Angelegenheiten des täglichen Lebens mischte; die großen Fragen des Staatslebens unterwarf sie dagegen ziemlich rücksichtslos ihrer eignen und einseitigen Entscheidung, namentlich in Deutschland. Gegen diese Bewegung nun, welche die individuelle Selbständigkeit und die bürger- liche Freiheit ernstlich zu bedrohen schien, suchte die Wissenschaft sowohl als die Praxis einen Halt; und diesen Halt fanden beide in derjenigen Auffassung des Staats, welche denselben als selbständiges und damit berechtigtes Individuum dem Einzelnen als einem nicht weniger selbständigen und berechtigten Wesen gegenüberstellt. So entsteht der, dem deutschen Staatsleben gleichfalls eigenthümliche, in keiner andern Sprache genau wiederzugebende Begriff des "Staatsbürgers" und des "staatsbürgerlichen Rechts." Von ihm aus wird die Staatswissenschaft vor allen Dingen zu einer Wissenschaft des Rechts der öffentlichen Gewalten, zu einer Feststellung der Gränze zwischen dem Staat und dem Staatsbürger, und zu derjenigen Auffassung der staatsbürgerlichen Freiheit, welche die letztere in der rechtlichen Begränzung der Staatsgewalt gegenüber dem einzelnen Staatsbürger er- kennt. Auch diese Auffassung des Staats enthält denselben als einen "Rechtsstaat;" aber das Recht dieser Staatsidee liegt nicht in dem Rousseau'schen Recht auf Theilnahme am Staatswillen oder dem ver- fassungsmäßigen Rechtsstaat; es besteht auch nicht in der philosophischen Idee der sittlichen Berechtigung des Staatsbegriffes, sondern vielmehr in dem Rechtsprincip, daß die Staatsgewalt gegenüber den Einzelnen nur zu demjenigen berechtigt sei, was die geltenden Bestimmungen wirklich zulassen. Es ist daher die Idee des positiven Rechts- staats, die wir hier als dritte Gestalt desselben bestimmen, und die bürgerliche Freiheit in demselben ist weder eine verfassungsmäßige noch eine ideale, sondern eine bürgerlich rechtliche, und damit vorwie- gend negative Freiheit.
Das sind die beiden großen Grundformen der deutschen Staatsidee. Die deutsche Wissenschaft vom Staate, welche den Begriff der Verwal- tung bisher nicht gekannt hat, hat daher auch den Zusammenhang beider nicht erkennen können. Sie hat sich hier wie fast in allen ihren Arbeiten, welche verschiedene Gestaltungen des geistigen oder des materiellen Lebens umfassen, in der beschränkten Vorstellung bewegt, daß es genüge, das Verschiedene neben einander zu stellen, und diese Zusammenstellung für Vergleichung, das Nacheinander für eine Geschichte zu halten. Das Verständniß der Verwaltungslehre wird sie zwingen, diesen Standpunkt gegen einen höheren zu vertauschen. Wir können unsrerseits den Inhalt der Idee des Rechtsstaats nicht weiter verfolgen. Allein es wird uns eine Bemerkung gestattet sein, deren Begründung schon an sich von
Angelegenheiten des täglichen Lebens miſchte; die großen Fragen des Staatslebens unterwarf ſie dagegen ziemlich rückſichtslos ihrer eignen und einſeitigen Entſcheidung, namentlich in Deutſchland. Gegen dieſe Bewegung nun, welche die individuelle Selbſtändigkeit und die bürger- liche Freiheit ernſtlich zu bedrohen ſchien, ſuchte die Wiſſenſchaft ſowohl als die Praxis einen Halt; und dieſen Halt fanden beide in derjenigen Auffaſſung des Staats, welche denſelben als ſelbſtändiges und damit berechtigtes Individuum dem Einzelnen als einem nicht weniger ſelbſtändigen und berechtigten Weſen gegenüberſtellt. So entſteht der, dem deutſchen Staatsleben gleichfalls eigenthümliche, in keiner andern Sprache genau wiederzugebende Begriff des „Staatsbürgers“ und des „ſtaatsbürgerlichen Rechts.“ Von ihm aus wird die Staatswiſſenſchaft vor allen Dingen zu einer Wiſſenſchaft des Rechts der öffentlichen Gewalten, zu einer Feſtſtellung der Gränze zwiſchen dem Staat und dem Staatsbürger, und zu derjenigen Auffaſſung der ſtaatsbürgerlichen Freiheit, welche die letztere in der rechtlichen Begränzung der Staatsgewalt gegenüber dem einzelnen Staatsbürger er- kennt. Auch dieſe Auffaſſung des Staats enthält denſelben als einen „Rechtsſtaat;“ aber das Recht dieſer Staatsidee liegt nicht in dem Rouſſeau’ſchen Recht auf Theilnahme am Staatswillen oder dem ver- faſſungsmäßigen Rechtsſtaat; es beſteht auch nicht in der philoſophiſchen Idee der ſittlichen Berechtigung des Staatsbegriffes, ſondern vielmehr in dem Rechtsprincip, daß die Staatsgewalt gegenüber den Einzelnen nur zu demjenigen berechtigt ſei, was die geltenden Beſtimmungen wirklich zulaſſen. Es iſt daher die Idee des poſitiven Rechts- ſtaats, die wir hier als dritte Geſtalt deſſelben beſtimmen, und die bürgerliche Freiheit in demſelben iſt weder eine verfaſſungsmäßige noch eine ideale, ſondern eine bürgerlich rechtliche, und damit vorwie- gend negative Freiheit.
