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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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Grundbesitz blieb daher das herrschende Element in den englischen so-
cialen Zuständen. Die normännische Eroberung zweitens hatte einen
ganz andern Charakter als die germanische Eroberung der römischen
Welt. Sie vermochte nicht, das unterworfene Volk unfrei zu machen;
sie zwang daher den erobernden Stamm, auch nach der Eroberung noch
eine festgeschlossene Masse zu bilden, um dem einheimischen Volke nicht
zu unterliegen. Eine Trennung der Baronien vom Königthum, ein
Zurückfallen der Souveränetät der letzteren an die ersteren, eine Ver-
schmelzung der freiherrlichen Grundbesitzer mit den Hoheitsrechten, wie
wir sie auf dem Continent finden, kurz, der Begriff und das Recht der
Herrschaft entsteht in England gar nicht. Es gibt keine staatliche
Unfreiheit des Bauernstandes, wenn auch viel wirthschaftliche Unfreiheit
im Einzelnen vorkommt. Die herrschende Klasse herrscht daher aller-
dings über den Staat, aber sie hat die beherrschte nicht unfrei gemacht.
Das ist es nun, was dem innern Leben Englands bis auf den heutigen
Tag seinen Charakter, und der örtlichen Selbstverwaltung ihr Princip
gegeben hat. Das ursprüngliche Recht der Geschlechterordnung, das Recht
der freien Hufe in der Dorfschaft, erhält sich. Es fehlt daher in Eng-
land jener so tief greifende Unterschied zwischen Stadt und Land, der die
gesellschaftliche Geschichte des Continents beherrscht. In England braucht
sich das entstehende Staatsbürgerthum vor der Gewalt der Grundherrlich-
keit nicht in die Stadt zu flüchten. Es braucht nicht jenen ungeheuren
Kampf des Städtewesens mit den Grundherren aufzunehmen, der das
Mittelalter diesseits des Kanals beherrscht. Das "Städtewesen des
Mittelalters," das man aus Mangel an Kenntniß der englischen und
skandinavischen Geschichte als den Gesammtzustand Europas im Mittel-
alter bezeichnet hat, existirt gar nicht, weder in England noch in Skan-
dinavien. Wohl gab es, wie wir sehen werden, und gibt es noch
Städte auch in diesen Ländern. Aber die Stadt ist keine sociale Kate-
gorie des Volkslebens, und daher sind die continentalen Rechtsbegriffe
und Thatsachen, welche wir als den "dritten Stand" zusammenfassen,
weder in England, noch in Skandinavien vorhanden. Ein "tiers etat"
hat dort nie existirt, und konnte nicht existiren; denn seine Voraus-
setzung ist der sociale Unterschied zwischen Herrschaft und Stadt, zwischen
Grundbesitz und gewerblichem Besitz. Erst wenn wir in der deutschen
Wissenschaft so weit sein werden, anzuerkennen, daß unsere gewöhnliche
Auffassung nicht viel weiter reicht, als bis an die Gränzen des deut-
schen Lebens, und daß wir als erste Voraussetzung alles Fortschrittes
die principielle Verallgemeinerung unserer deutschen Begriffe für ganz
Europa beseitigen müssen, werden wir jene Verhältnisse so einfach und
verständlich finden, wie sie es in der That sind. England aber ist

Stein, die Verwaltungslehre. I. 30

Grundbeſitz blieb daher das herrſchende Element in den engliſchen ſo-
cialen Zuſtänden. Die normänniſche Eroberung zweitens hatte einen
ganz andern Charakter als die germaniſche Eroberung der römiſchen
Welt. Sie vermochte nicht, das unterworfene Volk unfrei zu machen;
ſie zwang daher den erobernden Stamm, auch nach der Eroberung noch
eine feſtgeſchloſſene Maſſe zu bilden, um dem einheimiſchen Volke nicht
zu unterliegen. Eine Trennung der Baronien vom Königthum, ein
Zurückfallen der Souveränetät der letzteren an die erſteren, eine Ver-
ſchmelzung der freiherrlichen Grundbeſitzer mit den Hoheitsrechten, wie
wir ſie auf dem Continent finden, kurz, der Begriff und das Recht der
Herrſchaft entſteht in England gar nicht. Es gibt keine ſtaatliche
Unfreiheit des Bauernſtandes, wenn auch viel wirthſchaftliche Unfreiheit
im Einzelnen vorkommt. Die herrſchende Klaſſe herrſcht daher aller-
dings über den Staat, aber ſie hat die beherrſchte nicht unfrei gemacht.
Das iſt es nun, was dem innern Leben Englands bis auf den heutigen
Tag ſeinen Charakter, und der örtlichen Selbſtverwaltung ihr Princip
gegeben hat. Das urſprüngliche Recht der Geſchlechterordnung, das Recht
der freien Hufe in der Dorfſchaft, erhält ſich. Es fehlt daher in Eng-
land jener ſo tief greifende Unterſchied zwiſchen Stadt und Land, der die
geſellſchaftliche Geſchichte des Continents beherrſcht. In England braucht
ſich das entſtehende Staatsbürgerthum vor der Gewalt der Grundherrlich-
keit nicht in die Stadt zu flüchten. Es braucht nicht jenen ungeheuren
Kampf des Städteweſens mit den Grundherren aufzunehmen, der das
Mittelalter dieſſeits des Kanals beherrſcht. Das „Städteweſen des
Mittelalters,“ das man aus Mangel an Kenntniß der engliſchen und
ſkandinaviſchen Geſchichte als den Geſammtzuſtand Europas im Mittel-
alter bezeichnet hat, exiſtirt gar nicht, weder in England noch in Skan-
dinavien. Wohl gab es, wie wir ſehen werden, und gibt es noch
Städte auch in dieſen Ländern. Aber die Stadt iſt keine ſociale Kate-
gorie des Volkslebens, und daher ſind die continentalen Rechtsbegriffe
und Thatſachen, welche wir als den „dritten Stand“ zuſammenfaſſen,
weder in England, noch in Skandinavien vorhanden. Ein „tiers état“
hat dort nie exiſtirt, und konnte nicht exiſtiren; denn ſeine Voraus-
ſetzung iſt der ſociale Unterſchied zwiſchen Herrſchaft und Stadt, zwiſchen
Grundbeſitz und gewerblichem Beſitz. Erſt wenn wir in der deutſchen
Wiſſenſchaft ſo weit ſein werden, anzuerkennen, daß unſere gewöhnliche
Auffaſſung nicht viel weiter reicht, als bis an die Gränzen des deut-
ſchen Lebens, und daß wir als erſte Vorausſetzung alles Fortſchrittes
die principielle Verallgemeinerung unſerer deutſchen Begriffe für ganz
Europa beſeitigen müſſen, werden wir jene Verhältniſſe ſo einfach und
verſtändlich finden, wie ſie es in der That ſind. England aber iſt

