es gar keine Uebervölkerung der mittleren und höheren Classe, sondern nur eine solche der niederen gibt. Die neue Polizeiwissenschaft sah daher in der Auswanderung nicht mehr ein rechtliches Verhältniß, und selbst die populationistische Frage nach der Verhinderung der Auswanderung war ihr mit der rechtlichen verschwunden. Sie behandelt, ohne sich ihrer Einseitigkeit bewußt zu sein, das Auswanderungswesen nur noch als ein Mittel gegen die Uebervölkerung, also als einen Theil der gesellschaftlichen Verwaltung; und zwar natürlich auch nur in so weit, als diese Auswanderung von der Verwaltung selbst hervorgerufen wird. Da das natürlich nur ganz ausnahmsweise der Fall sein kann und die Erörterung über die volkswirthschaftlichen Gründe und Folgen der freien Auswanderungen in die Volkswirthschaft gehört, so läßt es sich leicht erklären, weßhalb das, was z. B. Rau (Volkswirthschaftspflege, §. 17) Mohl (Polizeiwissenschaft, §. 21) und selbst Gerstner, der übrigens den großen Vorzug vor seinen Vorgängern hat, zwischen der Einzel- und Massenauswanderung zu unterscheiden (S. 217 ff.), ganz unbedeutend ist und uns durchaus kein Bild des Auswanderungswesens gibt, da jede Beziehung zum Auswanderungsrecht fehlt. Und doch be- steht ein solches, und ist von großer Wichtigkeit, und die Verwaltungs- lehre wird sich künftig dieses Gebietes nicht entschlagen dürfen. Selbst Roscher kommt nicht weiter als bis zu der Phrase: "daß man der Auswanderung keine Vogelfreiheit lasse, verbietet schon die einfachste Menschenliebe" (Colonien, Seite 362). Die wahre Frage aber ist in gesellschaftlicher Beziehung die, welche socialen Gründe die heutige Auswanderung aus Europa bewirken und welche socialen Folgen sie hat -- und während das Erste auf der flachen Hand liegt, ist das Letzte wohl wesentlich damit erschöpft, daß die Auswanderung der Land- wirthe die Bildung großer Grundbesitze fördert, während die der Arbeiter das gesellschaftliche Bewußtsein der zurückbleibenden hebt. Die gegenwärtigen Kämpfe um Lohnerhöhung, deren Charakterisirung wir in der Austria, Jahrg. 1865, versucht haben, waren ohne Auswande- rung gar nicht denkbar, und werden wesentlich durch die Entwicklung derselben unterstützt. Man soll das nicht übersehen! -- Nachdem aber nun dieß Princip der Freiheit der Auswanderungen einmal festgestellt war, mußte jetzt die Gesetzgebung das öffentliche Recht derselben inner- halb dieser Freiheit bestimmen; und hier griff nun der oben bereits angeführte Grundsatz durch, daß zwar die Auswanderung an sich frei sei, daß sie aber unter Vorwissen des Staats geschehen müsse, und die Wehrpflicht fügte den Satz hinzu, daß sie erst nach Erfüllung dieser Pflicht gestattet sein könne. Dieses Princip der rechtlichen Frei- heit der Auswanderung bewirkte nun, daß die Bestimmungen über das
es gar keine Uebervölkerung der mittleren und höheren Claſſe, ſondern nur eine ſolche der niederen gibt. Die neue Polizeiwiſſenſchaft ſah daher in der Auswanderung nicht mehr ein rechtliches Verhältniß, und ſelbſt die populationiſtiſche Frage nach der Verhinderung der Auswanderung war ihr mit der rechtlichen verſchwunden. Sie behandelt, ohne ſich ihrer Einſeitigkeit bewußt zu ſein, das Auswanderungsweſen nur noch als ein Mittel gegen die Uebervölkerung, alſo als einen Theil der geſellſchaftlichen Verwaltung; und zwar natürlich auch nur in ſo weit, als dieſe Auswanderung von der Verwaltung ſelbſt hervorgerufen wird. Da das natürlich nur ganz ausnahmsweiſe der Fall ſein kann und die Erörterung über die volkswirthſchaftlichen Gründe und Folgen der freien Auswanderungen in die Volkswirthſchaft gehört, ſo läßt es ſich leicht erklären, weßhalb das, was z. B. Rau (Volkswirthſchaftspflege, §. 17) Mohl (Polizeiwiſſenſchaft, §. 