Das ſind die beiden großen Grundformen der deutſchen Staatsidee. Die deutſche Wiſſenſchaft vom Staate, welche den Begriff der Verwal- tung bisher nicht gekannt hat, hat daher auch den Zuſammenhang beider nicht erkennen können. Sie hat ſich hier wie faſt in allen ihren Arbeiten, welche verſchiedene Geſtaltungen des geiſtigen oder des materiellen Lebens umfaſſen, in der beſchränkten Vorſtellung bewegt, daß es genüge, das Verſchiedene neben einander zu ſtellen, und dieſe Zuſammenſtellung für Vergleichung, das Nacheinander für eine Geſchichte zu halten. Das Verſtändniß der Verwaltungslehre wird ſie zwingen, dieſen Standpunkt gegen einen höheren zu vertauſchen. Wir können unſrerſeits den Inhalt der Idee des Rechtsſtaats nicht weiter verfolgen. Allein es wird uns eine Bemerkung geſtattet ſein, deren Begründung ſchon an ſich von
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[28/0050]
Angelegenheiten des täglichen Lebens miſchte; die großen Fragen des
Staatslebens unterwarf ſie dagegen ziemlich rückſichtslos ihrer eignen
und einſeitigen Entſcheidung, namentlich in Deutſchland. Gegen dieſe
Bewegung nun, welche die individuelle Selbſtändigkeit und die bürger-
liche Freiheit ernſtlich zu bedrohen ſchien, ſuchte die Wiſſenſchaft ſowohl
als die Praxis einen Halt; und dieſen Halt fanden beide in derjenigen
Auffaſſung des Staats, welche denſelben als ſelbſtändiges und damit
berechtigtes Individuum dem Einzelnen als einem nicht weniger
ſelbſtändigen und berechtigten Weſen gegenüberſtellt. So entſteht der,
dem deutſchen Staatsleben gleichfalls eigenthümliche, in keiner andern
Sprache genau wiederzugebende Begriff des „Staatsbürgers“ und des
„ſtaatsbürgerlichen Rechts.“ Von ihm aus wird die Staatswiſſenſchaft
vor allen Dingen zu einer Wiſſenſchaft des Rechts der öffentlichen
Gewalten, zu einer Feſtſtellung der Gränze zwiſchen dem Staat und
dem Staatsbürger, und zu derjenigen Auffaſſung der ſtaatsbürgerlichen
Freiheit, welche die letztere in der rechtlichen Begränzung der
Staatsgewalt gegenüber dem einzelnen Staatsbürger er-
kennt. Auch dieſe Auffaſſung des Staats enthält denſelben als einen
„Rechtsſtaat;“ aber das Recht dieſer Staatsidee liegt nicht in dem
Rouſſeau’ſchen Recht auf Theilnahme am Staatswillen oder dem ver-
faſſungsmäßigen Rechtsſtaat; es beſteht auch nicht in der philoſophiſchen
Idee der ſittlichen Berechtigung des Staatsbegriffes, ſondern vielmehr
in dem Rechtsprincip, daß die Staatsgewalt gegenüber den Einzelnen
nur zu demjenigen berechtigt ſei, was die geltenden Beſtimmungen
wirklich zulaſſen. Es iſt daher die Idee des poſitiven Rechts-
ſtaats, die wir hier als dritte Geſtalt deſſelben beſtimmen, und die
bürgerliche Freiheit in demſelben iſt weder eine verfaſſungsmäßige noch
eine ideale, ſondern eine bürgerlich rechtliche, und damit vorwie-
gend negative Freiheit.
Das ſind die beiden großen Grundformen der deutſchen Staatsidee.
Die deutſche Wiſſenſchaft vom Staate, welche den Begriff der Verwal-
tung bisher nicht gekannt hat, hat daher auch den Zuſammenhang
beider nicht erkennen können. Sie hat ſich hier wie faſt in allen ihren
Arbeiten, welche verſchiedene Geſtaltungen des geiſtigen oder des materiellen
Lebens umfaſſen, in der beſchränkten Vorſtellung bewegt, daß es genüge,
das Verſchiedene neben einander zu ſtellen, und dieſe Zuſammenſtellung
für Vergleichung, das Nacheinander für eine Geſchichte zu halten. Das
Verſtändniß der Verwaltungslehre wird ſie zwingen, dieſen Standpunkt
gegen einen höheren zu vertauſchen. Wir können unſrerſeits den Inhalt
der Idee des Rechtsſtaats nicht weiter verfolgen. Allein es wird uns
eine Bemerkung geſtattet ſein, deren Begründung ſchon an ſich von
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/50>, abgerufen am 09.11.2024.
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