sein von dem wesentlichen Unterschied von Gesetz und Verordnung, namentlich in der Wissenschaft des öffentlichen Rechtes fort, und diese Wissenschaft stellte sich jetzt wie seit zwei Jahrhunderten die ewig erneute Aufgabe, das gemeinsame öffentliche Recht Deutschlands, das soge- nannte deutsche Staatsrecht, wissenschaftlich formuliren zu wollen, und thut es noch gegenwärtig; die Folge mußte eine ungeheure Verwirrung der Begriffe sein. Denn in der That gab es für das deutsche Staats- recht weder einen Begriff und ein Recht von Gesetz und Verordnung, noch mangelte er. Was für den einen Staat richtig und gültig war, war für den andern schon zu fordern ein Verbrechen. Jede klare Er- kenntniß verschwand, und damit sogar das Verständniß der so nahe liegenden französischen und englischen Zustände. Es gibt vielleicht in der ganzen Geschichte der Wissenschaft Deutschlands kein trostloseres Bild, als das dieser Zeit, in der man alle feste Grundlage verloren, und die ungeregeltste Willkür in Ausdrücken und Rechtsvorstellungen herrschen sieht.
Man kann nun im Allgemeinen sagen, daß diese Epoche eine ziem- lich überwundene ist. Die Anerkennung der organischen Stellung der Volksvertretung für die Gesetzgebung ist fast ausnahmslos gewonnen. Das Leben selbst vollbringt, was der Wortlaut der Verfassungen unbe- stimmt gelassen. Ob auch vieles zu thun ist, vieles ist schon gethan. Und wir können sagen, daß sich nach langen Mühen und Kämpfen Be- griff und Recht der Gesetze neben dem der Verordnung festgestellt haben. Aber auf diesem Punkte nun ist es, wo eine neue Arbeit beginnt. Und dieser Arbeit gehört das Folgende.
Das Gute hat nämlich die oben bezeichnete Verwirrung gehabt, daß sie die Vorstellung beseitigt hat, als könne jemals die Vollziehung und Verwaltung nur die Dienerin der Gesetzgebung werden. Man hat offen und ehrlich anerkannt, daß die Verwaltung eine Funktion hat, welche durch die Gesetzgebung niemals ganz erschöpft werden kann; sie ist als ein selbstwirkender Faktor des Lebens im Staate anerkannt. Man ist sich einig, daß sie nicht bloß das Recht hat, bei der Gesetz- gebung die Initiative zu haben, sondern daß die Verordnungsgewalt auch an die Stelle der Gesetzgebung treten muß, wo diese mangelt. Dadurch nun ist die Frage nach dem wahren Verhältniß beider Faktoren zu einander entstanden, und die gerechte Anerkennung ihrer Selbständigkeit innerhalb des Staats wird es möglich machen, dieß Verhältniß nunmehr über die Sphäre der juristischen Casuistik zu er- heben, und es als ein lebendiges und organisches darzustellen.
Die Unterscheidung von Gesetz und Verordnung. -- Je gewisser es ist, daß sich Gesetz und Verordnung erst allmählig und zwar erst seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts geschieden und zu selbständigem Rechte entwickelt
ſein von dem weſentlichen Unterſchied von Geſetz und Verordnung, namentlich in der Wiſſenſchaft des öffentlichen Rechtes fort, und dieſe Wiſſenſchaft ſtellte ſich jetzt wie ſeit zwei Jahrhunderten die ewig erneute Aufgabe, das gemeinſame öffentliche Recht Deutſchlands, das ſoge- nannte deutſche Staatsrecht, wiſſenſchaftlich formuliren zu wollen, und thut es noch gegenwärtig; die Folge mußte eine ungeheure Verwirrung der Begriffe ſein. Denn in der That gab es für das deutſche Staats- recht weder einen Begriff und ein Recht von Geſetz und Verordnung, noch mangelte er. Was für den einen Staat richtig und gültig war, war für den andern ſchon zu fordern ein Verbrechen. Jede klare Er- kenntniß verſchwand, und damit ſogar das Verſtändniß der ſo nahe liegenden franzöſiſchen und engliſchen Zuſtände. Es gibt vielleicht in der ganzen Geſchichte der Wiſſenſchaft Deutſchlands kein troſtloſeres Bild, als das dieſer Zeit, in der man alle feſte Grundlage verloren, und die ungeregeltſte Willkür in Ausdrücken und Rechtsvorſtellungen herrſchen ſieht.
Man kann nun im Allgemeinen ſagen, daß dieſe Epoche eine ziem- lich überwundene iſt. Die Anerkennung der organiſchen Stellung der Volksvertretung für die Geſetzgebung iſt faſt ausnahmslos gewonnen. Das Leben ſelbſt vollbringt, was der Wortlaut der Verfaſſungen unbe- ſtimmt gelaſſen. Ob auch vieles zu thun iſt, vieles iſt ſchon gethan. Und wir können ſagen, daß ſich nach langen Mühen und Kämpfen Be- griff und Recht der Geſetze neben dem der Verordnung feſtgeſtellt haben. Aber auf dieſem Punkte nun iſt es, wo eine neue Arbeit beginnt. Und dieſer Arbeit gehört das Folgende.