21) und ſelbſt Gerſtner, der übrigens den großen Vorzug vor ſeinen Vorgängern hat, zwiſchen der Einzel- und Maſſenauswanderung zu unterſcheiden (S. 217 ff.), ganz unbedeutend iſt und uns durchaus kein Bild des Auswanderungsweſens gibt, da jede Beziehung zum Auswanderungsrecht fehlt. Und doch be- ſteht ein ſolches, und iſt von großer Wichtigkeit, und die Verwaltungs- lehre wird ſich künftig dieſes Gebietes nicht entſchlagen dürfen. Selbſt Roſcher kommt nicht weiter als bis zu der Phraſe: „daß man der Auswanderung keine Vogelfreiheit laſſe, verbietet ſchon die einfachſte Menſchenliebe“ (Colonien, Seite 362). Die wahre Frage aber iſt in geſellſchaftlicher Beziehung die, welche ſocialen Gründe die heutige Auswanderung aus Europa bewirken und welche ſocialen Folgen ſie hat — und während das Erſte auf der flachen Hand liegt, iſt das Letzte wohl weſentlich damit erſchöpft, daß die Auswanderung der Land- wirthe die Bildung großer Grundbeſitze fördert, während die der Arbeiter das geſellſchaftliche Bewußtſein der zurückbleibenden hebt. Die gegenwärtigen Kämpfe um Lohnerhöhung, deren Charakteriſirung wir in der Auſtria, Jahrg. 1865, verſucht haben, waren ohne Auswande- rung gar nicht denkbar, und werden weſentlich durch die Entwicklung derſelben unterſtützt. Man ſoll das nicht überſehen! — Nachdem aber nun dieß Princip der Freiheit der Auswanderungen einmal feſtgeſtellt war, mußte jetzt die Geſetzgebung das öffentliche Recht derſelben inner- halb dieſer Freiheit beſtimmen; und hier griff nun der oben bereits angeführte Grundſatz durch, daß zwar die Auswanderung an ſich frei ſei, daß ſie aber unter Vorwiſſen des Staats geſchehen müſſe, und die Wehrpflicht fügte den Satz hinzu, daß ſie erſt nach Erfüllung dieſer Pflicht geſtattet ſein könne. Dieſes Princip der rechtlichen Frei- heit der Auswanderung bewirkte nun, daß die Beſtimmungen über das
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[203/0225]
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die populationiſtiſche Frage nach der Verhinderung der Auswanderung
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Einſeitigkeit bewußt zu ſein, das Auswanderungsweſen nur noch als
ein Mittel gegen die Uebervölkerung, alſo als einen Theil der
geſellſchaftlichen Verwaltung; und zwar natürlich auch nur in ſo weit,
als dieſe Auswanderung von der Verwaltung ſelbſt hervorgerufen wird.
Da das natürlich nur ganz ausnahmsweiſe der Fall ſein kann und
die Erörterung über die volkswirthſchaftlichen Gründe und Folgen der
freien Auswanderungen in die Volkswirthſchaft gehört, ſo läßt es ſich
leicht erklären, weßhalb das, was z. B. Rau (Volkswirthſchaftspflege,
§. 17) Mohl (Polizeiwiſſenſchaft, §. 21) und ſelbſt Gerſtner, der
übrigens den großen Vorzug vor ſeinen Vorgängern hat, zwiſchen der
Einzel- und Maſſenauswanderung zu unterſcheiden (S. 217 ff.), ganz
unbedeutend iſt und uns durchaus kein Bild des Auswanderungsweſens
gibt, da jede Beziehung zum Auswanderungsrecht fehlt. Und doch be-
ſteht ein ſolches, und iſt von großer Wichtigkeit, und die Verwaltungs-
lehre wird ſich künftig dieſes Gebietes nicht entſchlagen dürfen. Selbſt
Roſcher kommt nicht weiter als bis zu der Phraſe: „daß man
der Auswanderung keine Vogelfreiheit laſſe, verbietet ſchon die einfachſte
Menſchenliebe“ (Colonien, Seite 362). Die wahre Frage aber iſt
in geſellſchaftlicher Beziehung die, welche ſocialen Gründe die heutige
Auswanderung aus Europa bewirken und welche ſocialen Folgen ſie
hat — und während das Erſte auf der flachen Hand liegt, iſt das
Letzte wohl weſentlich damit erſchöpft, daß die Auswanderung der Land-
wirthe die Bildung großer Grundbeſitze fördert, während die der
Arbeiter das geſellſchaftliche Bewußtſein der zurückbleibenden hebt.
Die gegenwärtigen Kämpfe um Lohnerhöhung, deren Charakteriſirung
wir in der Auſtria, Jahrg. 1865, verſucht haben, waren ohne Auswande-
rung gar nicht denkbar, und werden weſentlich durch die Entwicklung
derſelben unterſtützt. Man ſoll das nicht überſehen! — Nachdem aber
nun dieß Princip der Freiheit der Auswanderungen einmal feſtgeſtellt
war, mußte jetzt die Geſetzgebung das öffentliche Recht derſelben inner-
halb dieſer Freiheit beſtimmen; und hier griff nun der oben bereits
angeführte Grundſatz durch, daß zwar die Auswanderung an ſich frei
ſei, daß ſie aber unter Vorwiſſen des Staats geſchehen müſſe, und
die Wehrpflicht fügte den Satz hinzu, daß ſie erſt nach Erfüllung
dieſer Pflicht geſtattet ſein könne. Dieſes Princip der rechtlichen Frei-
heit der Auswanderung bewirkte nun, daß die Beſtimmungen über das
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/225>, abgerufen am 24.11.2024.
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