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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 4. Stuttgart, 1867.

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die Staatsbehörde durch den Prätor einen solchen einzusetzen, und daß
die Organe der plebejischen Sonderinteressen, die tribuni plebis, dar-
über als eine noch unbestimmt gedachte Obervormundschaft zu wachen
haben. Das bestimmte die Lex Atilia. Die mit der Auflösung der
Geschlechterordnung gegebene Selbständigkeit der Frau machte dann
die Ausdehnung der tutela auf diese, der häufige Mangel eines Hauptes
der familia die Ausdehnung auf die Abwesenheit und auf den Wahn-
sinn nothwendig. Da hier aber keine tutela vorhanden war, weil der
pupillus fehlte, so entstand die Unterscheidung der wirthschaftlichen
Vormundschaft, der curatela, von der persönlichen, der tutela. Die
Steigerung des Reichthums und der Verschwendung nebst der Verfüh-
rung junger aus der tutela entlassener 14jähriger Menschen erzeugte
endlich die Nothwendigkeit, im öffentlichen Interesse einen neuen Rechts-
begriff einzuführen. Das war der der wirthschaftlichen Unmün-
digkeit
neben der persönlichen Mündigkeit, nebst Aufstellung einer
zweiten wirthschaftlichen Vormundschaft in dem minor annis und der
cura minorum durch die lex Plaetoria, an die sich als selbstverständ-
liche Ausdehnung der Begriff des prodigus und die cura prodigi auch
über das 25. Jahr hinaus anschloß. Dadurch und durch den allmäh-
ligen Untergang der Geschlechter löst sich nun die alte tutela gänzlich
auf, die Geschlechtervormundschaft verschwindet, und an ihre Stelle tritt
das große römische System der richterlichen Obervormundschaft,
das, wenn auch im Einzelnen außerordentlich genau durchdacht, doch im
Ganzen ziemlich unverstanden den Darstellungen der Pandekten zum
Grunde liegt und durch sie mit all ihren Unklarheiten auf die germanische
Zeit übergegangen ist. Läßt man die traditionellen Unterschiede weg, und
erfaßt man dieß System seinem Wesen nach, so enthält es folgende Sätze:

1) Die tutela und curatela sind munera publica, das ist Auf-
gaben der Verwaltung. Der Einzelne hat die Pflicht, diese Aufgabe
zu übernehmen, und kann sich nur durch besondere Excusationsgründe
davon befreien.

2) Die Obervormundschaft ist das Gericht, das jedoch unter Um-
ständen und nach Ermessen die Verwandten als Familienrath herbeizieht.

3) Das Bestellungsrecht unterscheidet die Selbstbestellung
(den tutor testamentarius), die natürliche oder vielmehr geschlechtliche
Bestellung (den tutor legitimus) und die administrative (den tutor dati-
vus
). Bei dem Minor treten alle drei Fälle ein, bei der Frau nur die
beiden letztern; bei dem majorennen absens und furiosus nur der letztere.

4) Die Führung der Vormundschaft ist wesentlich die wirth-
schaftliche
Vermögensverwaltung. Ihr Princip ist die Erhaltung
des Capitals, dem der Erwerb eines Vermögens unbedingt untergeordnet

die Staatsbehörde durch den Prätor einen ſolchen einzuſetzen, und daß
die Organe der plebejiſchen Sonderintereſſen, die tribuni plebis, dar-
über als eine noch unbeſtimmt gedachte Obervormundſchaft zu wachen
haben. Das beſtimmte die Lex Atilia. Die mit der Auflöſung der
Geſchlechterordnung gegebene Selbſtändigkeit der Frau machte dann
die Ausdehnung der tutela auf dieſe, der häufige Mangel eines Hauptes
der familia die Ausdehnung auf die Abweſenheit und auf den Wahn-
ſinn nothwendig. Da hier aber keine tutela vorhanden war, weil der
pupillus fehlte, ſo entſtand die Unterſcheidung der wirthſchaftlichen
Vormundſchaft, der curatela, von der perſönlichen, der tutela. Die
Steigerung des Reichthums und der Verſchwendung nebſt der Verfüh-
rung junger aus der tutela entlaſſener 14jähriger Menſchen erzeugte
endlich die Nothwendigkeit, im öffentlichen Intereſſe einen neuen Rechts-
begriff einzuführen. Das war der der wirthſchaftlichen Unmün-
digkeit
neben der perſönlichen Mündigkeit, nebſt Aufſtellung einer
zweiten wirthſchaftlichen Vormundſchaft in dem minor annis und der
cura minorum durch die lex Plaetoria, an die ſich als ſelbſtverſtänd-
liche Ausdehnung der Begriff des prodigus und die cura prodigi auch
über das 25. Jahr hinaus anſchloß. Dadurch und durch den allmäh-
ligen Untergang der Geſchlechter löst ſich nun die alte tutela gänzlich
auf, die Geſchlechtervormundſchaft verſchwindet, und an ihre Stelle tritt
das große römiſche Syſtem der richterlichen Obervormundſchaft,
das, wenn auch im Einzelnen außerordentlich genau durchdacht, doch im
Ganzen ziemlich unverſtanden den Darſtellungen der Pandekten zum
Grunde liegt und durch ſie mit all ihren Unklarheiten auf die germaniſche
Zeit übergegangen iſt. Läßt man die traditionellen Unterſchiede weg, und
erfaßt man dieß Syſtem ſeinem Weſen nach, ſo enthält es folgende Sätze:

1) Die tutela und curatela ſind munera publica, das iſt Auf-
gaben der Verwaltung. Der Einzelne hat die Pflicht, dieſe Aufgabe
zu übernehmen, und kann ſich nur durch beſondere Excuſationsgründe
davon befreien.

