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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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und gleichartigen Grundsätzen. Und hier nun zeigt sich, indem man
die drei Grundformen der Selbstverwaltungskörper neben einander
stellt, eine im höchsten Grade merkwürdige und Deutschland ganz eigen-
thümliche Erscheinung, die unter allen Dingen vielleicht ihm am meisten
seine Individualität erhalten hat, und es für Fremde so schwer ver-
ständlich macht, während dieselbe dennoch nur die einfache Folge der
gesellschaftlichen Ordnungen ist, die in ihrem Verhalten zu einander
noch zu keinem Abschlusse gediehen sind. Die Landschaften bekamen
ihre Selbstverwaltung auf Grundlage der ständischen Gliederung der
Gesellschaft, und hießen daher Stände; die städtischen Gemeinden
bekamen die Ordnung ihrer Selbstverwaltung auf Grundlage der staats-
bürgerlichen Gleichheit als Heimath des freien Besitzes, und so entstan-
den die Gemeindeverfassungen, die in der That nur Städtever-
fassungen waren; die ländlichen Gemeinden, die zum großen Theil noch
Herrschaften, und sogar ohne einen freien Bauernstand waren, konn-
ten
gar keine solche Gemeindeverfassungen bekommen, und wurden
daher nach wie vor durch ein in den verschiedenen Ländern höchst ver-
schieden gestaltetes Zusammenwirken von Gutsherrlichkeit und Amt ver-
waltet; die Corporationen aber nahm der Staat meist in sich auf,
und machte sie aus selbständigen Körperschaften zu Staatsanstalten,
indem er entweder ihr Vermögen einzog oder sie unter die ausgedehn-
teste Oberaufsicht stellte. So war jetzt die Selbstverwaltung in ver-
änderter, höchst verwickelter Weise gestaltet. Es war der unfertigste
Zustand den man sich denken konnte. Denn nicht nur, daß diese Selbst-
verwaltung in jedem Lande ganz anders war, es war zugleich klar,
daß die sogenannten "Stände" eigentlich gar keine Selbstverwaltungs-
körper mehr waren, sondern vielmehr die Funktionen der Volksver-
tretung, die Theilnahme an der Gesetzgebung, vollziehen mußten, wäh-
rend der Glanz, der die städtischen Gemeindeordnungen umgab, den
Widerspruch des Mangels einer Landgemeindeordnung nur um so greller
hervortreten ließ. Es war auf allen Punkten ein Stadium des Ueber-
ganges. Aber in diesem Stadium stand dennoch der Grundsatz fest,
daß Landschaft, Gemeinde und Corporation ein -- wie immer zu for-
mulirendes, aber ihnen unentziehbares -- Recht auf Theilnahme an
der Verwaltung hätten, also die Körper der Selbstverwaltung
sein müßten.

Auf der andern Seite bildete sich nun zugleich die Staatsidee
weiter aus. Die französischen, organisirenden Principien der Ver-
waltung gelangten leicht zu Anerkennung, die amtliche Verwaltung
entwickelte ihr Ministerial- und ihr Behördesystem. Beide Systeme standen
in beständiger Berührung mit jenen Organen der Selbstverwaltung.

und gleichartigen Grundſätzen. Und hier nun zeigt ſich, indem man
die drei Grundformen der Selbſtverwaltungskörper neben einander
ſtellt, eine im höchſten Grade merkwürdige und Deutſchland ganz eigen-
thümliche Erſcheinung, die unter allen Dingen vielleicht ihm am meiſten
ſeine Individualität erhalten hat, und es für Fremde ſo ſchwer ver-
ſtändlich macht, während dieſelbe dennoch nur die einfache Folge der
geſellſchaftlichen Ordnungen iſt, die in ihrem Verhalten zu einander
noch zu keinem Abſchluſſe gediehen ſind. Die Landſchaften bekamen
ihre Selbſtverwaltung auf Grundlage der ſtändiſchen Gliederung der
Geſellſchaft, und hießen daher Stände; die ſtädtiſchen Gemeinden
bekamen die Ordnung ihrer Selbſtverwaltung auf Grundlage der ſtaats-
bürgerlichen Gleichheit als Heimath des freien Beſitzes, und ſo entſtan-
den die Gemeindeverfaſſungen, die in der That nur Städtever-
faſſungen waren; die ländlichen Gemeinden, die zum großen Theil noch
Herrſchaften, und ſogar ohne einen freien Bauernſtand waren, konn-
ten
gar keine ſolche Gemeindeverfaſſungen bekommen, und wurden
daher nach wie vor durch ein in den verſchiedenen Ländern höchſt ver-
ſchieden geſtaltetes Zuſammenwirken von Gutsherrlichkeit und Amt ver-
waltet; die Corporationen aber nahm der Staat meiſt in ſich auf,
und machte ſie aus ſelbſtändigen Körperſchaften zu Staatsanſtalten,
indem er entweder ihr Vermögen einzog oder ſie unter die ausgedehn-
teſte Oberaufſicht ſtellte. So war jetzt die Selbſtverwaltung in ver-
änderter, höchſt verwickelter Weiſe geſtaltet. Es war der unfertigſte
Zuſtand den man ſich denken konnte. Denn nicht nur, daß dieſe Selbſt-
verwaltung in jedem Lande ganz anders war, es war zugleich klar,
daß die ſogenannten „Stände“ eigentlich gar keine Selbſtverwaltungs-
körper mehr waren, ſondern vielmehr die Funktionen der Volksver-
tretung, die Theilnahme an der Geſetzgebung, vollziehen mußten, wäh-
rend der Glanz, der die ſtädtiſchen Gemeindeordnungen umgab, den
Widerſpruch des Mangels einer Landgemeindeordnung nur um ſo greller
hervortreten ließ. Es war auf allen Punkten ein Stadium des Ueber-
ganges. Aber in dieſem Stadium ſtand dennoch der Grundſatz feſt,
daß Landſchaft, Gemeinde und Corporation ein — wie immer zu for-
mulirendes, aber ihnen unentziehbares — Recht auf Theilnahme an
der Verwaltung hätten, alſo die Körper der Selbſtverwaltung
ſein müßten.

