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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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Jahrhundert haben sich auch diese Erscheinungen centralisirt, und wenn
auch nicht die Gewalt, so hat doch die Klarheit der Bewegungen dadurch
unendlich gewonnen. Um so nothwendiger ist es, dieselbe in ihrer
geschichtlichen Wiege, den Körpern der örtlichen Selbstverwaltung, genauer
zu beachten. Auch unser eigenes Vaterland wird uns dadurch in ent-
scheidenden Punkten erst recht verständlich.

Jene große Bewegung, die wir den Uebergang von der ständischen
zur staatsbürgerlichen Gesellschaft nennen, ist nun natürlich theils ihrem
Umfange, theils ihrem nationalen Inhalt nach eine unendlich vielgestal-
tige. Vor allem aber hat jede einzelne Gemeinde gerade in dieser Be-
ziehung wieder ihre eigene an Ereignissen und Kämpfen reiche Geschichte.
Die staatsbürgerliche Gesellschaft der europäischen Völker macht in den
Marken der Gemeinden einen höchst wichtigen Theil ihrer Erfahrungen,
Leiden und Gegensätze durch, und gelangt eben dadurch in einer schon
geläuterten Gestalt in das gegenwärtige Jahrhundert. Das hohe Inter-
esse, welches die Geschichte der bedeutenden einzelnen Gemeinden seit dem
dreizehnten Jahrhundert bietet, beruht eben darauf, daß man in ihnen
die großen europäischen Faktoren im Kampfe sieht, und daß ein Stück
des eigenen Lebens in ihnen vollzogen wird. Diese Geschichte ist daher
eine geradezu unerschöpfliche. Dennoch kann keine eingehende Darstellung
der Selbstverwaltung ihrer entbehren, und zwar um so weniger, als der
gegenwärtige Zustand des Gemeindewesens in Europa, selbst in seinen
allgemeinsten Grundzügen, auf dem Gange dieser Entwicklung beruht.

Es muß daher der Versuch gemacht werden, diejenigen entscheiden-
den Momente aufzustellen, welche all jenem Reichthum von einzelnen
Erscheinungen und Rechtsbildungen zum Grunde liegen und den natio-
nalen Charakter des Gemeindewesens in den drei Kulturvölkern bestimmt
haben. Auf diese Grundformen werden sich dann die Verhältnisse der
übrigen Länder und Völker ohne große Schwierigkeit zurückführen lassen.

2) Zur Zeit der Völkerwanderung stehen sich in dem historisch bekann-
ten Europa zwei große Gestaltungen der örtlichen Verwaltung gegenüber.
Die eine ist die der römischen Welt, die wir als das Municipal-
system
bezeichnen können. Das Municipalsystem beruht darauf, daß
die örtliche Verwaltung durch einen Amtsorganismus vollzogen wird,
dessen Träger aber keine eigentlichen Staatsbeamteten sind, sondern
entweder gewählte oder vom Staate zeitlich ernannte Personen, welche
die örtliche Verwaltung führen, jedoch ohne alle Verantwortlichkeit
gegenüber dem Verwaltungskörper, und ohne ein selbständiges Recht
der Verwaltung. Der Verwaltungskörper selbst, das Municipium, ist
ein Verwaltungsbezirk; die Verwaltung selbst liegt ganz in den Händen
der obern Beamteten. Von einer verfassungsmäßigen Verantwortlichkeit

Jahrhundert haben ſich auch dieſe Erſcheinungen centraliſirt, und wenn
auch nicht die Gewalt, ſo hat doch die Klarheit der Bewegungen dadurch
unendlich gewonnen. Um ſo nothwendiger iſt es, dieſelbe in ihrer
geſchichtlichen Wiege, den Körpern der örtlichen Selbſtverwaltung, genauer
zu beachten. Auch unſer eigenes Vaterland wird uns dadurch in ent-
ſcheidenden Punkten erſt recht verſtändlich.

Jene große Bewegung, die wir den Uebergang von der ſtändiſchen
zur ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft nennen, iſt nun natürlich theils ihrem
Umfange, theils ihrem nationalen Inhalt nach eine unendlich vielgeſtal-
tige. Vor allem aber hat jede einzelne Gemeinde gerade in dieſer Be-
ziehung wieder ihre eigene an Ereigniſſen und Kämpfen reiche Geſchichte.
Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft der europäiſchen Völker macht in den
Marken der Gemeinden einen höchſt wichtigen Theil ihrer Erfahrungen,
Leiden und Gegenſätze durch, und gelangt eben dadurch in einer ſchon
geläuterten Geſtalt in das gegenwärtige Jahrhundert. Das hohe Inter-
eſſe, welches die Geſchichte der bedeutenden einzelnen Gemeinden ſeit dem
dreizehnten Jahrhundert bietet, beruht eben darauf, daß man in ihnen
die großen europäiſchen Faktoren im Kampfe ſieht, und daß ein Stück
des eigenen Lebens in ihnen vollzogen wird. Dieſe Geſchichte iſt daher
eine geradezu unerſchöpfliche. Dennoch kann keine eingehende Darſtellung
der Selbſtverwaltung ihrer entbehren, und zwar um ſo weniger, als der
gegenwärtige Zuſtand des Gemeindeweſens in Europa, ſelbſt in ſeinen
allgemeinſten Grundzügen, auf dem Gange dieſer Entwicklung beruht.