Stein, die Verwaltungslehre. I. 30
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[465/0489] Grundbeſitz blieb daher das herrſchende Element in den engliſchen ſo- cialen Zuſtänden. Die normänniſche Eroberung zweitens hatte einen ganz andern Charakter als die germaniſche Eroberung der römiſchen Welt. Sie vermochte nicht, das unterworfene Volk unfrei zu machen; ſie zwang daher den erobernden Stamm, auch nach der Eroberung noch eine feſtgeſchloſſene Maſſe zu bilden, um dem einheimiſchen Volke nicht zu unterliegen. Eine Trennung der Baronien vom Königthum, ein Zurückfallen der Souveränetät der letzteren an die erſteren, eine Ver- ſchmelzung der freiherrlichen Grundbeſitzer mit den Hoheitsrechten, wie wir ſie auf dem Continent finden, kurz, der Begriff und das Recht der Herrſchaft entſteht in England gar nicht. Es gibt keine ſtaatliche Unfreiheit des Bauernſtandes, wenn auch viel wirthſchaftliche Unfreiheit im Einzelnen vorkommt. Die herrſchende Klaſſe herrſcht daher aller- dings über den Staat, aber ſie hat die beherrſchte nicht unfrei gemacht. Das iſt es nun, was dem innern Leben Englands bis auf den heutigen Tag ſeinen Charakter, und der örtlichen Selbſtverwaltung ihr Princip gegeben hat. Das urſprüngliche Recht der Geſchlechterordnung, das Recht der freien Hufe in der Dorfſchaft, erhält ſich. Es fehlt daher in Eng- land jener ſo tief greifende Unterſchied zwiſchen Stadt und Land, der die geſellſchaftliche Geſchichte des Continents beherrſcht. In England braucht ſich das entſtehende Staatsbürgerthum vor der Gewalt der Grundherrlich- keit nicht in die Stadt zu flüchten. Es braucht nicht jenen ungeheuren Kampf des Städteweſens mit den Grundherren aufzunehmen, der das Mittelalter dieſſeits des Kanals beherrſcht. Das „Städteweſen des Mittelalters,“ das man aus Mangel an Kenntniß der engliſchen und ſkandinaviſchen Geſchichte als den Geſammtzuſtand Europas im Mittel- alter bezeichnet hat, exiſtirt gar nicht, weder in England noch in Skan- dinavien. Wohl gab es, wie wir ſehen werden, und gibt es noch Städte auch in dieſen Ländern. Aber die Stadt iſt keine ſociale Kate- gorie des Volkslebens, und daher ſind die continentalen Rechtsbegriffe und Thatſachen, welche wir als den „dritten Stand“ zuſammenfaſſen, weder in England, noch in Skandinavien vorhanden. Ein „tiers état“ hat dort nie exiſtirt, und konnte nicht exiſtiren; denn ſeine Voraus- ſetzung iſt der ſociale Unterſchied zwiſchen Herrſchaft und Stadt, zwiſchen Grundbeſitz und gewerblichem Beſitz. Erſt wenn wir in der deutſchen Wiſſenſchaft ſo weit ſein werden, anzuerkennen, daß unſere gewöhnliche Auffaſſung nicht viel weiter reicht, als bis an die Gränzen des deut- ſchen Lebens, und daß wir als erſte Vorausſetzung alles Fortſchrittes die principielle Verallgemeinerung unſerer deutſchen Begriffe für ganz Europa beſeitigen müſſen, werden wir jene Verhältniſſe ſo einfach und verſtändlich finden, wie ſie es in der That ſind. England aber iſt Stein, die Verwaltungslehre. I. 30

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/489>, abgerufen am 22.11.2024.