für ihn mit der höheren Berechtigung auch eine höhere Forderung auf. Er muß etwas Bestimmtes thun.
Er muß mit seiner Thätigkeit das Gesammtinteresse gegen die Sonderinteressen und Rechte der ständischen Bildungen vertreten. Er muß allenthalben den Widerstand der letztern brechen. Er muß jene Gesammtinteressen erstlich verstehen und sie dann mit seiner Gewalt durchführen. Er muß, wie jene Gesammtinteressen, allenthalben gegen- wärtig und thätig sein; er muß den Rechtstitel dieses Eingreifens in die bestehende ständische Macht in einer höheren, abstrakten Idee suchen; er muß endlich diese seine Thätigkeit mit einem großen, ebenfalls all- gegenwärtigen Organ versehen; er muß verlangen, daß dieser Organis- mus die Gesammtinteressen erkennen und daß er fähig sei, jenen höhern Rechtstitel in sich aufzunehmen und auf allen Punkten zu vertreten. Alles das sind die Bedingungen des wirklichen und nachhaltigen Sieges des Königthums über die alte Ordnung der Dinge.
Durch alles dieß zusammen genommen empfängt nun der Staat zuerst seinen organischen Inhalt überhaupt. Die Idee des Staats bleibt dadurch nicht bloß eine wissenschaftliche Theorie; sie ist auch kein bloß materielles Eingreifen in die bestehenden Ordnungen; sie ist eben so wenig bloß ein Wunsch und Streben der Herrscher. Sie ist eben alles zugleich, wie jede wahre historische Thatsache. Die Könige dieser Epoche wissen gleichsam unmittelbar, was sie sind und sein sollen. Das Wort "von Gottes Gnaden" bezeichnet uns jene Anschauung, welche der Staat über alle Interessen und Gewalten der Einzelnen stellt. Der große Organismus, der im Namen des neuen Königthums wirkt, ist die Obrigkeit. Das große geistige Element, das beide umgibt und be- gleitet, ist die junge Staatswissenschaft. Sie selbst hat zwei große Ge- biete, die fast unwiderstehlich ineinander greifen. Königthum und Obrig- keit bedurften für ihre schwere Aufgabe zweier Dinge. Erstlich bedurften sie eines Rechtsbewußtseins, und eines diesem Rechtsbewußtsein ent- sprechenden, geltenden, fertigen, mit voller Autorität auftretenden Rechtsbuches. Für das letztere können die Rechtsbücher der stän- dischen Epoche nicht dienen. Sie sind alle zusammen theils örtlicher Natur, theils haben sie zu ihrer Voraussetzung die ständische Gesell- schaftsordnung mit ihren Rechtsunterschieden und ihrer örtlichen Gel- tung, welche eben die Anwendung allgemeiner und gleichartiger Grund- sätze rechtlich ausschließt. Die neue Staatsidee muß daher ihren eigenen Rechtscodex haben und zur Geltung bringen; und dieses Rechtsbuch ist das Corpus Juris, das eben darum zur allgemeinen Grundlage des Studiums der "Obrigkeit," aller Beamteten des Königthums wird, wäh- rend man daneben consequent das alte ständische Recht vollkommen
für ihn mit der höheren Berechtigung auch eine höhere Forderung auf. Er muß etwas Beſtimmtes thun.
Er muß mit ſeiner Thätigkeit das Geſammtintereſſe gegen die Sonderintereſſen und Rechte der ſtändiſchen Bildungen vertreten. Er muß allenthalben den Widerſtand der letztern brechen. Er muß jene Geſammtintereſſen erſtlich verſtehen und ſie dann mit ſeiner Gewalt durchführen. Er muß, wie jene Geſammtintereſſen, allenthalben gegen- wärtig und thätig ſein; er muß den Rechtstitel dieſes Eingreifens in die beſtehende ſtändiſche Macht in einer höheren, abſtrakten Idee ſuchen; er muß endlich dieſe ſeine Thätigkeit mit einem großen, ebenfalls all- gegenwärtigen Organ verſehen; er muß verlangen, daß dieſer Organis- mus die Geſammtintereſſen erkennen und daß er fähig ſei, jenen höhern Rechtstitel in ſich aufzunehmen und auf allen Punkten zu vertreten. Alles das ſind die Bedingungen des wirklichen und nachhaltigen Sieges des Königthums über die alte Ordnung der Dinge.
