Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite

Dieß nun sind die Grundlagen für den ersten großen Organismus
der verwaltenden That, das Amtswesen und den Staatsdienst. Ein
zweites nicht minder wichtiges Gebiet eröffnet sich uns in der Selbst-
verwaltung.

Das neuere deutsche Staatsrecht ist in Beziehung auf die obigen Fragen
zu dem Satze gekommen, den wir nach Zöpfl (§. 521) aufnehmen: "Allgemein
ist in deutschen Verfassungsurkunden als Grundsatz anerkannt, daß kein Staats-
diener seines Amtes willkürlich entsetzt werden kann." Die Erklärung des
Ausdrucks "willkürlich" ist "nicht ohne Urtheil und Recht." Sehr genau und
auf historischer Grundlage Zachariä, Deutsches Staatsrecht II. §. 143 ff.
Man vergleiche dazu Malchus, Innere Politik I. S. 19. Das Haftungsrecht
siehe Zöpfl §. 520; Zachariä §. 137 ff. Ueber Preußen speziell Rönne II.
§. 303 ff. Das französische Haftungsrecht bezeichnet Laferriere (Droit
administratif I. Ch. II.): "Dans les fonctions publiques la responsabilite
du superieur n'absorbe pas celle de l'inferieur; chacun repond de ses faits;
chaque fonctionnaire est responsable en ce qui concerne des actes de
l'administration -- ils ne pourront se couvrir des ordres inconstitutionnels ou
des instructions illegales de leur superieurs
."
Das wäre sehr schön; nur
urtheilt darüber in Frankreich nicht das Gericht, sondern der Conseil d'Etat,
der selbst ein amtliches Organ ist (s. oben unter Klagrecht und Conseil d'Etat).
In der That kann man nicht verkennen, daß gerade auf diesem Gebiete die
Theorie höchst entscheidend und günstig gewirkt hat. Das öffentliche Recht hat
durch sie vielleicht auf keinem Punkte so sehr den Charakter des Territorialen
verloren und den des gemeingültigen Rechts dafür gewonnen; ein Ergebniß,
das wir nur mit Freuden begrüßen können.

Drittes Gebiet.
Die Selbstverwaltung und ihr Organismus.
I. Der allgemeine Begriff der Selbstverwaltung.

Neben dem ersten großen Organismus der Verwaltung, dem amt-
lichen, steht nun, denselben fast allenthalben berührend, bestimmend und
zum Theil ersetzend und verdrängend, der zweite Organismus der
Selbstverwaltung.

Die Neuheit des Ausdrucks in eigenthümlicher Verbindung mit
dem Alter der Sache hat es bisher nicht zu einem rechten Verständniß
des ersteren kommen lassen. Die meisten Menschen dürften sich unter
der Selbstverwaltung nicht einen Organismus, sondern vielmehr ein
unklar vorgestelltes Princip denken, und zwar dasjenige, was wir als
das Princip der freien Verwaltung bezeichnet haben, nach welchem dem
Staatsbürgerthum ein Antheil an der Thätigkeit der vollziehenden

Dieß nun ſind die Grundlagen für den erſten großen Organismus
der verwaltenden That, das Amtsweſen und den Staatsdienſt. Ein
zweites nicht minder wichtiges Gebiet eröffnet ſich uns in der Selbſt-
verwaltung.

Das neuere deutſche Staatsrecht iſt in Beziehung auf die obigen Fragen
zu dem Satze gekommen, den wir nach Zöpfl (§. 521) aufnehmen: „Allgemein
iſt in deutſchen Verfaſſungsurkunden als Grundſatz anerkannt, daß kein Staats-
diener ſeines Amtes willkürlich entſetzt werden kann.“ Die Erklärung des
Ausdrucks „willkürlich“ iſt „nicht ohne Urtheil und Recht.“ Sehr genau und
auf hiſtoriſcher Grundlage Zachariä, Deutſches Staatsrecht II. §. 143 ff.
Man vergleiche dazu Malchus, Innere Politik I. S. 19. Das Haftungsrecht
ſiehe Zöpfl §. 520; Zachariä §. 137 ff. Ueber Preußen ſpeziell Rönne II.
§. 303 ff. Das franzöſiſche Haftungsrecht bezeichnet Laferrière (Droit
administratif I. Ch. II.): „Dans les fonctions publiques la responsabilité
du supérieur n’absorbe pas celle de l’inférieur; chacun répond de ses faits;
chaque fonctionnaire est responsable en ce qui concerne des actes de
l’administration — ils ne pourront se couvrir des ordres inconstitutionnels ou
des instructions illégales de leur supérieurs
.“
Das wäre ſehr ſchön; nur
urtheilt darüber in Frankreich nicht das Gericht, ſondern der Conseil d’État,
der ſelbſt ein amtliches Organ iſt (ſ. oben unter Klagrecht und Conseil d’État).
In der That kann man nicht verkennen, daß gerade auf dieſem Gebiete die
Theorie höchſt entſcheidend und günſtig gewirkt hat. Das öffentliche Recht hat
durch ſie vielleicht auf keinem Punkte ſo ſehr den Charakter des Territorialen
verloren und den des gemeingültigen Rechts dafür gewonnen; ein Ergebniß,
das wir nur mit Freuden begrüßen können.

