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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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Es ist dabei unsere Pflicht, statt einer Kritik vielmehr den Zustand gänz-
licher Verworrenheit auf diesem Gebiete historisch zu erklären. Denn das deutsche
wissenschaftliche Staatsrecht steht auch hier hinter der Gegenwart, und unser
Trost muß sein, daß die übrigen Völker der Welt gar keines, oder das, was
sie haben, nur durch Deutsche besitzen.

In der That gibt es weder eine englische, noch eine französische Behand-
lung des Staatsrechts, in welchem der Organismus der vollziehenden Gewalt
auch nur annähernd als eine Einheit betrachtet wäre. Wir können daher die
Zustände, aber nicht die Wissenschaft im Ganzen vergleichen, so werthvoll auch
das Einzelne namentlich in der französischen Literatur gegenüber der deut-
schen ist.

Was dagegen die letztere betrifft, so zeigt sie allerdings auch kaum einen
Versuch, ein vollständiges System des Organismus aufzustellen, soweit es sich
um das sogenannte deutsche Staatsrecht handelt. Erst in den Landesrechten
tritt dasselbe, wenn auch nicht als System, so doch als richtig empfundene
Anordnung der Gebiete auf. Der Grund ist der historische Gang der Dinge.

Mit dem Anfang dieses Jahrhunderts löst sich die neue Anschauung des
Staatsrechts von der alten ab. Wir können als Repräsentanten der letzteren
unzweifelhaft Pütter betrachten, als die der ersteren Häberlin und Gönner.
Das alte Jus publicum Imp. R. v. Pütter hatte nur zur Aufgabe, die Trümmer
des Rechts des alten Kaiserthums gegenüber den deutschen Reichsständen juristisch
zu formuliren. Dabei konnte natürlich von der Idee eines Verwaltungs-
organismus gar keine Rede sein; der Ausdruck des Verhältnisses beider zu
einander war der bekannte Begriff der lehensherrlichen "Hoheitsrechte", welche
die Gränzen der Staatsgewalt juristisch bestimmen sollten. Mit Häberlin er-
scheint zum erstenmale die Vorstellung von einem verfassungsmäßigen Organismus
als Grundlage des Staatsrechts, und es ist sehr zu bedauern, daß man diesen,
in seiner Zeit so hochstehenden Mann später so wenig beachtet hat, während
man jede französische Broschüre sorgfältigst erwog und citirte. Gönner ist
dagegen in seinem deutschen Staatsrecht derjenige, der zum erstenmale (1805)
Verfassung und Verwaltung schied (Constitutionsrecht und Regierungsrecht), und
dadurch zu dem Widerspruch den Grund legte, an dem alle seine Nachfolger
kranken, auf Deutschland den Begriff eines Staates anwenden, und das öffent-
liche Recht Deutschlands nach der Kategorie des Staatsbegriffes auffassen und
darstellen zu wollen. Damit war eigentlich jede positive Staatsrechtslehre
unmöglich. Denn die Grundverhältnisse des Staats erschienen gar nicht im
sogenannten deutschen Staate, namentlich nicht der ganze Staatsorganismus;
Deutschland hatte weder Beamtete, noch Gemeinden, und wenn man daher
die Organisation, wie Gönner, im Namen des Mangels alles positiven Rechts
ganz wegließ, so nahmen andere sie im Namen des Staatsbegriffs wieder auf,
jeder wie und so viel es ihm gutdünkte, ohne zu sehen, daß es eben keine
deutsche Verwaltungsorganisation gibt. Dadurch war nun jedwede Einheit der
Auffassung geradezu unmöglich, denn das direkt Entgegengesetzte war ganz
gleichberechtigt. Und so ist es gekommen, daß es vollständig unmöglich ist, zu
sagen, was sich die deutsche Staatslehre unter dem Organismus des Staats

Es iſt dabei unſere Pflicht, ſtatt einer Kritik vielmehr den Zuſtand gänz-
licher Verworrenheit auf dieſem Gebiete hiſtoriſch zu erklären. Denn das deutſche
wiſſenſchaftliche Staatsrecht ſteht auch hier hinter der Gegenwart, und unſer
Troſt muß ſein, daß die übrigen Völker der Welt gar keines, oder das, was
ſie haben, nur durch Deutſche beſitzen.