2) Die Obervormundſchaft iſt das Gericht, das jedoch unter Um-
ſtänden und nach Ermeſſen die Verwandten als Familienrath herbeizieht.

3) Das Beſtellungsrecht unterſcheidet die Selbſtbeſtellung
(den tutor testamentarius), die natürliche oder vielmehr geſchlechtliche
Beſtellung (den tutor legitimus) und die adminiſtrative (den tutor dati-
vus
). Bei dem Minor treten alle drei Fälle ein, bei der Frau nur die
beiden letztern; bei dem majorennen absens und furiosus nur der letztere.

4) Die Führung der Vormundſchaft iſt weſentlich die wirth-
ſchaftliche
Vermögensverwaltung. Ihr Princip iſt die Erhaltung
des Capitals, dem der Erwerb eines Vermögens unbedingt untergeordnet

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[185/0207] die Staatsbehörde durch den Prätor einen ſolchen einzuſetzen, und daß die Organe der plebejiſchen Sonderintereſſen, die tribuni plebis, dar- über als eine noch unbeſtimmt gedachte Obervormundſchaft zu wachen haben. Das beſtimmte die Lex Atilia. Die mit der Auflöſung der Geſchlechterordnung gegebene Selbſtändigkeit der Frau machte dann die Ausdehnung der tutela auf dieſe, der häufige Mangel eines Hauptes der familia die Ausdehnung auf die Abweſenheit und auf den Wahn- ſinn nothwendig. Da hier aber keine tutela vorhanden war, weil der pupillus fehlte, ſo entſtand die Unterſcheidung der wirthſchaftlichen Vormundſchaft, der curatela, von der perſönlichen, der tutela. Die Steigerung des Reichthums und der Verſchwendung nebſt der Verfüh- rung junger aus der tutela entlaſſener 14jähriger Menſchen erzeugte endlich die Nothwendigkeit, im öffentlichen Intereſſe einen neuen Rechts- begriff einzuführen. Das war der der wirthſchaftlichen Unmün- digkeit neben der perſönlichen Mündigkeit, nebſt Aufſtellung einer zweiten wirthſchaftlichen Vormundſchaft in dem minor annis und der cura minorum durch die lex Plaetoria, an die ſich als ſelbſtverſtänd- liche Ausdehnung der Begriff des prodigus und die cura prodigi auch über das 25. Jahr hinaus anſchloß. Dadurch und durch den allmäh- ligen Untergang der Geſchlechter löst ſich nun die alte tutela gänzlich auf, die Geſchlechtervormundſchaft verſchwindet, und an ihre Stelle tritt das große römiſche Syſtem der richterlichen Obervormundſchaft, das, wenn auch im Einzelnen außerordentlich genau durchdacht, doch im Ganzen ziemlich unverſtanden den Darſtellungen der Pandekten zum Grunde liegt und durch ſie mit all ihren Unklarheiten auf die germaniſche Zeit übergegangen iſt. Läßt man die traditionellen Unterſchiede weg, und erfaßt man dieß Syſtem ſeinem Weſen nach, ſo enthält es folgende Sätze: 1) Die tutela und curatela ſind munera publica, das iſt Auf- gaben der Verwaltung. Der Einzelne hat die Pflicht, dieſe Aufgabe zu übernehmen, und kann ſich nur durch beſondere Excuſationsgründe davon befreien. 2) Die Obervormundſchaft iſt das Gericht, das jedoch unter Um- ſtänden und nach Ermeſſen die Verwandten als Familienrath herbeizieht. 3) Das Beſtellungsrecht unterſcheidet die Selbſtbeſtellung (den tutor testamentarius), die natürliche oder vielmehr geſchlechtliche Beſtellung (den tutor legitimus) und die adminiſtrative (den tutor dati- vus). Bei dem Minor treten alle drei Fälle ein, bei der Frau nur die beiden letztern; bei dem majorennen absens und furiosus nur der letztere. 4) Die Führung der Vormundſchaft iſt weſentlich die wirth- ſchaftliche Vermögensverwaltung. Ihr Princip iſt die Erhaltung des Capitals, dem der Erwerb eines Vermögens unbedingt untergeordnet

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 4. Stuttgart, 1867, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre04_1867/207>, abgerufen am 23.11.2024.