Man soll nur nicht glauben, daß der tiefe Widerspruch, der in diesem Princip zu dem Wesen der germanischen Staatenbildung liegt, ganz unbeachtet vorübergegangen sei. Wir sehen im Gegentheil viel- fache Versuche, das Recht des Gesetzes gegenüber dem Rechte der Ver- ordnung aufrecht zu halten. Aber sie blieben bis zu den siebziger Jahren im Gebiete der Theorie; diese Theorien sind aber nur verständlich auf Grundlage der obigen historischen Auffassung. Wir müssen uns be- gnügen, hier ihre Richtung zu charakterisiren. Den ersten Versuch macht Montesquieu mit seiner Scheidung der Gewalten; indem er die gesetz- gebende Gewalt der richterlichen gegenüberstellt, will er eigentlich dem Organismus des Staats Begriff und Recht des Gesetzes im Namen der Politik vindiciren. Die zweite Richtung, von Moser vertreten, will das Recht auf die Scheidung von Gesetz und Verordnung auf die historischen Bildungen des öffentlichen Rechts zurückführen, während die rein philo- sophische der französischen Encyclopädisten, vor allen Rousseau, jeden Staatswillen zum Gesetze machen. Daneben sucht die eigentliche Juris- prudenz in der casuistischen Unterscheidung von Justiz- und Admini- strativsachen die Gränze für die rechtsbildende Kraft und Gültigkeit der Verordnung, gelangt aber auch ihrerseits nur zu Abstraktionen, weil eben das Substrat der Unterscheidung, die rechtlich anerkannte Natur des Gesetzes gegenüber der Verordnung fehlt, und diese Jurisprudenz sich eigentlich gar nicht zur Aufgabe macht, sie herzustellen, so ist mit dem achtzehnten Jahrhundert das Gebiet des Verordnungsrechts eigent- lich verschwunden; auch die unklaren Versuche, in einer Notabelnver- sammlung ein Organ der Gesetzgebung selbständig herzustellen, scheitern. Grundsatz ist, daß Recht ist, was der König will, und nichts anderes; in ihm besteht das öffentliche Recht, und in diesem Zustande konnte daher auch keine Theorie, sondern nur die organische Neugestaltung des Staats Hülfe bringen.
Es ist natürlich vollkommen unmöglich, an diesem Orte auf diesen durch- aus vernachlässigten Theil der Geschichte einzugehen. Wir bemerken nur Eins, um vielleicht zu weiteren Fragen anzuregen. Selbst das römische Recht hat sich diesen Untersuchungen nicht etwa bloß entzogen, sondern sogar ein neues Moment hinzugefügt, ohne es zu erklären, das Moment der Reception. Es ist bisher nicht im Stande gewesen, die Frage zu beantworten, ob das römische Recht selbst Gesetz sei oder nicht; selbst der Ausdruck "geltendes Recht" genügt nicht, da eben nicht alles im römischen Recht gilt, und nirgends auch nur der Versuch existirt, einen leitenden Grundsatz für die Scheidung des Gelten- den und Nichtgeltenden aufzustellen. Wir müssen daher die weitere Bearbeitung der oben angedeuteten Gesichtspunkte für die Aufgabe selbständiger, freilich eben so schwieriger als wichtiger Arbeiten halten. Erst das Folgende kann genauer betrachtet werden.
Man ſoll nur nicht glauben, daß der tiefe Widerſpruch, der in dieſem Princip zu dem Weſen der germaniſchen Staatenbildung liegt, ganz unbeachtet vorübergegangen ſei. Wir ſehen im Gegentheil viel- fache Verſuche, das Recht des Geſetzes gegenüber dem Rechte der Ver- ordnung aufrecht zu halten. Aber ſie blieben bis zu den ſiebziger Jahren im Gebiete der Theorie; dieſe Theorien ſind aber nur verſtändlich auf Grundlage der obigen hiſtoriſchen Auffaſſung. Wir müſſen uns be- gnügen, hier ihre Richtung zu charakteriſiren. Den erſten Verſuch macht Montesquieu mit ſeiner Scheidung der Gewalten; indem er die geſetz- gebende Gewalt der richterlichen gegenüberſtellt, will er eigentlich dem Organismus des Staats Begriff und Recht des Geſetzes im Namen der Politik vindiciren. Die zweite Richtung, von Moſer vertreten, will das Recht auf die Scheidung von Geſetz und Verordnung auf die hiſtoriſchen Bildungen des öffentlichen Rechts zurückführen, während die rein philo- ſophiſche der franzöſiſchen Encyclopädiſten, vor allen Rouſſeau, jeden Staatswillen zum Geſetze machen. Daneben ſucht die eigentliche Juris- prudenz in der caſuiſtiſchen Unterſcheidung von Juſtiz- und Admini- ſtrativſachen die Gränze für die rechtsbildende Kraft und Gültigkeit der Verordnung, gelangt aber auch ihrerſeits nur zu Abſtraktionen, weil eben das Subſtrat der Unterſcheidung, die rechtlich anerkannte Natur des Geſetzes gegenüber der Verordnung fehlt, und dieſe Jurisprudenz ſich eigentlich gar nicht zur Aufgabe macht, ſie herzuſtellen, ſo iſt mit dem achtzehnten Jahrhundert das Gebiet des Verordnungsrechts eigent- lich verſchwunden; auch die unklaren Verſuche, in einer Notabelnver- ſammlung ein Organ der Geſetzgebung ſelbſtändig herzuſtellen, ſcheitern. Grundſatz iſt, daß Recht iſt, was der König will, und nichts anderes; in ihm beſteht das öffentliche Recht, und in dieſem Zuſtande konnte daher auch keine Theorie, ſondern nur die organiſche Neugeſtaltung des Staats Hülfe bringen.
