vernachlässigt. Allein zweitens bedarf der junge Staat neben dieser juri- stischen Begründung für seine Thätigkeit einer theoretisch begründeten und wissenschaftlich systemisirten, kurz einer ethischen Grundlage seiner praktischen Aufgabe. Und während nun das römische Reich ihm sein Recht im Corpus Juris gab, trat die griechische Welt ihm in diesem Bedürfniß zur Seite, und gab ihm die griechischen Werke über die Staatskunst, die politeia. Es handelte sich bei dieser politeia na- türlich nicht darum, gerade das auszuführen, was Plato und Aristoteles gesagt hatten, so wenig wie es jemand einfiel, gerade das ganze römische Recht zur Anwendung zu bringen. Es handelte sich vielmehr nur dar- um, der Thätigkeit des Staates und seiner Obrigkeiten eine hohe ethische Autorität zum Grunde zu legen. Diese aber gaben ihm die Werke über die Politeia. So griffen dieselben sofort und auf das mächtigste ein. Die Staatskunst erschien als eine Wissenschaft neben dem Recht; es war natürlich, daß man dieser Staatskunst den angestammten Namen gab; und so entstanden die Politik oder die Polizei, ursprünglich aus derselben Quelle, eins und dasselbe bedeutend.
Damit war dem ersten Bedürfniß Genüge geleistet. Die Politik umfaßt das ganze Staatsleben in der ethischen Begründung des neuen Staatsrechts. Bald aber entwickelt sich daraus ein neuer Proceß.
Während jenes nämlich geschieht, concentriren sich die Staaten; sie gewinnen feste Formen und Gränzen; sie berühren sich; es entstehen die speciellen Interessen derselben in dem sich entwickelnden Gesammt- leben Europa's; es entsteht das, was wir das Staatensystem nennen. In diesem Staatensystem hat nun jeder Staat wieder seine Aufgabe gegenüber den andern; und alle diese Aufgaben erscheinen zusammen- gefaßt in demjenigen Momente, welches seinerseits die Bedingung aller ist, der Machtbildung. Diese Machtbildung ist aber eine Kunst für sich; sie erscheint vor der Hand ganz gleichgültig gegen die innern Zu- stände; sie will für sich verstanden und gelehrt werden; und so trennt sich in der ursprünglich einfachen Staatskunst das Gebiet der Staats- kunst der äußern Machtbildung, die Staatskunst des Verkehrs der Staaten untereinander von der innern Staatskunst. Mit dieser that- sächlichen Scheidung tritt die des Namens ein. Das Wort politeia spaltet sich in zwei Theile. Die Staatskunst des äußern Staaten- verkehrs und der Machtbildung wird die Politik; die Staatskunst des innern Staatslebens wird die Polizei. Jene hat ihren Organismus in der sich allmählig selbständig entwickelnden Diplomatie, diese dagegen ist das wahre Gebiet der eigentlichen Obrigkeit. Und so hat jetzt der Begriff der "Polizei" seine eigene, leicht verständliche Bedeu- tung. Sie ist durch den Gang der Dinge zur Gesammtheit aller
vernachläſſigt. Allein zweitens bedarf der junge Staat neben dieſer juri- ſtiſchen Begründung für ſeine Thätigkeit einer theoretiſch begründeten und wiſſenſchaftlich ſyſtemiſirten, kurz einer ethiſchen Grundlage ſeiner praktiſchen Aufgabe. Und während nun das römiſche Reich ihm ſein Recht im Corpus Juris gab, trat die griechiſche Welt ihm in dieſem Bedürfniß zur Seite, und gab ihm die griechiſchen Werke über die Staatskunſt, die πολιτεια. Es handelte ſich bei dieſer πολιτεια na- türlich nicht darum, gerade das auszuführen, was Plato und Ariſtoteles geſagt hatten, ſo wenig wie es jemand einfiel, gerade das ganze römiſche Recht zur Anwendung zu bringen. Es handelte ſich vielmehr nur dar- um, der Thätigkeit des Staates und ſeiner Obrigkeiten eine hohe ethiſche Autorität zum Grunde zu legen. Dieſe aber gaben ihm die Werke über die Politeia. So griffen dieſelben ſofort und auf das mächtigſte ein. Die Staatskunſt erſchien als eine Wiſſenſchaft neben dem Recht; es war natürlich, daß man dieſer Staatskunſt den angeſtammten Namen gab; und ſo entſtanden die Politik oder die Polizei, urſprünglich aus derſelben Quelle, eins und daſſelbe bedeutend.
Damit war dem erſten Bedürfniß Genüge geleiſtet. Die Politik umfaßt das ganze Staatsleben in der ethiſchen Begründung des neuen Staatsrechts. Bald aber entwickelt ſich daraus ein neuer Proceß.
