in dem Dorfe zu handhaben, die Polizei zu verwalten, ja selbst die bäuerlichen Lasten aufzuerlegen. Der Regel nach bleibt die Form der bäuerlichen Selbstverwaltung, indem die Dorfschaft den Schultheiß wählt, und selbst Vertreter an seine Seite setzt; allein dieses Organ hat kein Recht zu einem selbständigen Willen, sondern wird zu einer bloß ausführenden Gewalt für den Gutsherrn, dessen Vertreter der Amtmann ist. Aber noch ist der Unterschied zwischen der Herrschaft und der Dorf- schaft ein großer. Die Hintersassen der Herrschaft sitzen auf dem guts- herrlichen Grunde, und haben daher gar keinen eigenen Besitz; weil sie keinen Besitz haben, sind sie auch grundsätzlich unfähig, an einer öffent- lichen Verwaltung Theil zu nehmen, und mit ihrem Besitz ganz in der Hand ihres Herrn; sie sind unfrei. Die Dorfschaft ist dagegen mit ihrem Besitze ursprünglich frei, und ihre Unterwerfung unter den Grund- herrn daher ein freiwilliges, die Rechte des letztern oft sehr eng beschränkt, das Recht der Bauernschaft ein großes. Die Herrschaft, indem sie auf diese Weise die Dorfschaft und ihre eigene Grundherrlichkeit zusammen umfaßt, besteht daher aus zwei wesentlich verschiedenen Elementen, die aber dennoch in dem Gutsherrn zusammengefaßt sind; es sind gleichsam zwei Verwaltungssysteme in Einer Person vereinigt. In dieser Ver- bindung des Entgegengesetzten konnte ein innerer Kampf nicht ausbleiben. Das Interesse der Grundherren drängte sie, die ursprünglich freie Bauern- schaft den Grundholden gleich zu stellen, und ihre Selbstverwaltung in die Willkür ihrer Amtmänner und Vögte aufzuheben. Die Bauernschaft, indolent und unfähig zum Widerstand, gibt langsam nach; ein Recht nach dem andern, eine Entscheidung nach der andern fällt dem Guts- herrn zu; dieser beginnt dann auch in das Abgabenwesen einzugreifen; er legt Steuern und Lasten aller Art auf, und die Unfreien gelten alsbald als Beispiel für die Freien. Noch aber lebt in den Bauern- schaften die Erinnerung an ihre alte Freiheit, an das Recht der Selbst- verwaltung; sie machen es geltend, sie klagen, sie wehren sich; aber in ihrer Vereinzelung unterliegen sie. Dennoch bleibt der unterdrückte Zorn lebendig; als endlich die Willkür zu groß wird, erhebt sich, fast in ganz Europa, der Bauernstand gegen die Herrschaft, und es entstehen die Bauernkriege. Diese Bauernkriege sind nichts anderes als der Waffen- kampf der Dorfschaften gegen die Herrschaften, des letzten Restes der Geschlechterordnung gegen die ständische Ordnung, die sich mit den herr- schenden Geschlechtern verbunden hat. Aber dieser Waffenkampf ist hoffnungslos, denn er erscheint nirgends gleichzeitig und auch nicht gleichartig. Die Erhebung hängt eben davon ab, ob die einzelnen Gutsherren gegen die Bauernschaften mehr oder weniger hart gewesen; bei den Bauernschaften geht das Bewußtsein der gemeinsamen Sache
in dem Dorfe zu handhaben, die Polizei zu verwalten, ja ſelbſt die bäuerlichen Laſten aufzuerlegen. Der Regel nach bleibt die Form der bäuerlichen Selbſtverwaltung, indem die Dorfſchaft den Schultheiß wählt, und ſelbſt Vertreter an ſeine Seite ſetzt; allein dieſes Organ hat kein Recht zu einem ſelbſtändigen Willen, ſondern wird zu einer bloß ausführenden Gewalt für den Gutsherrn, deſſen Vertreter der Amtmann iſt. Aber noch iſt der Unterſchied zwiſchen der Herrſchaft und der Dorf- ſchaft ein großer. Die Hinterſaſſen der Herrſchaft ſitzen auf dem guts- herrlichen Grunde, und haben daher gar keinen eigenen Beſitz; weil ſie keinen Beſitz haben, ſind ſie auch grundſätzlich unfähig, an einer öffent- lichen Verwaltung Theil zu nehmen, und mit ihrem Beſitz ganz in der Hand ihres Herrn; ſie ſind unfrei. Die Dorfſchaft iſt dagegen mit ihrem Beſitze urſprünglich frei, und ihre Unterwerfung unter den Grund- herrn daher ein freiwilliges, die Rechte des letztern oft ſehr eng beſchränkt, das Recht der Bauernſchaft ein großes. Die Herrſchaft, indem ſie auf dieſe Weiſe die Dorfſchaft und ihre eigene Grundherrlichkeit zuſammen umfaßt, beſteht daher aus zwei weſentlich verſchiedenen Elementen, die aber dennoch in dem Gutsherrn zuſammengefaßt ſind; es ſind gleichſam zwei Verwaltungsſyſteme in Einer Perſon vereinigt. In dieſer Ver- bindung des Entgegengeſetzten konnte ein innerer Kampf nicht ausbleiben. Das Intereſſe der Grundherren drängte ſie, die urſprünglich freie Bauern- ſchaft den Grundholden gleich zu ſtellen, und ihre