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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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als Totalität, nicht aber für den Beamteten das verfassungsmäßige
Recht gilt. Er ist nichts, als das einfach ausführende Organ der
höhern Stellen. Er hat daher keine Selbständigkeit und keine Selbst-
thätigkeit, und er kann keine haben; seine höchste Gewalt ist nicht mehr
das Gesetz, sondern der Ausspruch des Conseil d'Etat. Daher kennt
er auch keinen Beruf und keine individuelle ethische Aufgabe; er ist
ein nur gehorchendes Organ, und braucht nichts zu verstehen, als
eben den Gehorsam. Eine öffentlich rechtliche Selbständigkeit desselben
gegenüber der höheren Behörde ist daher hier undenkbar; er kann gar
kein staatliches Recht haben; er ist nur ein dienendes Glied des Ganzen.
Und das liegt so tief im Wesen der ganzen französischen Staatsbildung,
daß, wie wir gesehen, selbst die Revolution es nicht zu ändern ver-
mocht hat.

Auf diesem Punkt nun ist es, wo Deutschland entschieden über
England wie über Frankreich steht. Es hat, wir möchten sagen, von
jeher das lebendige Bewußtsein von dem wahren Wesen des Amts ge-
habt, und hat in gleicher Weise dieß Bewußtsein zum Recht ausge-
bildet. Nur in Deutschland fordert das Volk, daß der Beamtete mehr
vertrete, als den bloß dienenden Gehorsam, wie in Frankreich, und daß
er mehr verstehe, als ein Urtheil zu fällen, wie in England. Er soll
die wahren, höchsten Interessen des Lebens in sich tragen; er soll sie
verwirklichen, selbst gegenüber der höheren Behörde. Er ist in Deutsch-
land der örtlich erscheinende, örtlich thätige Staat; er ist nicht bloß
eine Macht, er ist eine sittliche, er wird dadurch eine sittigende Potenz.
Er ist im wahren, noch unverfälschten Volksbewußtsein der natürliche
Vertreter des gemeinsam Guten und Nothwendigen, er ist sittlich den
Untergebenen verantwortlich, daß das Wahre und das Beste geschehe.
Daher ist er auch der Träger der Bildung, und muß selbst gebildet
sein; es widerspricht dem deutschen Volksbewußtsein, daß der Beamtete
nichts anderes sei und nichts anderes verstehe und zu würdigen wisse,
als der Bürger. Seine Ehre besteht darin, daß er den Muth einer
Meinung auf die Gefahr seiner Stellung habe; sein Lohn zum großen
Theil in dem Bewußtsein, das eine solche Ehre gibt. Es ist darum
der Mühe werth, in Deutschland ein Beamter zu sein; es ist dadurch
erklärlich, daß das Beamtenthum einen Beruf hat und einen Stand
bildet; es ist nothwendig, daß es zu dem Ende ein selbständiges öffent-
liches Recht besitze. Das Amtswesen ist dadurch in Deutschland nicht
bloß ein fester Organismus, sondern auch ein selbständiges Gebiet des
öffentlichen Rechts. Es ist das schon früher gewesen; keine Umgestaltung
des Staatsorganismus hat das je ändern können und wollen; im
Gegentheil hat sich aus allen Umwälzungen nur der Gedanke heraus-

als Totalität, nicht aber für den Beamteten das verfaſſungsmäßige
Recht gilt. Er iſt nichts, als das einfach ausführende Organ der
höhern Stellen. Er hat daher keine Selbſtändigkeit und keine Selbſt-
thätigkeit, und er kann keine haben; ſeine höchſte Gewalt iſt nicht mehr
das Geſetz, ſondern der Ausſpruch des Conseil d’État. Daher kennt
er auch keinen Beruf und keine individuelle ethiſche Aufgabe; er iſt
ein nur gehorchendes Organ, und braucht nichts zu verſtehen, als
eben den Gehorſam. Eine öffentlich rechtliche Selbſtändigkeit deſſelben
gegenüber der höheren Behörde iſt daher hier undenkbar; er kann gar
kein ſtaatliches Recht haben; er iſt nur ein dienendes Glied des Ganzen.
Und das liegt ſo tief im Weſen der ganzen franzöſiſchen Staatsbildung,
daß, wie wir geſehen, ſelbſt die Revolution es nicht zu ändern ver-
mocht hat.