Es muß daher der Verſuch gemacht werden, diejenigen entſcheiden-
den Momente aufzuſtellen, welche all jenem Reichthum von einzelnen
Erſcheinungen und Rechtsbildungen zum Grunde liegen und den natio-
nalen Charakter des Gemeindeweſens in den drei Kulturvölkern beſtimmt
haben. Auf dieſe Grundformen werden ſich dann die Verhältniſſe der
übrigen Länder und Völker ohne große Schwierigkeit zurückführen laſſen.

2) Zur Zeit der Völkerwanderung ſtehen ſich in dem hiſtoriſch bekann-
ten Europa zwei große Geſtaltungen der örtlichen Verwaltung gegenüber.
Die eine iſt die der römiſchen Welt, die wir als das Municipal-
ſyſtem
bezeichnen können. Das Municipalſyſtem beruht darauf, daß
die örtliche Verwaltung durch einen Amtsorganismus vollzogen wird,
deſſen Träger aber keine eigentlichen Staatsbeamteten ſind, ſondern
entweder gewählte oder vom Staate zeitlich ernannte Perſonen, welche
die örtliche Verwaltung führen, jedoch ohne alle Verantwortlichkeit
gegenüber dem Verwaltungskörper, und ohne ein ſelbſtändiges Recht
der Verwaltung. Der Verwaltungskörper ſelbſt, das Municipium, iſt
ein Verwaltungsbezirk; die Verwaltung ſelbſt liegt ganz in den Händen
der obern Beamteten. Von einer verfaſſungsmäßigen Verantwortlichkeit

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[446/0470] Jahrhundert haben ſich auch dieſe Erſcheinungen centraliſirt, und wenn auch nicht die Gewalt, ſo hat doch die Klarheit der Bewegungen dadurch unendlich gewonnen. Um ſo nothwendiger iſt es, dieſelbe in ihrer geſchichtlichen Wiege, den Körpern der örtlichen Selbſtverwaltung, genauer zu beachten. Auch unſer eigenes Vaterland wird uns dadurch in ent- ſcheidenden Punkten erſt recht verſtändlich. Jene große Bewegung, die wir den Uebergang von der ſtändiſchen zur ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft nennen, iſt nun natürlich theils ihrem Umfange, theils ihrem nationalen Inhalt nach eine unendlich vielgeſtal- tige. Vor allem aber hat jede einzelne Gemeinde gerade in dieſer Be- ziehung wieder ihre eigene an Ereigniſſen und Kämpfen reiche Geſchichte. Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft der europäiſchen Völker macht in den Marken der Gemeinden einen höchſt wichtigen Theil ihrer Erfahrungen, Leiden und Gegenſätze durch, und gelangt eben dadurch in einer ſchon geläuterten Geſtalt in das gegenwärtige Jahrhundert. Das hohe Inter- eſſe, welches die Geſchichte der bedeutenden einzelnen Gemeinden ſeit dem dreizehnten Jahrhundert bietet, beruht eben darauf, daß man in ihnen die großen europäiſchen Faktoren im Kampfe ſieht, und daß ein Stück des eigenen Lebens in ihnen vollzogen wird. Dieſe Geſchichte iſt daher eine geradezu unerſchöpfliche. Dennoch kann keine eingehende Darſtellung der Selbſtverwaltung ihrer entbehren, und zwar um ſo weniger, als der gegenwärtige Zuſtand des Gemeindeweſens in Europa, ſelbſt in ſeinen allgemeinſten Grundzügen, auf dem Gange dieſer Entwicklung beruht. Es muß daher der Verſuch gemacht werden, diejenigen entſcheiden- den Momente aufzuſtellen, welche all jenem Reichthum von einzelnen Erſcheinungen und Rechtsbildungen zum Grunde liegen und den natio- nalen Charakter des Gemeindeweſens in den drei Kulturvölkern beſtimmt haben. Auf dieſe Grundformen werden ſich dann die Verhältniſſe der übrigen Länder und Völker ohne große Schwierigkeit zurückführen laſſen. 2) Zur Zeit der Völkerwanderung ſtehen ſich in dem hiſtoriſch bekann- ten Europa zwei große Geſtaltungen der örtlichen Verwaltung gegenüber. Die eine iſt die der römiſchen Welt, die wir als das Municipal- ſyſtem bezeichnen können. Das Municipalſyſtem beruht darauf, daß die örtliche Verwaltung durch einen Amtsorganismus vollzogen wird, deſſen Träger aber keine eigentlichen Staatsbeamteten ſind, ſondern entweder gewählte oder vom Staate zeitlich ernannte Perſonen, welche die örtliche Verwaltung führen, jedoch ohne alle Verantwortlichkeit gegenüber dem Verwaltungskörper, und ohne ein ſelbſtändiges Recht der Verwaltung. Der Verwaltungskörper ſelbſt, das Municipium, iſt ein Verwaltungsbezirk; die Verwaltung ſelbſt liegt ganz in den Händen der obern Beamteten. Von einer verfaſſungsmäßigen Verantwortlichkeit

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/470>, abgerufen am 22.11.2024.