Sowie nämlich die staatsbürgerliche Gesellschaftsordnung mit ihrem großen Princip des gleichen Rechts aller auftritt, treten zugleich zwei mächtige geistige Thatsachen in den Vordergrund aller neueren Geschichte Europas. Die erste ist die, daß der Besitz die materielle Grundlage der bürgerlichen Freiheit des Einzelnen für sich und seiner gesellschaft- lichen Geltung für andere ist. Die zweite ist die, daß vermöge der Dampfkraft die Produktion und damit Handel und Verkehr das Ge- sammtleben Europas zu umfassen beginnt. Damit gewinnt das wirth- schaftliche Leben als solches einen neuen Charakter. Er ist nicht mehr auf das Individuum und seinen engen Lebenskreis beschränkt. Das Vermögen und die Grundlage des Staatsbürgerthums, der Erwerb und die Grundlage der einheitlichen Arbeit der europäischen Völker, der Begriff und das Werden des Gutes sind dadurch zu etwas anderem geworden. Sie sind statt der einfachen materiellen Basis der Einzel- existenz eine der großen Grundlagen der europäischen Gesittung. Der Fleiß, die wirthschaftliche Tüchtigkeit, die Sparsamkeit erzeugen nicht bloß mehr Reichthum, sondern vielmehr ein Staatsbürgerthum; das Unternehmen wird aus dem einfachen Mittel, sich anständig durch die Welt zu bringen, zu einer ganze Völker und ihre Lebensverhältnisse umfassenden Aufgabe des kühnen und umsichtigen Mannes. Sie ver- lassen gleichsam die enge Heimath, in der sie bisher gelebt, die Kund- schaft der einzelnen Straße, der nächsten Nachbarschaft, der Beschränkung auf das Gebiet des heimischen Marktes, sie ziehen hinaus in die weite Welt; sie rufen die ganze Kraft, die ganze Kühnheit, die ganze Energie des Mannes ins Feld; sie zwingen ihn, den freien Blick weit über die Gränze des eigenen Landes zu erheben; sie fordern von ihm Kenntnisse, die früher kaum der Gelehrte gehabt, Fähigkeiten, die er für unerreich- bar gehalten, Leistungen, die die ganze Fülle persönlicher Entwicklung voraussetzen; sie sind nicht möglich, ohne das Bewußtsein geistiger Kraft, und indem sie gelingen, erfüllen sie ihn mit dem Stolze des ganzen Mannes. Da bleibt denn allerdings die gesammte frühere Auffassung des "Gewerbes" und des "Bürgerstandes" unmöglich; das wirthschaft- liche Leben wird zu einem sittlichen Element; es fordert in der Wissenschaft unabweisbar seine volle Berechtigung neben der Gelehrsamkeit und der abstrakten Philosophie, in der staatlichen aber die öffentliche Aner- kennung als eine mit jeder andern gleichberechtigten Bedingung der Gesammtentwicklung; der Einzelne, der sich ihnen widmet, widmet sich nicht bloß mehr wie einstens sich selber und höchstens der Zunft oder Innung, die unter dem Schutze des heimischen Reichthums gedeihen, sondern dem Leben des Ganzen; und mit vollem Recht wird so aus dem wirthschaftlichen Erwerbe ein selbständiger öffentlicher Beruf.
Sowie nämlich die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung mit ihrem großen Princip des gleichen Rechts aller auftritt, treten zugleich zwei mächtige geiſtige Thatſachen in den Vordergrund aller neueren Geſchichte Europas. Die erſte iſt die, daß der Beſitz die materielle Grundlage der bürgerlichen Freiheit des Einzelnen für ſich und ſeiner geſellſchaft- lichen Geltung für andere iſt. Die zweite iſt die, daß vermöge der Dampfkraft die Produktion und damit Handel und Verkehr das Ge- ſammtleben Europas zu umfaſſen beginnt. Damit gewinnt das wirth- ſchaftliche Leben als ſolches einen neuen Charakter. Er iſt nicht mehr auf das Individuum und ſeinen engen Lebenskreis beſchränkt. Das Vermögen und die Grundlage des Staatsbürgerthums, der Erwerb und die Grundlage der einheitlichen Arbeit der europäiſchen Völker, der Begriff und das Werden des Gutes ſind dadurch zu etwas anderem geworden. Sie ſind ſtatt der einfachen materiellen Baſis der Einzel- exiſtenz eine der großen Grundlagen der europäiſchen Geſittung. Der Fleiß, die wirthſchaftliche Tüchtigkeit, die Sparſamkeit erzeugen nicht bloß mehr Reichthum, ſondern vielmehr ein Staatsbürgerthum; das Unternehmen wird aus dem einfachen Mittel, ſich anſtändig durch die Welt zu bringen, zu einer ganze Völker und ihre Lebensverhältniſſe umfaſſenden Aufgabe des kühnen und umſichtigen Mannes. Sie ver- laſſen gleichſam die enge Heimath, in der ſie bisher gelebt, die Kund- ſchaft der einzelnen Straße, der