Das Gute hat nämlich die oben bezeichnete Verwirrung gehabt, daß ſie die Vorſtellung beſeitigt hat, als könne jemals die Vollziehung und Verwaltung nur die Dienerin der Geſetzgebung werden. Man hat offen und ehrlich anerkannt, daß die Verwaltung eine Funktion hat, welche durch die Geſetzgebung niemals ganz erſchöpft werden kann; ſie iſt als ein ſelbſtwirkender Faktor des Lebens im Staate anerkannt. Man iſt ſich einig, daß ſie nicht bloß das Recht hat, bei der Geſetz- gebung die Initiative zu haben, ſondern daß die Verordnungsgewalt auch an die Stelle der Geſetzgebung treten muß, wo dieſe mangelt. Dadurch nun iſt die Frage nach dem wahren Verhältniß beider Faktoren zu einander entſtanden, und die gerechte Anerkennung ihrer Selbſtändigkeit innerhalb des Staats wird es möglich machen, dieß Verhältniß nunmehr über die Sphäre der juriſtiſchen Caſuiſtik zu er- heben, und es als ein lebendiges und organiſches darzuſtellen.
Die Unterſcheidung von Geſetz und Verordnung. — Je gewiſſer es iſt, daß ſich Geſetz und Verordnung erſt allmählig und zwar erſt ſeit dem Ende des vorigen Jahrhunderts geſchieden und zu ſelbſtändigem Rechte entwickelt
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[66/0090]
ſein von dem weſentlichen Unterſchied von Geſetz und Verordnung,
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Wiſſenſchaft ſtellte ſich jetzt wie ſeit zwei Jahrhunderten die ewig erneute
Aufgabe, das gemeinſame öffentliche Recht Deutſchlands, das ſoge-
nannte deutſche Staatsrecht, wiſſenſchaftlich formuliren zu wollen, und
thut es noch gegenwärtig; die Folge mußte eine ungeheure Verwirrung
der Begriffe ſein. Denn in der That gab es für das deutſche Staats-
recht weder einen Begriff und ein Recht von Geſetz und Verordnung,
noch mangelte er. Was für den einen Staat richtig und gültig war,
war für den andern ſchon zu fordern ein Verbrechen. Jede klare Er-
kenntniß verſchwand, und damit ſogar das Verſtändniß der ſo nahe
liegenden franzöſiſchen und engliſchen Zuſtände. Es gibt vielleicht in
der ganzen Geſchichte der Wiſſenſchaft Deutſchlands kein troſtloſeres Bild,
als das dieſer Zeit, in der man alle feſte Grundlage verloren, und die
ungeregeltſte Willkür in Ausdrücken und Rechtsvorſtellungen herrſchen ſieht.
Man kann nun im Allgemeinen ſagen, daß dieſe Epoche eine ziem-
lich überwundene iſt. Die Anerkennung der organiſchen Stellung der
Volksvertretung für die Geſetzgebung iſt faſt ausnahmslos gewonnen.
Das Leben ſelbſt vollbringt, was der Wortlaut der Verfaſſungen unbe-
ſtimmt gelaſſen. Ob auch vieles zu thun iſt, vieles iſt ſchon gethan.
Und wir können ſagen, daß ſich nach langen Mühen und Kämpfen Be-
griff und Recht der Geſetze neben dem der Verordnung feſtgeſtellt haben.
Aber auf dieſem Punkte nun iſt es, wo eine neue Arbeit beginnt. Und
dieſer Arbeit gehört das Folgende.
Das Gute hat nämlich die oben bezeichnete Verwirrung gehabt,
daß ſie die Vorſtellung beſeitigt hat, als könne jemals die Vollziehung
und Verwaltung nur die Dienerin der Geſetzgebung werden. Man
hat offen und ehrlich anerkannt, daß die Verwaltung eine Funktion hat,
welche durch die Geſetzgebung niemals ganz erſchöpft werden kann; ſie
iſt als ein ſelbſtwirkender Faktor des Lebens im Staate anerkannt.
Man iſt ſich einig, daß ſie nicht bloß das Recht hat, bei der Geſetz-
gebung die Initiative zu haben, ſondern daß die Verordnungsgewalt
auch an die Stelle der Geſetzgebung treten muß, wo dieſe mangelt.
Dadurch nun iſt die Frage nach dem wahren Verhältniß beider
Faktoren zu einander entſtanden, und die gerechte Anerkennung ihrer
Selbſtändigkeit innerhalb des Staats wird es möglich machen, dieß
Verhältniß nunmehr über die Sphäre der juriſtiſchen Caſuiſtik zu er-
heben, und es als ein lebendiges und organiſches darzuſtellen.
Die Unterſcheidung von Geſetz und Verordnung. — Je gewiſſer
es iſt, daß ſich Geſetz und Verordnung erſt allmählig und zwar erſt ſeit dem
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/90>, abgerufen am 27.11.2024.
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