In der That gibt es weder eine engliſche, noch eine franzöſiſche Behand-
lung des Staatsrechts, in welchem der Organismus der vollziehenden Gewalt
auch nur annähernd als eine Einheit betrachtet wäre. Wir können daher die
Zuſtände, aber nicht die Wiſſenſchaft im Ganzen vergleichen, ſo werthvoll auch
das Einzelne namentlich in der franzöſiſchen Literatur gegenüber der deut-
ſchen iſt.

Was dagegen die letztere betrifft, ſo zeigt ſie allerdings auch kaum einen
Verſuch, ein vollſtändiges Syſtem des Organismus aufzuſtellen, ſoweit es ſich
um das ſogenannte deutſche Staatsrecht handelt. Erſt in den Landesrechten
tritt daſſelbe, wenn auch nicht als Syſtem, ſo doch als richtig empfundene
Anordnung der Gebiete auf. Der Grund iſt der hiſtoriſche Gang der Dinge.

Mit dem Anfang dieſes Jahrhunderts löst ſich die neue Anſchauung des
Staatsrechts von der alten ab. Wir können als Repräſentanten der letzteren
unzweifelhaft Pütter betrachten, als die der erſteren Häberlin und Gönner.
Das alte Jus publicum Imp. R. v. Pütter hatte nur zur Aufgabe, die Trümmer
des Rechts des alten Kaiſerthums gegenüber den deutſchen Reichsſtänden juriſtiſch
zu formuliren. Dabei konnte natürlich von der Idee eines Verwaltungs-
organismus gar keine Rede ſein; der Ausdruck des Verhältniſſes beider zu
einander war der bekannte Begriff der lehensherrlichen „Hoheitsrechte“, welche
die Gränzen der Staatsgewalt juriſtiſch beſtimmen ſollten. Mit Häberlin er-
ſcheint zum erſtenmale die Vorſtellung von einem verfaſſungsmäßigen Organismus
als Grundlage des Staatsrechts, und es iſt ſehr zu bedauern, daß man dieſen,
in ſeiner Zeit ſo hochſtehenden Mann ſpäter ſo wenig beachtet hat, während
man jede franzöſiſche Broſchüre ſorgfältigſt erwog und citirte. Gönner iſt
dagegen in ſeinem deutſchen Staatsrecht derjenige, der zum erſtenmale (1805)
Verfaſſung und Verwaltung ſchied (Conſtitutionsrecht und Regierungsrecht), und
dadurch zu dem Widerſpruch den Grund legte, an dem alle ſeine Nachfolger
kranken, auf Deutſchland den Begriff eines Staates anwenden, und das öffent-
liche Recht Deutſchlands nach der Kategorie des Staatsbegriffes auffaſſen und
darſtellen zu wollen. Damit war eigentlich jede poſitive Staatsrechtslehre
unmöglich. Denn die Grundverhältniſſe des Staats erſchienen gar nicht im
ſogenannten deutſchen Staate, namentlich nicht der ganze Staatsorganismus;
Deutſchland hatte weder Beamtete, noch Gemeinden, und wenn man daher
die Organiſation, wie Gönner, im Namen des Mangels alles poſitiven Rechts
ganz wegließ, ſo nahmen andere ſie im Namen des Staatsbegriffs wieder auf,
jeder wie und ſo viel es ihm gutdünkte, ohne zu ſehen, daß es eben keine
deutſche Verwaltungsorganiſation gibt. Dadurch war nun jedwede Einheit der
Auffaſſung geradezu unmöglich, denn das direkt Entgegengeſetzte war ganz
gleichberechtigt. Und ſo iſt es gekommen, daß es vollſtändig unmöglich iſt, zu
