Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

worden ist. Allein gerade durch diese Scheidung mußte auch in Frank-
reich zuerst die Frage entstehen, was denn seiner Natur nach dem ge-
setzmäßigen, was dem verordnungsmäßigen Rechte angehöre. Das po-
sitive Recht hat darauf so wenig als die Theorie eine Antwort zu geben
versucht; die Lösung der Frage wird hier zuerst darin gefunden, daß
die Verordnungsgewalt so weit naturgemäß sei, als sie
nicht mit bereits bestehenden Gesetzen collidire
. Damit war
das natürliche Princip für die verordnungsmäßige Bildung des Ver-
waltungsrechts gefunden, und das letztere vermöge jenes Grundsatzes
dem gesetzmäßigen mit vollkommen gleichem Recht nebengeordnet. Gesetz
und Verordnung bilden daher hier ein Ganzes, und dieses Ganze findet
seine praktische Anwendung auf dem Gebiete des amtlichen Verwaltungs-
organismus, der, wie wir in der vollziehenden Gewalt gezeigt, auf
Grundlage der Geschichte ein ganz selbständiges Leben in Frankreich
führt. Das Rechtsgebiet dieses Organismus scheidet sich daher selb-
ständig von dem übrigen Recht, ohne Rücksicht darauf, ob es aus Ge-
setz oder Verordnung besteht; es hat seinen eigenen entscheidenden Be-
hördenorganismus, seine eigene Jurisprudenz, seine eigene Theorie; es
ist ein Ganzes für sich, und so entsteht zuerst der selbständige Begriff
des "droit administratif," das Recht der gesammten Thätigkeiten der
Verwaltungsbehörden, zusammengestellt aus Gesetzen, Verordnungen,
Entscheidungen des Conseil d'Etat und der Verwaltungspraxis, ein Rechts-
körper, den in dieser Weise nur Frankreich besitzt, und der deßhalb nicht
ohne weiteres auf das Rechtsleben anderer Länder übertragen werden
kann. England hat gar nichts Analoges; das Entsprechende in Deutsch-
land ist dagegen die Verwaltungsgesetzkunde, deren Natur und Stellung
wir sogleich betrachten werden. Jene Selbständigkeit des droit admi-
stratif
mußte nun in Frankreich auch bald ein selbständiges wissenschaft-
liches Gebiet des Verwaltungsrechts erzeugen, das sich nun, berechnet
auf die rein rechtlichen Befugnisse des großen Verwaltungsorganismus,
um die leitenden staatlichen, gesellschaftlichen und volkswirthschaftlichen
Principien nicht kümmerte, sondern nur das Geltende für die Beamteten
zusammenstellte. Es geschah daher nicht wie in Deutschland, daß das
droit administratif ein staatswissenschaftliches System ward, es hat
vielmehr das Entstehen der selbständigen Volkswirthschaftspflege in Frank-
reich verhindert, und der Franzose begreift auch jetzt nicht, was eine
"Polizeiwissenschaft" sagen will. Aber er hat dafür den Begriff eines
selbständigen Rechts der Verwaltung erzeugt, und damit einen wesent-
lichen Fortschritt gegenüber England gethan, den dann Deutschland
aufgenommen hat.