Auf der andern Seite bildete ſich nun zugleich die Staatsidee
weiter aus. Die franzöſiſchen, organiſirenden Principien der Ver-
waltung gelangten leicht zu Anerkennung, die amtliche Verwaltung
entwickelte ihr Miniſterial- und ihr Behördeſyſtem. Beide Syſteme ſtanden
in beſtändiger Berührung mit jenen Organen der Selbſtverwaltung.

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[402/0426] und gleichartigen Grundſätzen. Und hier nun zeigt ſich, indem man die drei Grundformen der Selbſtverwaltungskörper neben einander ſtellt, eine im höchſten Grade merkwürdige und Deutſchland ganz eigen- thümliche Erſcheinung, die unter allen Dingen vielleicht ihm am meiſten ſeine Individualität erhalten hat, und es für Fremde ſo ſchwer ver- ſtändlich macht, während dieſelbe dennoch nur die einfache Folge der geſellſchaftlichen Ordnungen iſt, die in ihrem Verhalten zu einander noch zu keinem Abſchluſſe gediehen ſind. Die Landſchaften bekamen ihre Selbſtverwaltung auf Grundlage der ſtändiſchen Gliederung der Geſellſchaft, und hießen daher Stände; die ſtädtiſchen Gemeinden bekamen die Ordnung ihrer Selbſtverwaltung auf Grundlage der ſtaats- bürgerlichen Gleichheit als Heimath des freien Beſitzes, und ſo entſtan- den die Gemeindeverfaſſungen, die in der That nur Städtever- faſſungen waren; die ländlichen Gemeinden, die zum großen Theil noch Herrſchaften, und ſogar ohne einen freien Bauernſtand waren, konn- ten gar keine ſolche Gemeindeverfaſſungen bekommen, und wurden daher nach wie vor durch ein in den verſchiedenen Ländern höchſt ver- ſchieden geſtaltetes Zuſammenwirken von Gutsherrlichkeit und Amt ver- waltet; die Corporationen aber nahm der Staat meiſt in ſich auf, und machte ſie aus ſelbſtändigen Körperſchaften zu Staatsanſtalten, indem er entweder ihr Vermögen einzog oder ſie unter die ausgedehn- teſte Oberaufſicht ſtellte. So war jetzt die Selbſtverwaltung in ver- änderter, höchſt verwickelter Weiſe geſtaltet. Es war der unfertigſte Zuſtand den man ſich denken konnte. Denn nicht nur, daß dieſe Selbſt- verwaltung in jedem Lande ganz anders war, es war zugleich klar, daß die ſogenannten „Stände“ eigentlich gar keine Selbſtverwaltungs- körper mehr waren, ſondern vielmehr die Funktionen der Volksver- tretung, die Theilnahme an der Geſetzgebung, vollziehen mußten, wäh- rend der Glanz, der die ſtädtiſchen Gemeindeordnungen umgab, den Widerſpruch des Mangels einer Landgemeindeordnung nur um ſo greller hervortreten ließ. Es war auf allen Punkten ein Stadium des Ueber- ganges. Aber in dieſem Stadium ſtand dennoch der Grundſatz feſt, daß Landſchaft, Gemeinde und Corporation ein — wie immer zu for- mulirendes, aber ihnen unentziehbares — Recht auf Theilnahme an der Verwaltung hätten, alſo die Körper der Selbſtverwaltung ſein müßten. Auf der andern Seite bildete ſich nun zugleich die Staatsidee weiter aus. Die franzöſiſchen, organiſirenden Principien der Ver- waltung gelangten leicht zu Anerkennung, die amtliche Verwaltung entwickelte ihr Miniſterial- und ihr Behördeſyſtem. Beide Syſteme ſtanden in beſtändiger Berührung mit jenen Organen der Selbſtverwaltung.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/426>, abgerufen am 22.11.2024.