Drittes Gebiet.
Die Selbſtverwaltung und ihr Organismus.
I. Der allgemeine Begriff der Selbſtverwaltung.

Neben dem erſten großen Organismus der Verwaltung, dem amt-
lichen, ſteht nun, denſelben faſt allenthalben berührend, beſtimmend und
zum Theil erſetzend und verdrängend, der zweite Organismus der
Selbſtverwaltung.

Die Neuheit des Ausdrucks in eigenthümlicher Verbindung mit
dem Alter der Sache hat es bisher nicht zu einem rechten Verſtändniß
des erſteren kommen laſſen. Die meiſten Menſchen dürften ſich unter
der Selbſtverwaltung nicht einen Organismus, ſondern vielmehr ein
unklar vorgeſtelltes Princip denken, und zwar dasjenige, was wir als
das Princip der freien Verwaltung bezeichnet haben, nach welchem dem
Staatsbürgerthum ein Antheil an der Thätigkeit der vollziehenden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <pb facs="#f0387" n="363"/>
                <p>Dieß nun &#x017F;ind die Grundlagen für den er&#x017F;ten großen Organismus<lb/>
der verwaltenden That, das Amtswe&#x017F;en und den Staatsdien&#x017F;t. Ein<lb/>
zweites nicht minder wichtiges Gebiet eröffnet &#x017F;ich uns in der Selb&#x017F;t-<lb/>
verwaltung.</p><lb/>
                <p>Das neuere deut&#x017F;che Staatsrecht i&#x017F;t in Beziehung auf die obigen Fragen<lb/>
zu dem Satze gekommen, den wir nach <hi rendition="#g">Zöpfl</hi> (§. 521) aufnehmen: &#x201E;Allgemein<lb/>
i&#x017F;t in deut&#x017F;chen Verfa&#x017F;&#x017F;ungsurkunden als Grund&#x017F;atz anerkannt, daß <hi rendition="#g">kein</hi> Staats-<lb/>
diener &#x017F;eines Amtes willkürlich ent&#x017F;etzt werden kann.&#x201C; Die Erklärung des<lb/>
Ausdrucks &#x201E;willkürlich&#x201C; i&#x017F;t &#x201E;nicht ohne Urtheil und Recht.&#x201C; Sehr genau und<lb/>
auf hi&#x017F;tori&#x017F;cher Grundlage <hi rendition="#g">Zachariä</hi>, Deut&#x017F;ches Staatsrecht <hi rendition="#aq">II.</hi> §. 143 ff.<lb/>
Man vergleiche dazu <hi rendition="#g">Malchus</hi>, Innere Politik <hi rendition="#aq">I.</hi> S. 19. Das Haftungsrecht<lb/>
&#x017F;iehe <hi rendition="#g">Zöpfl</hi> §. 520; <hi rendition="#g">Zachariä</hi> §. 137 ff. Ueber Preußen &#x017F;peziell <hi rendition="#g">Rönne</hi> <hi rendition="#aq">II.</hi><lb/>
§. 303 ff. Das franzö&#x017F;i&#x017F;che Haftungsrecht bezeichnet <hi rendition="#g">Laferri<hi rendition="#aq">è</hi>re</hi> <hi rendition="#aq">(Droit<lb/>
administratif I. Ch. II.): &#x201E;Dans les fonctions publiques la responsabilité<lb/><hi rendition="#g">du</hi> supérieur n&#x2019;absorbe pas celle de l&#x2019;inférieur; <hi rendition="#i">chacun répond de ses faits;</hi><lb/>
chaque fonctionnaire est responsable en ce qui concerne des actes de<lb/>
l&#x2019;administration &#x2014; ils <hi rendition="#i">ne pourront se couvrir des ordres inconstitutionnels ou<lb/>
des instructions illégales de leur supérieurs</hi>.&#x201C;</hi> Das wäre &#x017F;ehr &#x017F;chön; nur<lb/><hi rendition="#g">urtheilt</hi> darüber in Frankreich nicht das Gericht, &#x017F;ondern der <hi rendition="#aq">Conseil d&#x2019;État,</hi><lb/>
der &#x017F;elb&#x017F;t ein amtliches Organ i&#x017F;t (&#x017F;. oben unter Klagrecht und <hi rendition="#aq">Conseil d&#x2019;État</hi>).<lb/>
In der That kann man nicht verkennen, daß gerade auf die&#x017F;em Gebiete die<lb/>
Theorie höch&#x017F;t ent&#x017F;cheidend und gün&#x017F;tig gewirkt hat. Das öffentliche Recht hat<lb/>
durch &#x017F;ie vielleicht auf keinem Punkte &#x017F;o &#x017F;ehr den Charakter des Territorialen<lb/>
verloren und den des gemeingültigen Rechts dafür gewonnen; ein Ergebniß,<lb/>
das wir nur mit Freuden begrüßen können.</p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#b">Drittes Gebiet.</hi><lb/><hi rendition="#g">Die Selb&#x017F;tverwaltung und ihr Organismus</hi>.</head><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Der allgemeine Begriff der Selb&#x017F;tverwaltung.</hi> </head><lb/>
