Auftreten der verfassungsmäßigen Verwaltung und der staatsbürgerlichen Gesellschaft verschwunden, und das freie Eherecht an seine Stelle getre- ten wäre, so würden wir hier sehr kurz sein können. Allein das ist nicht der Fall. Vielleicht gibt es gar kein Theil des öffentlichen Rechts, das speciell in Deutschland durch die Vereinigung von Freiheit und Un- freiheit ein so eigenthümliches Bild darbietet, und dessen positives Recht mit seinem neuen Wesen in so tiefem Widerspruche steht, als eben das deutsche öffentliche Eherecht. Dazu kommt, daß dieß positive Recht gleich- sam hoffnungslos von der Theorie seit fünfzig Jahren verlassen ist und daß bei großartiger sittlicher und philosophischer Auffassung die alte Unfreiheit des deutschen Eherechts sich zuletzt so zu sagen aus dem öffent- lichen Leben in das Geheimniß des örtlichen Gemeinderechts geflüchtet und sich hier hinter das ziemlich gemeine Interesse der Furcht vor der Armenunterstützung so fest verschanzt hat, daß, während England und Frankreich nicht mehr daran denken, eine Ehepolizei auszuüben, Deutschland trotz seiner immerhin bedeutenden verfassungsmäßigen Ent- wicklung namentlich die Mitglieder seiner niedern Classe einem Eherecht unterworfen hat, das fast allein noch die Begriffe und Zustände des vorigen Jahrhunderts in unserer Zeit, wahrlich nicht zum Frommen des gesammten gesellschaftlichen Zustandes, aufrecht erhält. Selbst die Wissenschaft, die überhaupt in ihrer Bekanntschaft mit den örtlichen deutschen Zuständen sehr schwach ist, scheint zu schweigen. Um so noth- wendiger ist es, dieser Frage alle Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Wir müssen auch hier historisch vorgehen.
Um den Zustand des gegenwärtigen Eherechts in Deutschland recht zu verstehen, muß man zunächst die große Thatsache festhalten, daß die staatsbürgerliche Gesellschaft Deutschlands mit dem 16. Jahrhundert in ihren beiden Erscheinungen fast gleichzeitig und fast mit gleicher Kraft auftritt. Die erste dieser Erscheinungen ist die städtische Gemeinde, das Stadtbürgerthum, das sich zum Staatsbürgerthum entwickeln soll; die zweite ist die amtliche Verwaltung, welche von dem belebenden und er- hebenden Elemente der jungen Staatswissenschaft durchdrungen ist. Beide greifen auf allen Punkten in die Bildung des öffentlichen Rechts ein; namentlich auch im öffentlichen Eherecht. Scheinbar nun sollten beide, wenn auch auf verschiedenen Wegen, das Gleiche, dieselben Principien dieses Rechts vertreten und erzeugen. Dennoch ist das nicht der Fall. Im Gegentheil sehen wir zwar einerseits die amtliche Ver- waltung das Ihrige thun, und nach langem Kampfe der Ehe ihre na- türliche Freiheit gestatten; dagegen aber hält das Stadtbürgerthum an einer höchst beschränkten Auffassung fest, deren Grundlage wir darlegen werden, und so entstehen zwei Grundformen des öffentlichen Eherechts,
Auftreten der verfaſſungsmäßigen Verwaltung und der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft verſchwunden, und das freie Eherecht an ſeine Stelle getre- ten wäre, ſo würden wir hier ſehr kurz ſein können. Allein das iſt nicht der Fall. Vielleicht gibt es gar kein Theil des öffentlichen Rechts, das ſpeciell in Deutſchland durch die Vereinigung von Freiheit und Un- freiheit ein ſo eigenthümliches Bild darbietet, und deſſen poſitives Recht mit ſeinem neuen Weſen in ſo tiefem Widerſpruche ſteht, als eben das deutſche öffentliche Eherecht. Dazu kommt, daß dieß poſitive Recht gleich- ſam hoffnungslos von der Theorie ſeit fünfzig Jahren verlaſſen iſt und daß bei großartiger ſittlicher und philoſophiſcher Auffaſſung die alte Unfreiheit des deutſchen Eherechts ſich zuletzt ſo zu ſagen aus dem öffent- lichen Leben in das Geheimniß des örtlichen Gemeinderechts geflüchtet und ſich hier hinter das ziemlich gemeine Intereſſe der Furcht vor der Armenunterſtützung ſo feſt verſchanzt hat, daß, während England und Frankreich nicht mehr daran denken, eine Ehepolizei auszuüben, Deutſchland trotz ſeiner immerhin bedeutenden verfaſſungsmäßigen Ent- wicklung namentlich die Mitglieder ſeiner niedern Claſſe einem Eherecht unterworfen hat, das faſt allein noch die Begriffe und Zuſtände des vorigen Jahrhunderts in unſerer Zeit, wahrlich nicht zum Frommen des geſammten geſellſchaftlichen Zuſtandes, aufrecht erhält. Selbſt die Wiſſenſchaft, die überhaupt in ihrer Bekanntſchaft mit den örtlichen deutſchen Zuſtänden ſehr ſchwach iſt, ſcheint zu ſchweigen. Um ſo noth- wendiger iſt es, dieſer Frage alle Aufmerkſamkeit zuzuwenden.