Selbſtverwaltung in die Willkür ihrer Amtmänner und Vögte aufzuheben. Die Bauernſchaft, indolent und unfähig zum Widerſtand, gibt langſam nach; ein Recht nach dem andern, eine Entſcheidung nach der andern fällt dem Guts- herrn zu; dieſer beginnt dann auch in das Abgabenweſen einzugreifen; er legt Steuern und Laſten aller Art auf, und die Unfreien gelten alsbald als Beiſpiel für die Freien. Noch aber lebt in den Bauern- ſchaften die Erinnerung an ihre alte Freiheit, an das Recht der Selbſt- verwaltung; ſie machen es geltend, ſie klagen, ſie wehren ſich; aber in ihrer Vereinzelung unterliegen ſie. Dennoch bleibt der unterdrückte Zorn lebendig; als endlich die Willkür zu groß wird, erhebt ſich, faſt in ganz Europa, der Bauernſtand gegen die Herrſchaft, und es entſtehen die Bauernkriege. Dieſe Bauernkriege ſind nichts anderes als der Waffen- kampf der Dorfſchaften gegen die Herrſchaften, des letzten Reſtes der Geſchlechterordnung gegen die ſtändiſche Ordnung, die ſich mit den herr- ſchenden Geſchlechtern verbunden hat. Aber dieſer Waffenkampf iſt hoffnungslos, denn er erſcheint nirgends gleichzeitig und auch nicht gleichartig. Die Erhebung hängt eben davon ab, ob die einzelnen Gutsherren gegen die Bauernſchaften mehr oder weniger hart geweſen; bei den Bauernſchaften geht das Bewußtſein der gemeinſamen Sache
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[454/0478]
in dem Dorfe zu handhaben, die Polizei zu verwalten, ja ſelbſt die
bäuerlichen Laſten aufzuerlegen. Der Regel nach bleibt die Form der
bäuerlichen Selbſtverwaltung, indem die Dorfſchaft den Schultheiß
wählt, und ſelbſt Vertreter an ſeine Seite ſetzt; allein dieſes Organ hat
kein Recht zu einem ſelbſtändigen Willen, ſondern wird zu einer bloß
ausführenden Gewalt für den Gutsherrn, deſſen Vertreter der Amtmann
iſt. Aber noch iſt der Unterſchied zwiſchen der Herrſchaft und der Dorf-
ſchaft ein großer. Die Hinterſaſſen der Herrſchaft ſitzen auf dem guts-
herrlichen Grunde, und haben daher gar keinen eigenen Beſitz; weil ſie
keinen Beſitz haben, ſind ſie auch grundſätzlich unfähig, an einer öffent-
lichen Verwaltung Theil zu nehmen, und mit ihrem Beſitz ganz in der
Hand ihres Herrn; ſie ſind unfrei. Die Dorfſchaft iſt dagegen mit
ihrem Beſitze urſprünglich frei, und ihre Unterwerfung unter den Grund-
herrn daher ein freiwilliges, die Rechte des letztern oft ſehr eng beſchränkt,
das Recht der Bauernſchaft ein großes. Die Herrſchaft, indem ſie auf
dieſe Weiſe die Dorfſchaft und ihre eigene Grundherrlichkeit zuſammen
umfaßt, beſteht daher aus zwei weſentlich verſchiedenen Elementen, die
aber dennoch in dem Gutsherrn zuſammengefaßt ſind; es ſind gleichſam
zwei Verwaltungsſyſteme in Einer Perſon vereinigt. In dieſer Ver-
bindung des Entgegengeſetzten konnte ein innerer Kampf nicht ausbleiben.
Das Intereſſe der Grundherren drängte ſie, die urſprünglich freie Bauern-
ſchaft den Grundholden gleich zu ſtellen, und ihre Selbſtverwaltung in
die Willkür ihrer Amtmänner und Vögte aufzuheben. Die Bauernſchaft,
indolent und unfähig zum Widerſtand, gibt langſam nach; ein Recht
nach dem andern, eine Entſcheidung nach der andern fällt dem Guts-
herrn zu; dieſer beginnt dann auch in das Abgabenweſen einzugreifen;
er legt Steuern und Laſten aller Art auf, und die Unfreien gelten
alsbald als Beiſpiel für die Freien. Noch aber lebt in den Bauern-
ſchaften die Erinnerung an ihre alte Freiheit, an das Recht der Selbſt-
verwaltung; ſie machen es geltend, ſie klagen, ſie wehren ſich; aber in
ihrer Vereinzelung unterliegen ſie. Dennoch bleibt der unterdrückte Zorn
lebendig; als endlich die Willkür zu groß wird, erhebt ſich, faſt in ganz
Europa, der Bauernſtand gegen die Herrſchaft, und es entſtehen die
Bauernkriege. Dieſe Bauernkriege ſind nichts anderes als der Waffen-
kampf der Dorfſchaften gegen die Herrſchaften, des letzten Reſtes der
Geſchlechterordnung gegen die ſtändiſche Ordnung, die ſich mit den herr-
ſchenden Geſchlechtern verbunden hat. Aber dieſer Waffenkampf iſt
hoffnungslos, denn er erſcheint nirgends gleichzeitig und auch nicht
gleichartig. Die Erhebung hängt eben davon ab, ob die einzelnen
Gutsherren gegen die Bauernſchaften mehr oder weniger hart geweſen;
bei den Bauernſchaften geht das Bewußtſein der gemeinſamen Sache
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/478>, abgerufen am 22.11.2024.
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