil noch viel zu großen Mannichfaltigkeit deſſelben kommt es gerade hier weſentlich darauf an, denſelben auf ſeine gleichartigen Faktoren zurückzuführen und durch ihre Berückſichtigung das Verſtändniß der Verſchiedenheit und damit die höhere Vergleichung zu begründen.
Dieſe Faktoren ſind nämlich dieſelben, welche über den Gang und die Organiſation des Bildungsweſens entſchieden haben. Der erſte der- ſelben iſt der Grundſatz, daß der Beruf eine ethiſche Funktion und als ſolche eine der großen Bedingungen der Entwicklung der Gemeinſchaft
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erſtere bedroht die geiſtige und wirthſchaftliche freie Bewegung des Ein-
zelnen, das letztere die objektive Wahrheit des Urtheils der Prüfenden.
Beides zuſammenwirkend macht die Erhaltung des rein ſtändiſchen
Prüfungsweſens mit dem lebendigen Fortſchritte der Entwicklung des
geiſtigen und wirthſchaftlichen Lebens unvereinbar. Aus einem urſprüng-
lich trefflichen Elemente der Geſammtentwicklung wird das Prüfungs-
weſen dieſer Epoche daher zu einem verderblichen Feind des geiſtigen
und materiellen Aufſchwunges. Es wird klar, daß es die große und
allein lebendige Quelle des letzteren, die freie geiſtige und wirthſchaft-
liche Arbeit des Einzelnen vernichtet. Es iſt der formelle Ausdruck der
Gefahr, welche das Alter der ſtändiſchen Epoche bezeichnet, des Er-
ſtarrens alles geiſtigen Lebens in der Ueberlieferung für den Beruf und
ſeine organiſche Funktion im Geſammtleben. Und mit dem Eintreten
der neueren Zeit muß daher nebſt den alten Körperſchaften auch das
Prüfungsweſen derſelben verſchwinden.
Wir haben nun dieſe neue Zeit bereits früher als die Epoche der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft bezeichnet und das Recht ihres Bildungs-
weſens charakteriſirt. Das weſentliche Complement des letzteren iſt nun
auch hier das Prüfungsweſen, und das Princip des letzteren, wie es
aus dem Geiſte der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft überhaupt hervorgeht,
iſt nun nicht ſchwer zu beſtimmen. Daſſelbe beſteht in der Aufhebung
des ſtändiſchen Rechts der Körperſchaftsprüfungen, und in der
Aufſtellung von öffentlichen, nach allgemein gültigen Vorſchriften
angeordneten Prüfungsorganen an der Stelle derſelben. Wie der
Beruf nicht mehr bloß Sache der ſouveränen Körperſchaft, ſondern der
Geſammtheit iſt, ſo ſoll es auch der geſammte Bildungsproceß für dieſen
Beruf, alſo auch die Prüfung werden. So entſteht das, was wir das
ſtaatsbürgerliche Prüfungsweſen nennen und das jetzt wohl in
ganz Europa auf allen Punkten an die Stelle des ſtändiſchen ge-
treten iſt.
Nur muß man ſich den Proceß, der dieſe Umgeſtaltung enthält,
weder als einen ſehr raſchen, noch als einen für alle Gebiete der Be-
rufsbildung oder für alle Länder Europas gleichmäßigen denken. Bei
der im Gegentheil noch viel zu großen Mannichfaltigkeit deſſelben kommt
es gerade hier weſentlich darauf an, denſelben auf ſeine gleichartigen
Faktoren zurückzuführen und durch ihre Berückſichtigung das Verſtändniß
der Verſchiedenheit und damit die höhere Vergleichung zu begründen.
Dieſe Faktoren ſind nämlich dieſelben, welche über den Gang und
die Organiſation des Bildungsweſens entſchieden haben. Der erſte der-
ſelben iſt der Grundſatz, daß der Beruf eine ethiſche Funktion und als
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/203>, abgerufen am 17.02.2025.
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