nächſten Nachbarſchaft, der Beſchränkung auf das Gebiet des heimiſchen Marktes, ſie ziehen hinaus in die weite Welt; ſie rufen die ganze Kraft, die ganze Kühnheit, die ganze Energie des Mannes ins Feld; ſie zwingen ihn, den freien Blick weit über die Gränze des eigenen Landes zu erheben; ſie fordern von ihm Kenntniſſe, die früher kaum der Gelehrte gehabt, Fähigkeiten, die er für unerreich- bar gehalten, Leiſtungen, die die ganze Fülle perſönlicher Entwicklung vorausſetzen; ſie ſind nicht möglich, ohne das Bewußtſein geiſtiger Kraft, und indem ſie gelingen, erfüllen ſie ihn mit dem Stolze des ganzen Mannes. Da bleibt denn allerdings die geſammte frühere Auffaſſung des „Gewerbes“ und des „Bürgerſtandes“ unmöglich; das wirthſchaft- liche Leben wird zu einem ſittlichen Element; es fordert in der Wiſſenſchaft unabweisbar ſeine volle Berechtigung neben der Gelehrſamkeit und der abſtrakten Philoſophie, in der ſtaatlichen aber die öffentliche Aner- kennung als eine mit jeder andern gleichberechtigten Bedingung der Geſammtentwicklung; der Einzelne, der ſich ihnen widmet, widmet ſich nicht bloß mehr wie einſtens ſich ſelber und höchſtens der Zunft oder Innung, die unter dem Schutze des heimiſchen Reichthums gedeihen, ſondern dem Leben des Ganzen; und mit vollem Recht wird ſo aus dem wirthſchaftlichen Erwerbe ein ſelbſtändiger öffentlicher Beruf.
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Sowie nämlich die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung mit ihrem
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Europas. Die erſte iſt die, daß der Beſitz die materielle Grundlage
der bürgerlichen Freiheit des Einzelnen für ſich und ſeiner geſellſchaft-
lichen Geltung für andere iſt. Die zweite iſt die, daß vermöge der
Dampfkraft die Produktion und damit Handel und Verkehr das Ge-
ſammtleben Europas zu umfaſſen beginnt. Damit gewinnt das wirth-
ſchaftliche Leben als ſolches einen neuen Charakter. Er iſt nicht mehr
auf das Individuum und ſeinen engen Lebenskreis beſchränkt. Das
Vermögen und die Grundlage des Staatsbürgerthums, der Erwerb und
die Grundlage der einheitlichen Arbeit der europäiſchen Völker, der
Begriff und das Werden des Gutes ſind dadurch zu etwas anderem
geworden. Sie ſind ſtatt der einfachen materiellen Baſis der Einzel-
exiſtenz eine der großen Grundlagen der europäiſchen Geſittung.
Der Fleiß, die wirthſchaftliche Tüchtigkeit, die Sparſamkeit erzeugen
nicht bloß mehr Reichthum, ſondern vielmehr ein Staatsbürgerthum;
das Unternehmen wird aus dem einfachen Mittel, ſich anſtändig durch
die Welt zu bringen, zu einer ganze Völker und ihre Lebensverhältniſſe
umfaſſenden Aufgabe des kühnen und umſichtigen Mannes. Sie ver-
laſſen gleichſam die enge Heimath, in der ſie bisher gelebt, die Kund-
ſchaft der einzelnen Straße, der nächſten Nachbarſchaft, der Beſchränkung
auf das Gebiet des heimiſchen Marktes, ſie ziehen hinaus in die weite
Welt; ſie rufen die ganze Kraft, die ganze Kühnheit, die ganze Energie
des Mannes ins Feld; ſie zwingen ihn, den freien Blick weit über die
Gränze des eigenen Landes zu erheben; ſie fordern von ihm Kenntniſſe,
die früher kaum der Gelehrte gehabt, Fähigkeiten, die er für unerreich-
bar gehalten, Leiſtungen, die die ganze Fülle perſönlicher Entwicklung
vorausſetzen; ſie ſind nicht möglich, ohne das Bewußtſein geiſtiger Kraft,
und indem ſie gelingen, erfüllen ſie ihn mit dem Stolze des ganzen
Mannes. Da bleibt denn allerdings die geſammte frühere Auffaſſung
des „Gewerbes“ und des „Bürgerſtandes“ unmöglich; das wirthſchaft-
liche Leben wird zu einem ſittlichen Element; es fordert in der Wiſſenſchaft
unabweisbar ſeine volle Berechtigung neben der Gelehrſamkeit und der
abſtrakten Philoſophie, in der ſtaatlichen aber die öffentliche Aner-
kennung als eine mit jeder andern gleichberechtigten Bedingung der
Geſammtentwicklung; der Einzelne, der ſich ihnen widmet, widmet ſich
nicht bloß mehr wie einſtens ſich ſelber und höchſtens der Zunft oder
Innung, die unter dem Schutze des heimiſchen Reichthums gedeihen,
ſondern dem Leben des Ganzen; und mit vollem Recht wird ſo aus
dem wirthſchaftlichen Erwerbe ein ſelbſtändiger öffentlicher Beruf.
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/183>, abgerufen am 24.11.2024.
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