Wir müſſen auch hier hiſtoriſch vorgehen.
Um den Zuſtand des gegenwärtigen Eherechts in Deutſchland recht zu verſtehen, muß man zunächſt die große Thatſache feſthalten, daß die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft Deutſchlands mit dem 16. Jahrhundert in ihren beiden Erſcheinungen faſt gleichzeitig und faſt mit gleicher Kraft auftritt. Die erſte dieſer Erſcheinungen iſt die ſtädtiſche Gemeinde, das Stadtbürgerthum, das ſich zum Staatsbürgerthum entwickeln ſoll; die zweite iſt die amtliche Verwaltung, welche von dem belebenden und er- hebenden Elemente der jungen Staatswiſſenſchaft durchdrungen iſt. Beide greifen auf allen Punkten in die Bildung des öffentlichen Rechts ein; namentlich auch im öffentlichen Eherecht. Scheinbar nun ſollten beide, wenn auch auf verſchiedenen Wegen, das Gleiche, dieſelben Principien dieſes Rechts vertreten und erzeugen. Dennoch iſt das nicht der Fall. Im Gegentheil ſehen wir zwar einerſeits die amtliche Ver- waltung das Ihrige thun, und nach langem Kampfe der Ehe ihre na- türliche Freiheit geſtatten; dagegen aber hält das Stadtbürgerthum an einer höchſt beſchränkten Auffaſſung feſt, deren Grundlage wir darlegen werden, und ſo entſtehen zwei Grundformen des öffentlichen Eherechts,
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Auftreten der verfaſſungsmäßigen Verwaltung und der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft verſchwunden, und das freie Eherecht an ſeine Stelle getre-
ten wäre, ſo würden wir hier ſehr kurz ſein können. Allein das iſt
nicht der Fall. Vielleicht gibt es gar kein Theil des öffentlichen Rechts,
das ſpeciell in Deutſchland durch die Vereinigung von Freiheit und Un-
freiheit ein ſo eigenthümliches Bild darbietet, und deſſen poſitives Recht
mit ſeinem neuen Weſen in ſo tiefem Widerſpruche ſteht, als eben das
deutſche öffentliche Eherecht. Dazu kommt, daß dieß poſitive Recht gleich-
ſam hoffnungslos von der Theorie ſeit fünfzig Jahren verlaſſen iſt und
daß bei großartiger ſittlicher und philoſophiſcher Auffaſſung die alte
Unfreiheit des deutſchen Eherechts ſich zuletzt ſo zu ſagen aus dem öffent-
lichen Leben in das Geheimniß des örtlichen Gemeinderechts geflüchtet
und ſich hier hinter das ziemlich gemeine Intereſſe der Furcht vor
der Armenunterſtützung ſo feſt verſchanzt hat, daß, während England
und Frankreich nicht mehr daran denken, eine Ehepolizei auszuüben,
Deutſchland trotz ſeiner immerhin bedeutenden verfaſſungsmäßigen Ent-
wicklung namentlich die Mitglieder ſeiner niedern Claſſe einem
Eherecht unterworfen hat, das faſt allein noch die Begriffe und Zuſtände
des vorigen Jahrhunderts in unſerer Zeit, wahrlich nicht zum Frommen
des geſammten geſellſchaftlichen Zuſtandes, aufrecht erhält. Selbſt die
Wiſſenſchaft, die überhaupt in ihrer Bekanntſchaft mit den örtlichen
deutſchen Zuſtänden ſehr ſchwach iſt, ſcheint zu ſchweigen. Um ſo noth-
wendiger iſt es, dieſer Frage alle Aufmerkſamkeit zuzuwenden.
Wir müſſen auch hier hiſtoriſch vorgehen.
Um den Zuſtand des gegenwärtigen Eherechts in Deutſchland recht
zu verſtehen, muß man zunächſt die große Thatſache feſthalten, daß die
ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft Deutſchlands mit dem 16. Jahrhundert in
ihren beiden Erſcheinungen faſt gleichzeitig und faſt mit gleicher Kraft
auftritt. Die erſte dieſer Erſcheinungen iſt die ſtädtiſche Gemeinde, das
Stadtbürgerthum, das ſich zum Staatsbürgerthum entwickeln ſoll; die
zweite iſt die amtliche Verwaltung, welche von dem belebenden und er-
hebenden Elemente der jungen Staatswiſſenſchaft durchdrungen iſt.
Beide greifen auf allen Punkten in die Bildung des öffentlichen Rechts
ein; namentlich auch im öffentlichen Eherecht. Scheinbar nun ſollten
beide, wenn auch auf verſchiedenen Wegen, das Gleiche, dieſelben
Principien dieſes Rechts vertreten und erzeugen. Dennoch iſt das nicht
der Fall. Im Gegentheil ſehen wir zwar einerſeits die amtliche Ver-
waltung das Ihrige thun, und nach langem Kampfe der Ehe ihre na-
türliche Freiheit geſtatten; dagegen aber hält das Stadtbürgerthum an
einer höchſt beſchränkten Auffaſſung feſt, deren Grundlage wir darlegen
werden, und ſo entſtehen zwei Grundformen des öffentlichen Eherechts,
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/163>, abgerufen am 16.02.2025.
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