Was nun endlich Deutschland betrifft, so bietet dasselbe in

worden iſt. Allein gerade durch dieſe Scheidung mußte auch in Frank-
reich zuerſt die Frage entſtehen, was denn ſeiner Natur nach dem ge-
ſetzmäßigen, was dem verordnungsmäßigen Rechte angehöre. Das po-
ſitive Recht hat darauf ſo wenig als die Theorie eine Antwort zu geben
verſucht; die Löſung der Frage wird hier zuerſt darin gefunden, daß
die Verordnungsgewalt ſo weit naturgemäß ſei, als ſie
nicht mit bereits beſtehenden Geſetzen collidire
. Damit war
das natürliche Princip für die verordnungsmäßige Bildung des Ver-
waltungsrechts gefunden, und das letztere vermöge jenes Grundſatzes
dem geſetzmäßigen mit vollkommen gleichem Recht nebengeordnet. Geſetz
und Verordnung bilden daher hier ein Ganzes, und dieſes Ganze findet
ſeine praktiſche Anwendung auf dem Gebiete des amtlichen Verwaltungs-
organismus, der, wie wir in der vollziehenden Gewalt gezeigt, auf
Grundlage der Geſchichte ein ganz ſelbſtändiges Leben in Frankreich
führt. Das Rechtsgebiet dieſes Organismus ſcheidet ſich daher ſelb-
ſtändig von dem übrigen Recht, ohne Rückſicht darauf, ob es aus Ge-
ſetz oder Verordnung beſteht; es hat ſeinen eigenen entſcheidenden Be-
hördenorganismus, ſeine eigene Jurisprudenz, ſeine eigene Theorie; es
iſt ein Ganzes für ſich, und ſo entſteht zuerſt der ſelbſtändige Begriff
des „droit administratif,“ das Recht der geſammten Thätigkeiten der
Verwaltungsbehörden, zuſammengeſtellt aus Geſetzen, Verordnungen,
Entſcheidungen des Conseil d’État und der Verwaltungspraxis, ein Rechts-
körper, den in dieſer Weiſe nur Frankreich beſitzt, und der deßhalb nicht
ohne weiteres auf das Rechtsleben anderer Länder übertragen werden
kann. England hat gar nichts Analoges; das Entſprechende in Deutſch-
land iſt dagegen die Verwaltungsgeſetzkunde, deren Natur und Stellung
wir ſogleich betrachten werden. Jene Selbſtändigkeit des droit admi-
stratif
mußte nun in Frankreich auch bald ein ſelbſtändiges wiſſenſchaft-
liches Gebiet des Verwaltungsrechts erzeugen, das ſich nun, berechnet
auf die rein rechtlichen Befugniſſe des großen Verwaltungsorganismus,
um die leitenden ſtaatlichen, geſellſchaftlichen und volkswirthſchaftlichen
Principien nicht kümmerte, ſondern nur das Geltende für die Beamteten
zuſammenſtellte. Es geſchah daher nicht wie in Deutſchland, daß das
droit administratif ein ſtaatswiſſenſchaftliches Syſtem ward, es hat
vielmehr das Entſtehen der ſelbſtändigen Volkswirthſchaftspflege in Frank-
reich verhindert, und der Franzoſe begreift auch jetzt nicht, was eine
„Polizeiwiſſenſchaft“ ſagen will. Aber er hat dafür den Begriff eines
ſelbſtändigen Rechts der Verwaltung erzeugt, und damit einen weſent-
lichen Fortſchritt gegenüber England gethan, den dann Deutſchland
aufgenommen hat.

