Jahrhundert, sondern auch noch nach den französischen Kriegen erhalten. Es gab und gibt keine volle staatsbürgerliche Gleichheit und Ein- heit der Verwaltung wie in England und Frankreich. Allein der amt- liche Organismus hatte die eigentliche Thätigkeit der ständischen Selbst- verwaltungskörper theils neutralisirt, theils sich gänzlich dienstbar gemacht. Ohne geradezu das Recht desselben zu vernichten, hatte er ihnen doch die Ausübung genommen, und seine Organe an allen Punkten an die Stelle der früheren gesetzt, so daß diesen nur noch der Name, und zum Theil auch dieser nicht geblieben war. Dafür aber hatte er, nicht weniger allmächtig und strenge als in Frankreich, doch den naheliegen- den Ersatz im Staatsbürgerthum durch Verleihung einer Verfassung nicht geboten. Das Gefühl der bürgerlichen Unfreiheit war daher so stark, daß es selbst mächtiger war als das der gesellschaftlichen Un- gleichheit. Und das war es, was den folgenden Dingen ihren Cha- rakter gab.
Der Kampf nämlich, der sich schon seit 1813, in neuer Gestalt aber seit 1830 gegen diese ausschließliche Herrschaft des amtlichen Or- ganismus erhob, erscheint eben deßhalb zunächst wesentlich als ein negativer. Es handelt sich in diesen 30 Jahren nicht so sehr um das, was eigentlich durch die Verwaltung geschehen soll, als um das, durch wen es geschehen soll. Man will nicht so sehr gute Gesetze und Ad- ministration, als das Recht, beide unter Mitwirkung der Vertretungen zu bestimmen. Daher gehen alle Bestrebungen dieser Zeit nicht so sehr dahin zu fragen, was die eigentlichen Aufgaben der Staatsgewalt, als dahin, welches die richtigen Formen der Theilnahme des Volkes an der Erfüllung dieser Aufgaben seien. Und wie die Grundgesetz- gebung der Staaten daher in organischen Verfassungen culminiren, so gipfelt die Staatswissenschaft statt in der Verwaltungslehre vielmehr in der Verfassungstheorie. Das war allerdings der natürliche Gang der Dinge.
In dieser Bewegung nun, bei ziemlich völliger Unklarheit über Wesen und Aufgabe der Verwaltung und den Voraussetzungen ihrer Lösung, namentlich in Bezug auf die dazu erforderliche Verwaltungs- ordnung der Bevölkerung, lag es nahe, sich an die gegebenen Ge- staltungen der letzteren anzuschließen, und dieselben ohne eingehende Beurtheilung ihres Verhältnisses zur Verwaltung, nur erst und vor allen Dingen zu Trägern des Princips der Verfassung zu machen. Natürlich griff man dabei zuerst auf die Gemeinde zurück. Das Ge- meindeleben war das, was man eigentlich noch recht übersehen konnte. In der Gemeinde ließ sich die Idee des Staatsbürgerthums, die Theil- nahme des Einzelnen am öffentlichen Willen am leichtesten verwirklichen. Sie erschien nach aristotelischer Auffassung als der Grund des Staats.
Jahrhundert, ſondern auch noch nach den franzöſiſchen Kriegen erhalten. Es gab und gibt keine volle ſtaatsbürgerliche Gleichheit und Ein- heit der Verwaltung wie in England und Frankreich. Allein der amt- liche Organismus hatte die eigentliche Thätigkeit der ſtändiſchen Selbſt- verwaltungskörper theils neutraliſirt, theils ſich gänzlich dienſtbar gemacht. Ohne geradezu das Recht deſſelben zu vernichten, hatte er ihnen doch die Ausübung genommen, und ſeine Organe an allen Punkten an die Stelle der früheren geſetzt, ſo daß dieſen nur noch der Name, und zum Theil auch dieſer nicht geblieben war. Dafür aber hatte er, nicht weniger allmächtig und ſtrenge als in Frankreich, doch den naheliegen- den Erſatz im Staatsbürgerthum durch Verleihung einer Verfaſſung nicht geboten. Das Gefühl der bürgerlichen Unfreiheit war daher ſo ſtark, daß es ſelbſt mächtiger war als das der geſellſchaftlichen Un- gleichheit. Und das war es, was den folgenden Dingen ihren Cha- rakter gab.
Der Kampf nämlich, der ſich ſchon ſeit 1813, in neuer Geſtalt aber ſeit 1830 gegen dieſe ausſchließliche Herrſchaft des amtlichen Or- ganismus erhob, erſcheint eben deßhalb zunächſt weſentlich als ein negativer. Es handelt ſich in dieſen 30 Jahren nicht ſo ſehr um das, was eigentlich durch die Verwaltung geſchehen ſoll, als um das, durch wen es geſchehen ſoll. Man will nicht ſo ſehr gute Geſetze und Ad- miniſtration, als das Recht, beide unter Mitwirkung der Vertretungen zu beſtimmen. Daher gehen alle Beſtrebungen dieſer Zeit nicht ſo ſehr dahin zu fragen, was die eigentlichen Aufgaben der Staatsgewalt, als dahin, welches die richtigen Formen der Theilnahme des Volkes an der Erfüllung dieſer Aufgaben ſeien. Und wie die Grundgeſetz- gebung der Staaten daher in organiſchen Verfaſſungen culminiren, ſo gipfelt die Staatswiſſenſchaft ſtatt in der Verwaltungslehre vielmehr in der Verfaſſungstheorie. Das war allerdings der natürliche Gang der Dinge.
