darin, und nicht in den einzelnen Sätzen dieses Theorems, liegt auch die Po- tenz, welche die wissenschaftlichen und literarischen Erfolge desselben entschied. Zuerst war es natürlich, daß es in dem Maße mehr Aufsehen und Bedenken erregen mußte, als die staatsbürgerliche Gesellschaft selbst mit ihren Classen- gegensätzen in dem Unterschied von Besitz und Nichtbesitz mehr ausgebildet war; und daher ist England die Heimath des eigentlichen Kampfes für und gegen diese Theorie, während sie in Deutschland und Frankreich zunächst nur literarische Bedeutung gewann, da hier Industrie und Arbeit noch weit davon entfernt waren, solche Gefahren zu zeigen. Dennoch mußte sie zweitens, da sie denn doch immer der populationistische Ausdruck der industriellen Bewegung der Be- völkerung war und blieb, fast sofort die ganze alte, oben dargestellte, auf den ständisch-populationistischen Verhältnissen beruhende und der Polizeigewalt unter- worfene Auffassung des Bevölkerungswesens vernichten. Denn während man in den mathematischen Formeln Süßmilchs, wie den abstrakten Regeln Justi's, es eigentlich nur mit den mathematischen und administrativen Formen des Be- völkerungswesens zu thun hatte, tritt uns in Malthus die ganze Gewalt des herrschenden Elements der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung, der Besitz, und der ganze Ernst ihres tiefern Inhalts, der Gegensatz der besitzenden und nichtbesitzenden Classe, in der vollen, mathematisch und statistisch unabweisbaren Härte eines Gesetzes der Bevölkerung entgegen. Hier sind es nicht mehr Con- sequenzen, sondern es ist die lebendige Ordnung selbst, um die es sich handelt, und umsonst war es daher, einfach fortzureden von einer "Glückseligkeit", die so ernste Folgen nach sich ziehen konnte. Und man konnte das um so weniger, als Malthus nicht, wie Süßmilch und Justi, bei allgemeinen Sätzen stehen blieb, sondern mit einer für die damalige Zeit außerordentlichen Kenntniß das Bevölkerungswesen nach den einzelnen Staaten individualisirte. Auch das ist von den Darstellern der Malthus'schen Lehre immer übersehen; und dennoch war es gerade das, was diese Lehre, wir möchten sagen in den einzelnen Staaten heimisch machte und ihr den theoretisirenden Charakter wieder nahm, den die andern Arbeiten ihr gegeben. Natürlich konnten einer solchen, für jedes einzelne Land durchgeführten und doch auf dem Lebensprincip der für alle Län- der geltenden Gesellschaftsordnung beruhenden Bevölkerungstheorie die alten formal gewordenen Kathederregeln nicht Stand halten. Und jetzt tritt der Zu- stand ein, den wir im Text bezeichnet haben. Man vermochte die alten Sätze Justi's nicht wegzuwerfen, und vermochte sich der neuen von Malthus nicht zu erwehren. Den wahren Kern der Sache, die Erscheinung socialer Gesetze in den ziffermäßigen "Gesetzen" oder Durchschnitten der Bevölkerungsbewegung erkannte man aber nicht. Die Folge war, daß, nachdem das Element der Bevölkerung jetzt definitiv in die Vertheilung der wirthschaftlichen Güter gelegt schien, die Nationalökonomie künftig die Bevölkerungslehre einseitig in sich auf- nahm, und dazu that denn Say in seinem Handbuch den ersten Schritt. Die Franzosen sind seit Say in dieser Bahn geblieben, und ihnen sind die von der französisch-englischen Schule abhängigen Deutschen, namentlich Rau und Roscher, gefolgt. Freilich hatten sie so wenig wie Mohl das Verständniß der gesellschaft- lichen Grundlage der Sache. Allein dennoch war seit Justi die Verwaltung