Was nun endlich Deutſchland betrifft, ſo bietet daſſelbe in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0112" n="90"/>
worden i&#x017F;t. Allein gerade durch die&#x017F;e Scheidung mußte auch in Frank-<lb/>
reich zuer&#x017F;t die Frage ent&#x017F;tehen, was denn &#x017F;einer Natur nach dem ge-<lb/>
&#x017F;etzmäßigen, was dem verordnungsmäßigen Rechte angehöre. Das po-<lb/>
&#x017F;itive Recht hat darauf &#x017F;o wenig als die Theorie eine Antwort zu geben<lb/>
ver&#x017F;ucht; die Lö&#x017F;ung der Frage wird hier zuer&#x017F;t darin gefunden, daß<lb/>
die <hi rendition="#g">Verordnungsgewalt &#x017F;o weit naturgemäß &#x017F;ei, als &#x017F;ie<lb/>
nicht mit bereits be&#x017F;tehenden Ge&#x017F;etzen collidire</hi>. Damit war<lb/>
das natürliche Princip für die verordnungsmäßige Bildung des Ver-<lb/>
waltungsrechts gefunden, und das letztere vermöge jenes Grund&#x017F;atzes<lb/>
dem ge&#x017F;etzmäßigen mit vollkommen gleichem Recht nebengeordnet. Ge&#x017F;etz<lb/>
und Verordnung bilden daher hier ein Ganzes, und die&#x017F;es Ganze findet<lb/>
&#x017F;eine prakti&#x017F;che Anwendung auf dem Gebiete des amtlichen Verwaltungs-<lb/>
organismus, der, wie wir in der vollziehenden Gewalt gezeigt, auf<lb/>
Grundlage der Ge&#x017F;chichte ein ganz &#x017F;elb&#x017F;tändiges Leben in Frankreich<lb/>
führt. Das Rechtsgebiet die&#x017F;es Organismus &#x017F;cheidet &#x017F;ich daher &#x017F;elb-<lb/>
&#x017F;tändig von dem übrigen Recht, ohne Rück&#x017F;icht darauf, ob es aus Ge-<lb/>
&#x017F;etz oder Verordnung be&#x017F;teht; es hat &#x017F;einen eigenen ent&#x017F;cheidenden Be-<lb/>
hördenorganismus, &#x017F;eine eigene Jurisprudenz, &#x017F;eine eigene Theorie; es<lb/>
i&#x017F;t ein Ganzes für &#x017F;ich, und &#x017F;o ent&#x017F;teht zuer&#x017F;t der &#x017F;elb&#x017F;tändige Begriff<lb/>
des <hi rendition="#aq">&#x201E;droit administratif,&#x201C;</hi> das Recht der ge&#x017F;ammten Thätigkeiten der<lb/>
Verwaltungsbehörden, zu&#x017F;ammenge&#x017F;tellt aus Ge&#x017F;etzen, Verordnungen,<lb/>
Ent&#x017F;cheidungen des <hi rendition="#aq">Conseil d&#x2019;État</hi> und der Verwaltungspraxis, ein Rechts-<lb/>
körper, den in die&#x017F;er Wei&#x017F;e nur Frankreich be&#x017F;itzt, und der deßhalb nicht<lb/>
ohne weiteres auf das Rechtsleben anderer Länder übertragen werden<lb/>
kann. England hat gar nichts Analoges; das Ent&#x017F;prechende in Deut&#x017F;ch-<lb/>
land i&#x017F;t dagegen die Verwaltungsge&#x017F;etzkunde, deren Natur und Stellung<lb/>
wir &#x017F;ogleich betrachten werden. Jene Selb&#x017F;tändigkeit des <hi rendition="#aq">droit admi-<lb/>
stratif</hi> mußte nun in Frankreich auch bald ein &#x017F;elb&#x017F;tändiges wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft-<lb/>
liches Gebiet des Verwaltungsrechts erzeugen, das &#x017F;ich nun, berechnet<lb/>
auf die rein rechtlichen Befugni&#x017F;&#x017F;e des großen Verwaltungsorganismus,<lb/>
um die leitenden &#x017F;taatlichen, ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen und volkswirth&#x017F;chaftlichen<lb/>
Principien nicht kümmerte, &#x017F;ondern nur das Geltende für die Beamteten<lb/>
zu&#x017F;ammen&#x017F;tellte. Es ge&#x017F;chah daher nicht wie in Deut&#x017F;chland, daß das<lb/><hi rendition="#aq">droit administratif</hi> ein &#x017F;taatswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliches Sy&#x017F;tem ward, es hat<lb/>
vielmehr das Ent&#x017F;tehen der &#x017F;elb&#x017F;tändigen Volkswirth&#x017F;chaftspflege in Frank-<lb/>