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[230/0254] Es iſt dabei unſere Pflicht, ſtatt einer Kritik vielmehr den Zuſtand gänz- licher Verworrenheit auf dieſem Gebiete hiſtoriſch zu erklären. Denn das deutſche wiſſenſchaftliche Staatsrecht ſteht auch hier hinter der Gegenwart, und unſer Troſt muß ſein, daß die übrigen Völker der Welt gar keines, oder das, was ſie haben, nur durch Deutſche beſitzen. In der That gibt es weder eine engliſche, noch eine franzöſiſche Behand- lung des Staatsrechts, in welchem der Organismus der vollziehenden Gewalt auch nur annähernd als eine Einheit betrachtet wäre. Wir können daher die Zuſtände, aber nicht die Wiſſenſchaft im Ganzen vergleichen, ſo werthvoll auch das Einzelne namentlich in der franzöſiſchen Literatur gegenüber der deut- ſchen iſt. Was dagegen die letztere betrifft, ſo zeigt ſie allerdings auch kaum einen Verſuch, ein vollſtändiges Syſtem des Organismus aufzuſtellen, ſoweit es ſich um das ſogenannte deutſche Staatsrecht handelt. Erſt in den Landesrechten tritt daſſelbe, wenn auch nicht als Syſtem, ſo doch als richtig empfundene Anordnung der Gebiete auf. Der Grund iſt der hiſtoriſche Gang der Dinge. Mit dem Anfang dieſes Jahrhunderts löst ſich die neue Anſchauung des Staatsrechts von der alten ab. Wir können als Repräſentanten der letzteren unzweifelhaft Pütter betrachten, als die der erſteren Häberlin und Gönner. Das alte Jus publicum Imp. R. v. Pütter hatte nur zur Aufgabe, die Trümmer des Rechts des alten Kaiſerthums gegenüber den deutſchen Reichsſtänden juriſtiſch zu formuliren. Dabei konnte natürlich von der Idee eines Verwaltungs- organismus gar keine Rede ſein; der Ausdruck des Verhältniſſes beider zu einander war der bekannte Begriff der lehensherrlichen „Hoheitsrechte“, welche die Gränzen der Staatsgewalt juriſtiſch beſtimmen ſollten. Mit Häberlin er- ſcheint zum erſtenmale die Vorſtellung von einem verfaſſungsmäßigen Organismus als Grundlage des Staatsrechts, und es iſt ſehr zu bedauern, daß man dieſen, in ſeiner Zeit ſo hochſtehenden Mann ſpäter ſo wenig beachtet hat, während man jede franzöſiſche Broſchüre ſorgfältigſt erwog und citirte. Gönner iſt dagegen in ſeinem deutſchen Staatsrecht derjenige, der zum erſtenmale (1805) Verfaſſung und Verwaltung ſchied (Conſtitutionsrecht und Regierungsrecht), und dadurch zu dem Widerſpruch den Grund legte, an dem alle ſeine Nachfolger kranken, auf Deutſchland den Begriff eines Staates anwenden, und das öffent- liche Recht Deutſchlands nach der Kategorie des Staatsbegriffes auffaſſen und darſtellen zu wollen. Damit war eigentlich jede poſitive Staatsrechtslehre unmöglich. Denn die Grundverhältniſſe des Staats erſchienen gar nicht im ſogenannten deutſchen Staate, namentlich nicht der ganze Staatsorganismus; Deutſchland hatte weder Beamtete, noch Gemeinden, und wenn man daher die Organiſation, wie Gönner, im Namen des Mangels alles poſitiven Rechts ganz wegließ, ſo nahmen andere ſie im Namen des Staatsbegriffs wieder auf, jeder wie und ſo viel es ihm gutdünkte, ohne zu ſehen, daß es eben keine deutſche Verwaltungsorganiſation gibt. Dadurch war nun jedwede Einheit der Auffaſſung geradezu unmöglich, denn das direkt Entgegengeſetzte war ganz gleichberechtigt. Und ſo iſt es gekommen, daß es vollſtändig unmöglich iſt, zu ſagen, was ſich die deutſche Staatslehre unter dem Organismus des Staats

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/254>, abgerufen am 25.11.2024.