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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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erst siegt die Gesetzgebung, unterwirft die Vollziehung, und wir sehen
den organischen Widerspruch zur Geltung gelangen, daß die Gesetzgebung
vorwalten will. Dann siegt die Vollziehung, und zwar wie es immer
gewesen ist und ewig bleiben wird, durch das Heer, und jetzt wird
aus der beschließenden Gewalt der ersteren eine bloß berathende. Das
ist der Punkt, wo sich die neue Gesetzgebung mit ihrem Recht am meisten
der alten Gestalt der Dinge nähert. Das Gesetz ist jetzt der, unter
der Mitberathung
der Vertretungsorgane zu Stande gekommene
Wille des Staatsoberhaupts; nicht mehr der Beschluß jener Organe.
Der Wille der Gesetzgebung ist aus dem alleinherrschenden Element zu
einem organischen, thatsächlich untergeordneten Faktor des Staatslebens
geworden. Das ist die Epoche, welche mit dem Direktorium beginnt,
und ihren Höhepunkt unter Napoleon findet.

Die Epoche, welche der Herrschaft Napoleons folgt, hat einen
andern Charakter. Es ist die Zeit, in welcher die zur Selbständigkeit
gelangende staatsbürgerliche Gesellschaft darin ihren Ausdruck findet, daß
sie für ihre Vertretung das Recht des Beschlusses gewinnt, und daneben
das Königthum als selbständig anerkennt. Es ist die Zeit, in der die
eigentlichen Verfassungen entstehen. Mit ihnen formulirt sich endlich der
Begriff des Gesetzes. Erst mit der Charte Ludwigs XVIII. haben
wir das, was wir im strengen Sinne des Wortes ein Gesetz nennen;
der Staatswille, gesetzt durch den Beschluß einer organischen Volksver-
tretung und als Wille des Staats durch die Sanktion des Königs aner-
kannt. Das Königthum ist jetzt nicht mehr bloß die vollziehende Ge-
walt, sondern das selbständige Oberhaupt des Staats. Der Grund-
gedanke der eigentlich sogenannten Verfassung ist gefunden. Damit aber
entsteht zugleich die Frage nach dem Inhalt und Recht der Vollziehung
und Verwaltung. In dem Rechte der Gesetzgebung ist die Idee leben-
dig, daß das Gesetz die Quelle alles öffentlichen Rechts sein solle, allein
eben die Selbständigkeit des Königthums erhält den Gedanken, daß die
Persönlichkeit des Staats ein Leben hat, das nicht bloß von dem Ge-
setze abhängig sein darf. Der König muß das Recht haben, da wo
die Gesetze schweigen, Verordnungen zu erlassen, welche das Recht des
Gesetzes besitzen. Dieser Satz tritt anfangs mit einer gewissen Schüch-
ternheit auf, gleichsam in dem Bewußtsein der Gefahren, die er bringen
sollte. Aber selbst trotz dieser Gefahren bleibt er noch in der Charte
von 1830 bestehen und mit Recht; er ist der Grundgedanke des ver-
fassungsmäßigen Verordnungsrechts
, das Recht der vollziehenden
Gewalt, durch Verordnungen das Gesetz nicht bloß zu vollziehen, son-
dern auch zu ersetzen, beschränkt durch das zweite Princip, daß keine
Verordnung ein einmal gegebenes Gesetz aufzuheben vermag.


erſt ſiegt die Geſetzgebung, unterwirft die Vollziehung, und wir ſehen
den organiſchen Widerſpruch zur Geltung gelangen, daß die Geſetzgebung
vorwalten will. Dann ſiegt die Vollziehung, und zwar wie es immer
geweſen iſt und ewig bleiben wird, durch das Heer, und jetzt wird
aus der beſchließenden Gewalt der erſteren eine bloß berathende. Das
iſt der Punkt, wo ſich die neue Geſetzgebung mit ihrem Recht am meiſten
der alten Geſtalt der Dinge nähert. Das Geſetz iſt jetzt der, unter
der Mitberathung
der Vertretungsorgane zu Stande gekommene
Wille des Staatsoberhaupts; nicht mehr der Beſchluß jener Organe.
Der Wille der Geſetzgebung iſt aus dem alleinherrſchenden Element zu
einem organiſchen, thatſächlich untergeordneten Faktor des Staatslebens
geworden. Das iſt die Epoche, welche mit dem Direktorium beginnt,
und ihren Höhepunkt unter Napoleon findet.