reich verhindert, und der Franzo&#x017F;e begreift auch jetzt nicht, was eine<lb/>
&#x201E;Polizeiwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft&#x201C; &#x017F;agen will. Aber er hat dafür den Begriff eines<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;tändigen <hi rendition="#g">Rechts</hi> der Verwaltung erzeugt, und damit einen we&#x017F;ent-<lb/>
lichen Fort&#x017F;chritt gegenüber England gethan, den dann Deut&#x017F;chland<lb/>
aufgenommen hat.</p><lb/>
                <p>Was nun endlich <hi rendition="#g">Deut&#x017F;chland</hi> betrifft, &#x017F;o bietet da&#x017F;&#x017F;elbe in<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[90/0112] worden iſt. Allein gerade durch dieſe Scheidung mußte auch in Frank- reich zuerſt die Frage entſtehen, was denn ſeiner Natur nach dem ge- ſetzmäßigen, was dem verordnungsmäßigen Rechte angehöre. Das po- ſitive Recht hat darauf ſo wenig als die Theorie eine Antwort zu geben verſucht; die Löſung der Frage wird hier zuerſt darin gefunden, daß die Verordnungsgewalt ſo weit naturgemäß ſei, als ſie nicht mit bereits beſtehenden Geſetzen collidire. Damit war das natürliche Princip für die verordnungsmäßige Bildung des Ver- waltungsrechts gefunden, und das letztere vermöge jenes Grundſatzes dem geſetzmäßigen mit vollkommen gleichem Recht nebengeordnet. Geſetz und Verordnung bilden daher hier ein Ganzes, und dieſes Ganze findet ſeine praktiſche Anwendung auf dem Gebiete des amtlichen Verwaltungs- organismus, der, wie wir in der vollziehenden Gewalt gezeigt, auf Grundlage der Geſchichte ein ganz ſelbſtändiges Leben in Frankreich führt. Das Rechtsgebiet dieſes Organismus ſcheidet ſich daher ſelb- ſtändig von dem übrigen Recht, ohne Rückſicht darauf, ob es aus Ge- ſetz oder Verordnung beſteht; es hat ſeinen eigenen entſcheidenden Be- hördenorganismus, ſeine eigene Jurisprudenz, ſeine eigene Theorie; es iſt ein Ganzes für ſich, und ſo entſteht zuerſt der ſelbſtändige Begriff des „droit administratif,“ das Recht der geſammten Thätigkeiten der Verwaltungsbehörden, zuſammengeſtellt aus Geſetzen, Verordnungen, Entſcheidungen des Conseil d’État und der Verwaltungspraxis, ein Rechts- körper, den in dieſer Weiſe nur Frankreich beſitzt, und der deßhalb nicht ohne weiteres auf das Rechtsleben anderer Länder übertragen werden kann. England hat gar nichts Analoges; das Entſprechende in Deutſch- land iſt dagegen die Verwaltungsgeſetzkunde, deren Natur und Stellung wir ſogleich betrachten werden. Jene Selbſtändigkeit des droit admi- stratif mußte nun in Frankreich auch bald ein ſelbſtändiges wiſſenſchaft- liches Gebiet des Verwaltungsrechts erzeugen, das ſich nun, berechnet auf die rein rechtlichen Befugniſſe des großen Verwaltungsorganismus, um die leitenden ſtaatlichen, geſellſchaftlichen und volkswirthſchaftlichen Principien nicht kümmerte, ſondern nur das Geltende für die Beamteten zuſammenſtellte. Es geſchah daher nicht wie in Deutſchland, daß das droit administratif ein ſtaatswiſſenſchaftliches Syſtem ward, es hat vielmehr das Entſtehen der ſelbſtändigen Volkswirthſchaftspflege in Frank- reich verhindert, und der Franzoſe begreift auch jetzt nicht, was eine „Polizeiwiſſenſchaft“ ſagen will. Aber er hat dafür den Begriff eines ſelbſtändigen Rechts der Verwaltung erzeugt, und damit einen weſent- lichen Fortſchritt gegenüber England gethan, den dann Deutſchland aufgenommen hat. Was nun endlich Deutſchland betrifft, ſo bietet daſſelbe in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/112
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/112>, abgerufen am 04.12.2024.