Während jenes nämlich geſchieht, concentriren ſich die Staaten; ſie gewinnen feſte Formen und Gränzen; ſie berühren ſich; es entſtehen die ſpeciellen Intereſſen derſelben in dem ſich entwickelnden Geſammt- leben Europa’s; es entſteht das, was wir das Staatenſyſtem nennen. In dieſem Staatenſyſtem hat nun jeder Staat wieder ſeine Aufgabe gegenüber den andern; und alle dieſe Aufgaben erſcheinen zuſammen- gefaßt in demjenigen Momente, welches ſeinerſeits die Bedingung aller iſt, der Machtbildung. Dieſe Machtbildung iſt aber eine Kunſt für ſich; ſie erſcheint vor der Hand ganz gleichgültig gegen die innern Zu- ſtände; ſie will für ſich verſtanden und gelehrt werden; und ſo trennt ſich in der urſprünglich einfachen Staatskunſt das Gebiet der Staats- kunſt der äußern Machtbildung, die Staatskunſt des Verkehrs der Staaten untereinander von der innern Staatskunſt. Mit dieſer that- ſächlichen Scheidung tritt die des Namens ein. Das Wort πολιτεια ſpaltet ſich in zwei Theile. Die Staatskunſt des äußern Staaten- verkehrs und der Machtbildung wird die Politik; die Staatskunſt des innern Staatslebens wird die Polizei. Jene hat ihren Organismus in der ſich allmählig ſelbſtändig entwickelnden Diplomatie, dieſe dagegen iſt das wahre Gebiet der eigentlichen Obrigkeit. Und ſo hat jetzt der Begriff der „Polizei“ ſeine eigene, leicht verſtändliche Bedeu- tung. Sie iſt durch den Gang der Dinge zur Geſammtheit aller
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praktiſchen Aufgabe. Und während nun das römiſche Reich ihm ſein
Recht im Corpus Juris gab, trat die griechiſche Welt ihm in dieſem
Bedürfniß zur Seite, und gab ihm die griechiſchen Werke über die
Staatskunſt, die πολιτεια. Es handelte ſich bei dieſer πολιτεια na-
türlich nicht darum, gerade das auszuführen, was Plato und Ariſtoteles
geſagt hatten, ſo wenig wie es jemand einfiel, gerade das ganze römiſche
Recht zur Anwendung zu bringen. Es handelte ſich vielmehr nur dar-
um, der Thätigkeit des Staates und ſeiner Obrigkeiten eine hohe ethiſche
Autorität zum Grunde zu legen. Dieſe aber gaben ihm die Werke über
die Politeia. So griffen dieſelben ſofort und auf das mächtigſte ein.
Die Staatskunſt erſchien als eine Wiſſenſchaft neben dem Recht; es
war natürlich, daß man dieſer Staatskunſt den angeſtammten Namen
gab; und ſo entſtanden die Politik oder die Polizei, urſprünglich aus
derſelben Quelle, eins und daſſelbe bedeutend.
Damit war dem erſten Bedürfniß Genüge geleiſtet. Die Politik
umfaßt das ganze Staatsleben in der ethiſchen Begründung des neuen
Staatsrechts. Bald aber entwickelt ſich daraus ein neuer Proceß.
Während jenes nämlich geſchieht, concentriren ſich die Staaten; ſie
gewinnen feſte Formen und Gränzen; ſie berühren ſich; es entſtehen
die ſpeciellen Intereſſen derſelben in dem ſich entwickelnden Geſammt-
leben Europa’s; es entſteht das, was wir das Staatenſyſtem nennen.
In dieſem Staatenſyſtem hat nun jeder Staat wieder ſeine Aufgabe
gegenüber den andern; und alle dieſe Aufgaben erſcheinen zuſammen-
gefaßt in demjenigen Momente, welches ſeinerſeits die Bedingung aller
iſt, der Machtbildung. Dieſe Machtbildung iſt aber eine Kunſt für
ſich; ſie erſcheint vor der Hand ganz gleichgültig gegen die innern Zu-
ſtände; ſie will für ſich verſtanden und gelehrt werden; und ſo trennt
ſich in der urſprünglich einfachen Staatskunſt das Gebiet der Staats-
kunſt der äußern Machtbildung, die Staatskunſt des Verkehrs der
Staaten untereinander von der innern Staatskunſt. Mit dieſer that-
ſächlichen Scheidung tritt die des Namens ein. Das Wort πολιτεια
ſpaltet ſich in zwei Theile. Die Staatskunſt des äußern Staaten-
verkehrs und der Machtbildung wird die Politik; die Staatskunſt des
innern Staatslebens wird die Polizei. Jene hat ihren Organismus
in der ſich allmählig ſelbſtändig entwickelnden Diplomatie, dieſe dagegen
iſt das wahre Gebiet der eigentlichen Obrigkeit. Und ſo hat jetzt
der Begriff der „Polizei“ ſeine eigene, leicht verſtändliche Bedeu-
tung. Sie iſt durch den Gang der Dinge zur Geſammtheit aller
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/91>, abgerufen am 23.02.2025.
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