Es iſt natürlich vollkommen unmöglich, an dieſem Orte auf dieſen durch- aus vernachläſſigten Theil der Geſchichte einzugehen. Wir bemerken nur Eins, um vielleicht zu weiteren Fragen anzuregen. Selbſt das römiſche Recht hat ſich dieſen Unterſuchungen nicht etwa bloß entzogen, ſondern ſogar ein neues Moment hinzugefügt, ohne es zu erklären, das Moment der Reception. Es iſt bisher nicht im Stande geweſen, die Frage zu beantworten, ob das römiſche Recht ſelbſt Geſetz ſei oder nicht; ſelbſt der Ausdruck „geltendes Recht“ genügt nicht, da eben nicht alles im römiſchen Recht gilt, und nirgends auch nur der Verſuch exiſtirt, einen leitenden Grundſatz für die Scheidung des Gelten- den und Nichtgeltenden aufzuſtellen. Wir müſſen daher die weitere Bearbeitung der oben angedeuteten Geſichtspunkte für die Aufgabe ſelbſtändiger, freilich eben ſo ſchwieriger als wichtiger Arbeiten halten. Erſt das Folgende kann genauer betrachtet werden.
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ganz unbeachtet vorübergegangen ſei. Wir ſehen im Gegentheil viel-
fache Verſuche, das Recht des Geſetzes gegenüber dem Rechte der Ver-
ordnung aufrecht zu halten. Aber ſie blieben bis zu den ſiebziger Jahren
im Gebiete der Theorie; dieſe Theorien ſind aber nur verſtändlich auf
Grundlage der obigen hiſtoriſchen Auffaſſung. Wir müſſen uns be-
gnügen, hier ihre Richtung zu charakteriſiren. Den erſten Verſuch macht
Montesquieu mit ſeiner Scheidung der Gewalten; indem er die geſetz-
gebende Gewalt der richterlichen gegenüberſtellt, will er eigentlich dem
Organismus des Staats Begriff und Recht des Geſetzes im Namen der
Politik vindiciren. Die zweite Richtung, von Moſer vertreten, will das
Recht auf die Scheidung von Geſetz und Verordnung auf die hiſtoriſchen
Bildungen des öffentlichen Rechts zurückführen, während die rein philo-
ſophiſche der franzöſiſchen Encyclopädiſten, vor allen Rouſſeau, jeden
Staatswillen zum Geſetze machen. Daneben ſucht die eigentliche Juris-
prudenz in der caſuiſtiſchen Unterſcheidung von Juſtiz- und Admini-
ſtrativſachen die Gränze für die rechtsbildende Kraft und Gültigkeit der
Verordnung, gelangt aber auch ihrerſeits nur zu Abſtraktionen, weil
eben das Subſtrat der Unterſcheidung, die rechtlich anerkannte Natur
des Geſetzes gegenüber der Verordnung fehlt, und dieſe Jurisprudenz
ſich eigentlich gar nicht zur Aufgabe macht, ſie herzuſtellen, ſo iſt mit
dem achtzehnten Jahrhundert das Gebiet des Verordnungsrechts eigent-
lich verſchwunden; auch die unklaren Verſuche, in einer Notabelnver-
ſammlung ein Organ der Geſetzgebung ſelbſtändig herzuſtellen, ſcheitern.
Grundſatz iſt, daß Recht iſt, was der König will, und nichts anderes;
in ihm beſteht das öffentliche Recht, und in dieſem Zuſtande konnte
daher auch keine Theorie, ſondern nur die organiſche Neugeſtaltung des
Staats Hülfe bringen.
Es iſt natürlich vollkommen unmöglich, an dieſem Orte auf dieſen durch-
aus vernachläſſigten Theil der Geſchichte einzugehen. Wir bemerken nur Eins,
um vielleicht zu weiteren Fragen anzuregen. Selbſt das römiſche Recht hat
ſich dieſen Unterſuchungen nicht etwa bloß entzogen, ſondern ſogar ein neues
Moment hinzugefügt, ohne es zu erklären, das Moment der Reception. Es
iſt bisher nicht im Stande geweſen, die Frage zu beantworten, ob das römiſche
Recht ſelbſt Geſetz ſei oder nicht; ſelbſt der Ausdruck „geltendes Recht“ genügt
nicht, da eben nicht alles im römiſchen Recht gilt, und nirgends auch nur
der Verſuch exiſtirt, einen leitenden Grundſatz für die Scheidung des Gelten-
den und Nichtgeltenden aufzuſtellen. Wir müſſen daher die weitere Bearbeitung
der oben angedeuteten Geſichtspunkte für die Aufgabe ſelbſtändiger, freilich eben
ſo ſchwieriger als wichtiger Arbeiten halten. Erſt das Folgende kann genauer
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/85>, abgerufen am 27.11.2024.
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