darin, und nicht in den einzelnen Sätzen dieſes Theorems, liegt auch die Po- tenz, welche die wiſſenſchaftlichen und literariſchen Erfolge deſſelben entſchied. Zuerſt war es natürlich, daß es in dem Maße mehr Aufſehen und Bedenken erregen mußte, als die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſelbſt mit ihren Claſſen- gegenſätzen in dem Unterſchied von Beſitz und Nichtbeſitz mehr ausgebildet war; und daher iſt England die Heimath des eigentlichen Kampfes für und gegen dieſe Theorie, während ſie in Deutſchland und Frankreich zunächſt nur literariſche Bedeutung gewann, da hier Induſtrie und Arbeit noch weit davon entfernt waren, ſolche Gefahren zu zeigen. Dennoch mußte ſie zweitens, da ſie denn doch immer der populationiſtiſche Ausdruck der induſtriellen Bewegung der Be- völkerung war und blieb, faſt ſofort die ganze alte, oben dargeſtellte, auf den ſtändiſch-populationiſtiſchen Verhältniſſen beruhende und der Polizeigewalt unter- worfene Auffaſſung des Bevölkerungsweſens vernichten. Denn während man in den mathematiſchen Formeln Süßmilchs, wie den abſtrakten Regeln Juſti’s, es eigentlich nur mit den mathematiſchen und adminiſtrativen Formen des Be- völkerungsweſens zu thun hatte, tritt uns in Malthus die ganze Gewalt des herrſchenden Elements der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung, der Beſitz, und der ganze Ernſt ihres tiefern Inhalts, der Gegenſatz der beſitzenden und nichtbeſitzenden Claſſe, in der vollen, mathematiſch und ſtatiſtiſch unabweisbaren Härte eines Geſetzes der Bevölkerung entgegen. Hier ſind es nicht mehr Con- ſequenzen, ſondern es iſt die lebendige Ordnung ſelbſt, um die es ſich handelt, und umſonſt war es daher, einfach fortzureden von einer „Glückſeligkeit“, die ſo ernſte Folgen nach ſich ziehen konnte. Und man konnte das um ſo weniger, als Malthus nicht, wie Süßmilch und Juſti, bei allgemeinen Sätzen ſtehen blieb, ſondern mit einer für die damalige Zeit außerordentlichen Kenntniß das Bevölkerungsweſen nach den einzelnen Staaten individualiſirte. Auch das iſt von den Darſtellern der Malthus’ſchen Lehre immer überſehen; und dennoch war es gerade das, was dieſe Lehre, wir möchten ſagen in den einzelnen Staaten heimiſch machte und ihr den theoretiſirenden Charakter wieder nahm, den die andern Arbeiten ihr gegeben. Natürlich konnten einer ſolchen, für jedes einzelne Land durchgeführten und doch auf dem Lebensprincip der für alle Län- der geltenden Geſellſchaftsordnung beruhenden Bevölkerungstheorie die alten formal gewordenen Kathederregeln nicht Stand halten. Und jetzt tritt der Zu- ſtand ein, den wir im Text bezeichnet haben. Man vermochte die alten Sätze Juſti’s nicht wegzuwerfen, und vermochte ſich der neuen von Malthus nicht zu erwehren. Den wahren Kern der Sache, die Erſcheinung ſocialer Geſetze in den ziffermäßigen „Geſetzen“ oder Durchſchnitten der Bevölkerungsbewegung erkannte man aber nicht. Die Folge war, daß, nachdem das Element der Bevölkerung jetzt definitiv in die Vertheilung der wirthſchaftlichen Güter gelegt ſchien, die Nationalökonomie künftig die Bevölkerungslehre einſeitig in ſich auf- nahm, und dazu that denn Say in ſeinem Handbuch den erſten Schritt. Die Franzoſen ſind ſeit Say in dieſer Bahn geblieben, und ihnen ſind die von der franzöſiſch-engliſchen Schule abhängigen Deutſchen, namentlich Rau und Roſcher, gefolgt. Freilich hatten ſie ſo wenig wie Mohl das Verſtändniß der geſellſchaft- lichen Grundlage der Sache. Allein dennoch war ſeit Juſti die Verwaltung
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darin, und nicht in den einzelnen Sätzen dieſes Theorems, liegt auch die Po-
tenz, welche die wiſſenſchaftlichen und literariſchen Erfolge deſſelben entſchied.