            <p>Neben dem er&#x017F;ten großen Organismus der Verwaltung, dem amt-<lb/>
lichen, &#x017F;teht nun, den&#x017F;elben fa&#x017F;t allenthalben berührend, be&#x017F;timmend und<lb/>
zum Theil er&#x017F;etzend und verdrängend, der zweite Organismus der<lb/><hi rendition="#g">Selb&#x017F;tverwaltung</hi>.</p><lb/>
            <p>Die Neuheit des Ausdrucks in eigenthümlicher Verbindung mit<lb/>
dem Alter der Sache hat es bisher nicht zu einem rechten Ver&#x017F;tändniß<lb/>
des er&#x017F;teren kommen la&#x017F;&#x017F;en. Die mei&#x017F;ten Men&#x017F;chen dürften &#x017F;ich unter<lb/>
der Selb&#x017F;tverwaltung nicht einen Organismus, &#x017F;ondern vielmehr ein<lb/>
unklar vorge&#x017F;telltes Princip denken, und zwar dasjenige, was wir als<lb/>
das Princip der freien Verwaltung bezeichnet haben, nach welchem dem<lb/>
Staatsbürgerthum ein Antheil an der Thätigkeit der vollziehenden<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[363/0387] Dieß nun ſind die Grundlagen für den erſten großen Organismus der verwaltenden That, das Amtsweſen und den Staatsdienſt. Ein zweites nicht minder wichtiges Gebiet eröffnet ſich uns in der Selbſt- verwaltung. Das neuere deutſche Staatsrecht iſt in Beziehung auf die obigen Fragen zu dem Satze gekommen, den wir nach Zöpfl (§. 521) aufnehmen: „Allgemein iſt in deutſchen Verfaſſungsurkunden als Grundſatz anerkannt, daß kein Staats- diener ſeines Amtes willkürlich entſetzt werden kann.“ Die Erklärung des Ausdrucks „willkürlich“ iſt „nicht ohne Urtheil und Recht.“ Sehr genau und auf hiſtoriſcher Grundlage Zachariä, Deutſches Staatsrecht II. §. 143 ff. Man vergleiche dazu Malchus, Innere Politik I. S. 19. Das Haftungsrecht ſiehe Zöpfl §. 520; Zachariä §. 137 ff. Ueber Preußen ſpeziell Rönne II. §. 303 ff. Das franzöſiſche Haftungsrecht bezeichnet Laferrière (Droit administratif I. Ch. II.): „Dans les fonctions publiques la responsabilité du supérieur n’absorbe pas celle de l’inférieur; chacun répond de ses faits; chaque fonctionnaire est responsable en ce qui concerne des actes de l’administration — ils ne pourront se couvrir des ordres inconstitutionnels ou des instructions illégales de leur supérieurs.“ Das wäre ſehr ſchön; nur urtheilt darüber in Frankreich nicht das Gericht, ſondern der Conseil d’État, der ſelbſt ein amtliches Organ iſt (ſ. oben unter Klagrecht und Conseil d’État). In der That kann man nicht verkennen, daß gerade auf dieſem Gebiete die Theorie höchſt entſcheidend und günſtig gewirkt hat. Das öffentliche Recht hat durch ſie vielleicht auf keinem Punkte ſo ſehr den Charakter des Territorialen verloren und den des gemeingültigen Rechts dafür gewonnen; ein Ergebniß, das wir nur mit Freuden begrüßen können. Drittes Gebiet. Die Selbſtverwaltung und ihr Organismus. I. Der allgemeine Begriff der Selbſtverwaltung. Neben dem erſten großen Organismus der Verwaltung, dem amt- lichen, ſteht nun, denſelben faſt allenthalben berührend, beſtimmend und zum Theil erſetzend und verdrängend, der zweite Organismus der Selbſtverwaltung. Die Neuheit des Ausdrucks in eigenthümlicher Verbindung mit dem Alter der Sache hat es bisher nicht zu einem rechten Verſtändniß des erſteren kommen laſſen. Die meiſten Menſchen dürften ſich unter der Selbſtverwaltung nicht einen Organismus, ſondern vielmehr ein unklar vorgeſtelltes Princip denken, und zwar dasjenige, was wir als das Princip der freien Verwaltung bezeichnet haben, nach welchem dem Staatsbürgerthum ein Antheil an der Thätigkeit der vollziehenden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/387
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/387>, abgerufen am 03.12.2024.