Die Epoche, welche der Herrſchaft Napoleons folgt, hat einen
andern Charakter. Es iſt die Zeit, in welcher die zur Selbſtändigkeit
gelangende ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft darin ihren Ausdruck findet, daß
ſie für ihre Vertretung das Recht des Beſchluſſes gewinnt, und daneben
das Königthum als ſelbſtändig anerkennt. Es iſt die Zeit, in der die
eigentlichen Verfaſſungen entſtehen. Mit ihnen formulirt ſich endlich der
Begriff des Geſetzes. Erſt mit der Charte Ludwigs XVIII. haben
wir das, was wir im ſtrengen Sinne des Wortes ein Geſetz nennen;
der Staatswille, geſetzt durch den Beſchluß einer organiſchen Volksver-
tretung und als Wille des Staats durch die Sanktion des Königs aner-
kannt. Das Königthum iſt jetzt nicht mehr bloß die vollziehende Ge-
walt, ſondern das ſelbſtändige Oberhaupt des Staats. Der Grund-
gedanke der eigentlich ſogenannten Verfaſſung iſt gefunden. Damit aber
entſteht zugleich die Frage nach dem Inhalt und Recht der Vollziehung
und Verwaltung. In dem Rechte der Geſetzgebung iſt die Idee leben-
dig, daß das Geſetz die Quelle alles öffentlichen Rechts ſein ſolle, allein
eben die Selbſtändigkeit des Königthums erhält den Gedanken, daß die
Perſönlichkeit des Staats ein Leben hat, das nicht bloß von dem Ge-
ſetze abhängig ſein darf. Der König muß das Recht haben, da wo
die Geſetze ſchweigen, Verordnungen zu erlaſſen, welche das Recht des
Geſetzes beſitzen. Dieſer Satz tritt anfangs mit einer gewiſſen Schüch-
ternheit auf, gleichſam in dem Bewußtſein der Gefahren, die er bringen
ſollte. Aber ſelbſt trotz dieſer Gefahren bleibt er noch in der Charte
von 1830 beſtehen und mit Recht; er iſt der Grundgedanke des ver-
faſſungsmäßigen Verordnungsrechts
, das Recht der vollziehenden
Gewalt, durch Verordnungen das Geſetz nicht bloß zu vollziehen, ſon-
dern auch zu erſetzen, beſchränkt durch das zweite Princip, daß keine
Verordnung ein einmal gegebenes Geſetz aufzuheben vermag.


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[64/0088] erſt ſiegt die Geſetzgebung, unterwirft die Vollziehung, und wir ſehen den organiſchen Widerſpruch zur Geltung gelangen, daß die Geſetzgebung vorwalten will. Dann ſiegt die Vollziehung, und zwar wie es immer geweſen iſt und ewig bleiben wird, durch das Heer, und jetzt wird aus der beſchließenden Gewalt der erſteren eine bloß berathende. Das iſt der Punkt, wo ſich die neue Geſetzgebung mit ihrem Recht am meiſten der alten Geſtalt der Dinge nähert. Das Geſetz iſt jetzt der, unter der Mitberathung der Vertretungsorgane zu Stande gekommene Wille des Staatsoberhaupts; nicht mehr der Beſchluß jener Organe. Der Wille der Geſetzgebung iſt aus dem alleinherrſchenden Element zu einem organiſchen, thatſächlich untergeordneten Faktor des Staatslebens geworden. Das iſt die Epoche, welche mit dem Direktorium beginnt, und ihren Höhepunkt unter Napoleon findet. Die Epoche, welche der Herrſchaft Napoleons folgt, hat einen andern Charakter. Es iſt die Zeit, in welcher die zur Selbſtändigkeit gelangende ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft darin ihren Ausdruck findet, daß ſie für ihre Vertretung das Recht des Beſchluſſes gewinnt, und daneben das Königthum als ſelbſtändig anerkennt. Es iſt die Zeit, in der die eigentlichen Verfaſſungen entſtehen. Mit ihnen formulirt ſich endlich der Begriff des Geſetzes. Erſt mit der Charte Ludwigs XVIII. haben wir das, was wir im ſtrengen Sinne des Wortes ein Geſetz nennen; der Staatswille, geſetzt durch den Beſchluß einer organiſchen Volksver- tretung und als Wille des Staats durch die Sanktion des Königs aner- kannt. Das Königthum iſt jetzt nicht mehr bloß die vollziehende Ge- walt, ſondern das ſelbſtändige Oberhaupt des Staats. Der Grund- gedanke der eigentlich ſogenannten Verfaſſung iſt gefunden. Damit aber entſteht zugleich die Frage nach dem Inhalt und Recht der Vollziehung und Verwaltung. In dem Rechte der Geſetzgebung iſt die Idee leben- dig, daß das Geſetz die Quelle alles öffentlichen Rechts ſein ſolle, allein eben die Selbſtändigkeit des Königthums erhält den Gedanken, daß die Perſönlichkeit des Staats ein Leben hat, das nicht bloß von dem Ge- ſetze abhängig ſein darf. Der König muß das Recht haben, da wo die Geſetze ſchweigen, Verordnungen zu erlaſſen, welche das Recht des Geſetzes beſitzen. Dieſer Satz tritt anfangs mit einer gewiſſen Schüch- ternheit auf, gleichſam in dem Bewußtſein der Gefahren, die er bringen ſollte. Aber ſelbſt trotz dieſer Gefahren bleibt er noch in der Charte von 1830 beſtehen und mit Recht; er iſt der Grundgedanke des ver- faſſungsmäßigen Verordnungsrechts, das Recht der vollziehenden Gewalt, durch Verordnungen das Geſetz nicht bloß zu vollziehen, ſon- dern auch zu erſetzen, beſchränkt durch das zweite Princip, daß keine Verordnung ein einmal gegebenes Geſetz aufzuheben vermag.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/88>, abgerufen am 27.11.2024.