Durch alles dieß zuſammen genommen empfängt nun der Staat zuerſt ſeinen organiſchen Inhalt überhaupt. Die Idee des Staats bleibt dadurch nicht bloß eine wiſſenſchaftliche Theorie; ſie iſt auch kein bloß materielles Eingreifen in die beſtehenden Ordnungen; ſie iſt eben ſo wenig bloß ein Wunſch und Streben der Herrſcher. Sie iſt eben alles zugleich, wie jede wahre hiſtoriſche Thatſache. Die Könige dieſer Epoche wiſſen gleichſam unmittelbar, was ſie ſind und ſein ſollen. Das Wort „von Gottes Gnaden“ bezeichnet uns jene Anſchauung, welche der Staat über alle Intereſſen und Gewalten der Einzelnen ſtellt. Der große Organismus, der im Namen des neuen Königthums wirkt, iſt die Obrigkeit. Das große geiſtige Element, das beide umgibt und be- gleitet, iſt die junge Staatswiſſenſchaft. Sie ſelbſt hat zwei große Ge- biete, die faſt unwiderſtehlich ineinander greifen. Königthum und Obrig- keit bedurften für ihre ſchwere Aufgabe zweier Dinge. Erſtlich bedurften ſie eines Rechtsbewußtſeins, und eines dieſem Rechtsbewußtſein ent- ſprechenden, geltenden, fertigen, mit voller Autorität auftretenden Rechtsbuches. Für das letztere können die Rechtsbücher der ſtän- diſchen Epoche nicht dienen. Sie ſind alle zuſammen theils örtlicher Natur, theils haben ſie zu ihrer Vorausſetzung die ſtändiſche Geſell- ſchaftsordnung mit ihren Rechtsunterſchieden und ihrer örtlichen Gel- tung, welche eben die Anwendung allgemeiner und gleichartiger Grund- ſätze rechtlich ausſchließt. Die neue Staatsidee muß daher ihren eigenen Rechtscodex haben und zur Geltung bringen; und dieſes Rechtsbuch iſt das Corpus Juris, das eben darum zur allgemeinen Grundlage des Studiums der „Obrigkeit,“ aller Beamteten des Königthums wird, wäh- rend man daneben conſequent das alte ſtändiſche Recht vollkommen
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für ihn mit der höheren Berechtigung auch eine höhere Forderung auf.
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Er muß mit ſeiner Thätigkeit das Geſammtintereſſe gegen die
Sonderintereſſen und Rechte der ſtändiſchen Bildungen vertreten. Er
muß allenthalben den Widerſtand der letztern brechen. Er muß jene
Geſammtintereſſen erſtlich verſtehen und ſie dann mit ſeiner Gewalt
durchführen. Er muß, wie jene Geſammtintereſſen, allenthalben gegen-
wärtig und thätig ſein; er muß den Rechtstitel dieſes Eingreifens in
die beſtehende ſtändiſche Macht in einer höheren, abſtrakten Idee ſuchen;
er muß endlich dieſe ſeine Thätigkeit mit einem großen, ebenfalls all-
gegenwärtigen Organ verſehen; er muß verlangen, daß dieſer Organis-
mus die Geſammtintereſſen erkennen und daß er fähig ſei, jenen höhern
Rechtstitel in ſich aufzunehmen und auf allen Punkten zu vertreten.
Alles das ſind die Bedingungen des wirklichen und nachhaltigen Sieges
des Königthums über die alte Ordnung der Dinge.
Durch alles dieß zuſammen genommen empfängt nun der Staat
zuerſt ſeinen organiſchen Inhalt überhaupt. Die Idee des Staats bleibt
dadurch nicht bloß eine wiſſenſchaftliche Theorie; ſie iſt auch kein bloß
materielles Eingreifen in die beſtehenden Ordnungen; ſie iſt eben ſo
wenig bloß ein Wunſch und Streben der Herrſcher. Sie iſt eben alles
zugleich, wie jede wahre hiſtoriſche Thatſache. Die Könige dieſer Epoche
wiſſen gleichſam unmittelbar, was ſie ſind und ſein ſollen. Das Wort
„von Gottes Gnaden“ bezeichnet uns jene Anſchauung, welche der
Staat über alle Intereſſen und Gewalten der Einzelnen ſtellt. Der
große Organismus, der im Namen des neuen Königthums wirkt, iſt
die Obrigkeit. Das große geiſtige Element, das beide umgibt und be-
gleitet, iſt die junge Staatswiſſenſchaft. Sie ſelbſt hat zwei große Ge-
biete, die faſt unwiderſtehlich ineinander greifen. Königthum und Obrig-
keit bedurften für ihre ſchwere Aufgabe zweier Dinge. Erſtlich bedurften
ſie eines Rechtsbewußtſeins, und eines dieſem Rechtsbewußtſein ent-
ſprechenden, geltenden, fertigen, mit voller Autorität auftretenden
Rechtsbuches. Für das letztere können die Rechtsbücher der ſtän-
diſchen Epoche nicht dienen. Sie ſind alle zuſammen theils örtlicher
Natur, theils haben ſie zu ihrer Vorausſetzung die ſtändiſche Geſell-
ſchaftsordnung mit ihren Rechtsunterſchieden und ihrer örtlichen Gel-
tung, welche eben die Anwendung allgemeiner und gleichartiger Grund-
ſätze rechtlich ausſchließt. Die neue Staatsidee muß daher ihren eigenen
Rechtscodex haben und zur Geltung bringen; und dieſes Rechtsbuch iſt
das Corpus Juris, das eben darum zur allgemeinen Grundlage des
Studiums der „Obrigkeit,“ aller Beamteten des Königthums wird, wäh-
rend man daneben conſequent das alte ſtändiſche Recht vollkommen
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/90>, abgerufen am 23.02.2025.
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