In dieſer Bewegung nun, bei ziemlich völliger Unklarheit über Weſen und Aufgabe der Verwaltung und den Vorausſetzungen ihrer Löſung, namentlich in Bezug auf die dazu erforderliche Verwaltungs- ordnung der Bevölkerung, lag es nahe, ſich an die gegebenen Ge- ſtaltungen der letzteren anzuſchließen, und dieſelben ohne eingehende Beurtheilung ihres Verhältniſſes zur Verwaltung, nur erſt und vor allen Dingen zu Trägern des Princips der Verfaſſung zu machen. Natürlich griff man dabei zuerſt auf die Gemeinde zurück. Das Ge- meindeleben war das, was man eigentlich noch recht überſehen konnte. In der Gemeinde ließ ſich die Idee des Staatsbürgerthums, die Theil- nahme des Einzelnen am öffentlichen Willen am leichteſten verwirklichen. Sie erſchien nach ariſtoteliſcher Auffaſſung als der Grund des Staats.
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Jahrhundert, ſondern auch noch nach den franzöſiſchen Kriegen erhalten.
Es gab und gibt keine volle ſtaatsbürgerliche Gleichheit und Ein-
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liche Organismus hatte die eigentliche Thätigkeit der ſtändiſchen Selbſt-
verwaltungskörper theils neutraliſirt, theils ſich gänzlich dienſtbar gemacht.
Ohne geradezu das Recht deſſelben zu vernichten, hatte er ihnen doch
die Ausübung genommen, und ſeine Organe an allen Punkten an die
Stelle der früheren geſetzt, ſo daß dieſen nur noch der Name, und
zum Theil auch dieſer nicht geblieben war. Dafür aber hatte er, nicht
weniger allmächtig und ſtrenge als in Frankreich, doch den naheliegen-
den Erſatz im Staatsbürgerthum durch Verleihung einer Verfaſſung
nicht geboten. Das Gefühl der bürgerlichen Unfreiheit war daher ſo
ſtark, daß es ſelbſt mächtiger war als das der geſellſchaftlichen Un-
gleichheit. Und das war es, was den folgenden Dingen ihren Cha-
rakter gab.
Der Kampf nämlich, der ſich ſchon ſeit 1813, in neuer Geſtalt
aber ſeit 1830 gegen dieſe ausſchließliche Herrſchaft des amtlichen Or-
ganismus erhob, erſcheint eben deßhalb zunächſt weſentlich als ein
negativer. Es handelt ſich in dieſen 30 Jahren nicht ſo ſehr um das,
was eigentlich durch die Verwaltung geſchehen ſoll, als um das, durch
wen es geſchehen ſoll. Man will nicht ſo ſehr gute Geſetze und Ad-
miniſtration, als das Recht, beide unter Mitwirkung der Vertretungen
zu beſtimmen. Daher gehen alle Beſtrebungen dieſer Zeit nicht ſo ſehr
dahin zu fragen, was die eigentlichen Aufgaben der Staatsgewalt,
als dahin, welches die richtigen Formen der Theilnahme des Volkes
an der Erfüllung dieſer Aufgaben ſeien. Und wie die Grundgeſetz-
gebung der Staaten daher in organiſchen Verfaſſungen culminiren, ſo
gipfelt die Staatswiſſenſchaft ſtatt in der Verwaltungslehre vielmehr in
der Verfaſſungstheorie. Das war allerdings der natürliche Gang der Dinge.
In dieſer Bewegung nun, bei ziemlich völliger Unklarheit über
Weſen und Aufgabe der Verwaltung und den Vorausſetzungen ihrer
Löſung, namentlich in Bezug auf die dazu erforderliche Verwaltungs-
ordnung der Bevölkerung, lag es nahe, ſich an die gegebenen Ge-
ſtaltungen der letzteren anzuſchließen, und dieſelben ohne eingehende
Beurtheilung ihres Verhältniſſes zur Verwaltung, nur erſt und vor
allen Dingen zu Trägern des Princips der Verfaſſung zu machen.
Natürlich griff man dabei zuerſt auf die Gemeinde zurück. Das Ge-
meindeleben war das, was man eigentlich noch recht überſehen konnte.
In der Gemeinde ließ ſich die Idee des Staatsbürgerthums, die Theil-
nahme des Einzelnen am öffentlichen Willen am leichteſten verwirklichen.
Sie erſchien nach ariſtoteliſcher Auffaſſung als der Grund des Staats.
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/351>, abgerufen am 16.07.2024.
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