Zuerſt war es natürlich, daß es in dem Maße mehr Aufſehen und Bedenken
erregen mußte, als die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſelbſt mit ihren Claſſen-
gegenſätzen in dem Unterſchied von Beſitz und Nichtbeſitz mehr ausgebildet war;
und daher iſt England die Heimath des eigentlichen Kampfes für und gegen
dieſe Theorie, während ſie in Deutſchland und Frankreich zunächſt nur literariſche
Bedeutung gewann, da hier Induſtrie und Arbeit noch weit davon entfernt
waren, ſolche Gefahren zu zeigen. Dennoch mußte ſie zweitens, da ſie denn
doch immer der populationiſtiſche Ausdruck der induſtriellen Bewegung der Be-
völkerung war und blieb, faſt ſofort die ganze alte, oben dargeſtellte, auf den
ſtändiſch-populationiſtiſchen Verhältniſſen beruhende und der Polizeigewalt unter-
worfene Auffaſſung des Bevölkerungsweſens vernichten. Denn während man
in den mathematiſchen Formeln Süßmilchs, wie den abſtrakten Regeln Juſti’s,
es eigentlich nur mit den mathematiſchen und adminiſtrativen Formen des Be-
völkerungsweſens zu thun hatte, tritt uns in Malthus die ganze Gewalt des
herrſchenden Elements der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung, der Beſitz,
und der ganze Ernſt ihres tiefern Inhalts, der Gegenſatz der beſitzenden und
nichtbeſitzenden Claſſe, in der vollen, mathematiſch und ſtatiſtiſch unabweisbaren
Härte eines Geſetzes der Bevölkerung entgegen. Hier ſind es nicht mehr Con-
ſequenzen, ſondern es iſt die lebendige Ordnung ſelbſt, um die es ſich handelt,
und umſonſt war es daher, einfach fortzureden von einer „Glückſeligkeit“, die
ſo ernſte Folgen nach ſich ziehen konnte. Und man konnte das um ſo weniger,
als Malthus nicht, wie Süßmilch und Juſti, bei allgemeinen Sätzen ſtehen
blieb, ſondern mit einer für die damalige Zeit außerordentlichen Kenntniß das
Bevölkerungsweſen nach den einzelnen Staaten individualiſirte. Auch das
iſt von den Darſtellern der Malthus’ſchen Lehre immer überſehen; und dennoch
war es gerade das, was dieſe Lehre, wir möchten ſagen in den einzelnen
Staaten heimiſch machte und ihr den theoretiſirenden Charakter wieder nahm,
den die andern Arbeiten ihr gegeben. Natürlich konnten einer ſolchen, für jedes
einzelne Land durchgeführten und doch auf dem Lebensprincip der für alle Län-
der geltenden Geſellſchaftsordnung beruhenden Bevölkerungstheorie die alten
formal gewordenen Kathederregeln nicht Stand halten. Und jetzt tritt der Zu-
ſtand ein, den wir im Text bezeichnet haben. Man vermochte die alten Sätze
Juſti’s nicht wegzuwerfen, und vermochte ſich der neuen von Malthus nicht zu
erwehren. Den wahren Kern der Sache, die Erſcheinung ſocialer Geſetze in
den ziffermäßigen „Geſetzen“ oder Durchſchnitten der Bevölkerungsbewegung
erkannte man aber nicht. Die Folge war, daß, nachdem das Element der
Bevölkerung jetzt definitiv in die Vertheilung der wirthſchaftlichen Güter gelegt
ſchien, die Nationalökonomie künftig die Bevölkerungslehre einſeitig in ſich auf-
nahm, und dazu that denn Say in ſeinem Handbuch den erſten Schritt. Die
Franzoſen ſind ſeit Say in dieſer Bahn geblieben, und ihnen ſind die von der
franzöſiſch-engliſchen Schule abhängigen Deutſchen, namentlich Rau und Roſcher,
gefolgt. Freilich hatten ſie ſo wenig wie Mohl das Verſtändniß der geſellſchaft-
lichen Grundlage der Sache. Allein dennoch war ſeit Juſti die Verwaltung
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/141>, abgerufen am 04.12.2024.
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