Auf dieſem Punkt nun iſt es, wo Deutſchland entſchieden über
England wie über Frankreich ſteht. Es hat, wir möchten ſagen, von
jeher das lebendige Bewußtſein von dem wahren Weſen des Amts ge-
habt, und hat in gleicher Weiſe dieß Bewußtſein zum Recht ausge-
bildet. Nur in Deutſchland fordert das Volk, daß der Beamtete mehr
vertrete, als den bloß dienenden Gehorſam, wie in Frankreich, und daß
er mehr verſtehe, als ein Urtheil zu fällen, wie in England. Er ſoll
die wahren, höchſten Intereſſen des Lebens in ſich tragen; er ſoll ſie
verwirklichen, ſelbſt gegenüber der höheren Behörde. Er iſt in Deutſch-
land der örtlich erſcheinende, örtlich thätige Staat; er iſt nicht bloß
eine Macht, er iſt eine ſittliche, er wird dadurch eine ſittigende Potenz.
Er iſt im wahren, noch unverfälſchten Volksbewußtſein der natürliche
Vertreter des gemeinſam Guten und Nothwendigen, er iſt ſittlich den
Untergebenen verantwortlich, daß das Wahre und das Beſte geſchehe.
Daher iſt er auch der Träger der Bildung, und muß ſelbſt gebildet
ſein; es widerſpricht dem deutſchen Volksbewußtſein, daß der Beamtete
nichts anderes ſei und nichts anderes verſtehe und zu würdigen wiſſe,
als der Bürger. Seine Ehre beſteht darin, daß er den Muth einer
Meinung auf die Gefahr ſeiner Stellung habe; ſein Lohn zum großen
Theil in dem Bewußtſein, das eine ſolche Ehre gibt. Es iſt darum
der Mühe werth, in Deutſchland ein Beamter zu ſein; es iſt dadurch
erklärlich, daß das Beamtenthum einen Beruf hat und einen Stand
bildet; es iſt nothwendig, daß es zu dem Ende ein ſelbſtändiges öffent-
liches Recht beſitze. Das Amtsweſen iſt dadurch in Deutſchland nicht
bloß ein feſter Organismus, ſondern auch ein ſelbſtändiges Gebiet des
öffentlichen Rechts. Es iſt das ſchon früher geweſen; keine Umgeſtaltung
des Staatsorganismus hat das je ändern können und wollen; im
Gegentheil hat ſich aus allen Umwälzungen nur der Gedanke heraus-

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[295/0319] als Totalität, nicht aber für den Beamteten das verfaſſungsmäßige Recht gilt. Er iſt nichts, als das einfach ausführende Organ der höhern Stellen. Er hat daher keine Selbſtändigkeit und keine Selbſt- thätigkeit, und er kann keine haben; ſeine höchſte Gewalt iſt nicht mehr das Geſetz, ſondern der Ausſpruch des Conseil d’État. Daher kennt er auch keinen Beruf und keine individuelle ethiſche Aufgabe; er iſt ein nur gehorchendes Organ, und braucht nichts zu verſtehen, als eben den Gehorſam. Eine öffentlich rechtliche Selbſtändigkeit deſſelben gegenüber der höheren Behörde iſt daher hier undenkbar; er kann gar kein ſtaatliches Recht haben; er iſt nur ein dienendes Glied des Ganzen. Und das liegt ſo tief im Weſen der ganzen franzöſiſchen Staatsbildung, daß, wie wir geſehen, ſelbſt die Revolution es nicht zu ändern ver- mocht hat. Auf dieſem Punkt nun iſt es, wo Deutſchland entſchieden über England wie über Frankreich ſteht. Es hat, wir möchten ſagen, von jeher das lebendige Bewußtſein von dem wahren Weſen des Amts ge- habt, und hat in gleicher Weiſe dieß Bewußtſein zum Recht ausge- bildet. Nur in Deutſchland fordert das Volk, daß der Beamtete mehr vertrete, als den bloß dienenden Gehorſam, wie in Frankreich, und daß er mehr verſtehe, als ein Urtheil zu fällen, wie in England. Er ſoll die wahren, höchſten Intereſſen des Lebens in ſich tragen; er ſoll ſie verwirklichen, ſelbſt gegenüber der höheren Behörde. Er iſt in Deutſch- land der örtlich erſcheinende, örtlich thätige Staat; er iſt nicht bloß eine Macht, er iſt eine ſittliche, er wird dadurch eine ſittigende Potenz. Er iſt im wahren, noch unverfälſchten Volksbewußtſein der natürliche Vertreter des gemeinſam Guten und Nothwendigen, er iſt ſittlich den Untergebenen verantwortlich, daß das Wahre und das Beſte geſchehe. Daher iſt er auch der Träger der Bildung, und muß ſelbſt gebildet ſein; es widerſpricht dem deutſchen Volksbewußtſein, daß der Beamtete nichts anderes ſei und nichts anderes verſtehe und zu würdigen wiſſe, als der Bürger. Seine Ehre beſteht darin, daß er den Muth einer Meinung auf die Gefahr ſeiner Stellung habe; ſein Lohn zum großen Theil in dem Bewußtſein, das eine ſolche Ehre gibt. Es iſt darum der Mühe werth, in Deutſchland ein Beamter zu ſein; es iſt dadurch erklärlich, daß das Beamtenthum einen Beruf hat und einen Stand bildet; es iſt nothwendig, daß es zu dem Ende ein ſelbſtändiges öffent- liches Recht beſitze. Das Amtsweſen iſt dadurch in Deutſchland nicht bloß ein feſter Organismus, ſondern auch ein ſelbſtändiges Gebiet des öffentlichen Rechts. Es iſt das ſchon früher geweſen; keine Umgeſtaltung des Staatsorganismus hat das je ändern können und wollen; im Gegentheil hat ſich aus allen Umwälzungen nur der Gedanke heraus-

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/319>, abgerufen am 24.11.2024.